Ein Erbauungsbuch zur Versöhnung mit der Europäischen Union – warum Ulrike Guérot nicht zu Sahra Wagenknecht passt

Rezension des Buches von Ulrike Guérot und Hauke Ritz, Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können, 201 Seiten, Westend Verlag, 2023, Frankfurt/Main, 20 Euro

Ulrike Guérot gilt als Politikwissenschaftlerin und Publizistin, die in ihren Büchern und Artikeln die übliche Propaganda für die Europäische Union stets zu toppen versteht. Bekannt geworden ist sie mit der Forderung nach einer „Republik Europa“ und damit nach einem Ende der auf Nationalstaaten basierenden europäischen Ordnung.[1] Das ist natürlich Nonsens – und so wiesen Kritiker mit ironischem Unterton darauf hin, dass eine europäische Republik zunächst einmal erfordern würde die in fünf EU-Ländern bestehenden Monarchien abzuschaffen. Auch ein Großherzogtum Luxemburg kann es dann nicht mehr geben. Doch auf solche Kritik antwortet Guérot stets, dass man doch wohl träumen dürfe, schließlich habe ja auch der US-amerikanische Autor Jeremy Rifkin mit seinem Bestseller „Der europäische Traum“ hohe Auflagen erzielt. [2] Nicht wenige Naive in der Politik hatten ihre Forderung nach einer europäischen Republik dennoch für bare Münze genommen und zum Programm gemacht. [3]

Ulrike Guérot und Hauke Ritz wollen in ihrem 2022 erschienenen Buch „Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist“ nicht von ihrem Traum lassen. Deshalb der Untertitel: „Und wie wir wieder davon träumen können“. Doch ist die EU tatsächlich „gescheitert“? Die Autoren begründen das mit der Aufgabe zweier Vorhaben: „Das eine europäische Großprojekt im Moment des Mauerfalls von 1989 war die Ever Closer Union, eine immer engere Europäische Union, besiegelt durch den Maastrichter Vertrag von 1992. Europa sollte eine politische Union und Föderation werden. Von einem europäischen Bundesstaat war die Rede. Das andere war der Aufbau einer kooperativen, kontinentalen Friedensordnung, jenes 'europäischen Haus von Lissabon bis Wladiwostok' von dem Michail Gorbatschow stets sprach.“ (22)

Die Forderung nach einer politischen Union bzw. einem europäischen Bundesstaat ist aber nichts anderes als leeres ideologisches Gerede, dass man stets führt, um Begeisterung – vor allem unter jungen Menschen – für die reale EU immer wieder neu anzufachen. Dem dient auch die von der offiziellen Politik ins Leben gerufene und von den großen Medien goutierte Bewegung „Pulse of Europe“, die seit 2016 in Reaktion auf den Brexit mit Demonstrationen für eine tiefere Integration trommelt. Guérot und Ritz berufen sich ausdrücklich positiv auf diese. (122)

Noch wolkiger ist die Forderung nach einer „kontinentalen Friedensordnung von Lissabon bis Wladiwostok“. Damit sollte Gorbatschow geschmeichelt werden, um so seine Zustimmung zur deutschen Einheit zu erhalten. Mit dem Untergang der Sowjetunion verschwand dann auch prompt diese Parole.

Die EU ist keineswegs gescheitert. Zwar erlitt sie mit dem Austritt Großbritanniens einen nicht erwarteten Rückschlag. Zudem kommen verschiedene ihrer Projekte nur schleppend voran bzw. stagnieren sogar, etwa die Einigung auf eine abgestimmte Migrationspolitik oder die seit Jahren angestrebte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Und doch ist die Union weiterhin der unentbehrliche Rahmen für die wichtigsten kapitalistischen Volkswirtschaften des Kontinents. Sie ist die Grundlage für das weltweite imperialistische Ausgreifen Deutschlands und Frankreichs.

Doch Guérot und Ritz bleiben dabei, dass die EU gescheitert sei. Begründet wird das mit der fehlenden „Demokratisierung“, dem „Verzicht auf die politische Union“ (144 f.) und vor allem mit dem Einfluss der USA, „der geschickten, wenn auch sublimierten amerikanischen Unterwanderung eines politisch geeinten Europas und einer kooperativen Friedensordnung mit Russland.“ (145)

Überhaupt die USA! Nach Lektüre des Buches drängt sich der Eindruck auf, dass vor allem sie es sind, die ein geeintes Europa verhindert und die EU auf den falschen, konfrontativen Weg gegenüber Russland gedrängt haben. Zur Begründung dafür werden ausführlich amerikanische „Pläne zur Spaltung Europas“ (127) beschrieben, die auf „die Abtrennung Russlands von Europa“ zielen (128). Doch in Wirklichkeit sind sich die europäischen politischen Führer, ob sie nun Olaf Scholz, Emmanuel Macron, Giorgia Meloni oder Ursula von der Leyen heißen, mit dem US-Präsidenten Joe Biden völlig einig in einer aggressiven, kriegerischen Haltung gegenüber Russland.

In dem Abschnitt des Buches in dem detailreich die vom geeinten Westen betriebene Eskalation des Konflikts um die Ukraine vor dem russischen Angriff beschrieben wird heißt es hingegen resümierend: „Die letztendliche Ursache dafür, dass ein 1989 scheinbar geeintes, von zwei Weltkriegen zum Frieden bekehrtes Europa erneut an der Lunte des Krieges zündelt, liegt mithin in der unkritischen und nicht ausbalancierten transatlantischen Ausrichtung Europas begründet, die keine gleichberechtigte Partnerschaft ist, sondern eine asymmetrische Abhängigkeit bedeutet.“ Nur deshalb hätten sich „Europas Öffentlichkeiten (…) so einseitig in den heutigen Ukraine-Krieg hineinziehen lassen (…)“. (140) Und: „Sicher ist nur, dass in den letzten dreißig Jahren, also unter amerikanischer Dominanz in Europa, weder eine europäische Einheit noch eine konföderale Partnerschaft und Sicherheit mit Russland zustande gekommen sind und Europa auf ein Rumpfdasein zusteuert.“ (164)

Die eigenständige Rolle der EU in der Konfrontation mit Russland verschwindet dabei. So wird das 2009 aufgelegte EU-Programm „Östliche Partnerschaft“ von den Autoren nicht einmal erwähnt. Dieses mit viel Geld ausgestattete Programm ist aber das zentrale Element, um die einstmals zur Sowjetunion gehörenden Staaten Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau und vor allem die Ukraine aus der wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit Russland herauszubrechen und als Mitglied der Europäischen Union in den westlichen Block einzugliedern. Man hat es in der EU auf die osteuropäischen Märkte, Rohstoffe und Arbeitskräfte abgesehen. Sie sollen künftig den EU-Konzernen uneingeschränkt zur Ausbeutung zur Verfügung stehen. Als der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch 2014 zögerte das im Rahmen dieses Programm ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, um so die engen wirtschaftlichen Bindungen seines Landes mit Russland nicht zu gefährden, kam es zu gewalttätigen Protesten im Land, die von der EU sofort massiv unterstützt wurden. Nicht von ungefähr wurde der Platz in Kiew auf dem die größten und blutigsten Kundgebungen stattfanden „Euromaidan“ getauft. Zahlreiche EU-Politiker traten dort als Redner auf, hetzten gegen Russland und riefen die mehr und mehr von Rechtsradikalen bestimmte Versammlung auf, in ihrem Widerstand nicht nachzulassen. Am Ende stand der Putsch mit der verfassungswidrigen Absetzung Janukowitschs. Die Autoren halten es hingegen für möglich, dass „die Europäer nur widerwillige Helfershelfer des Euro-Maidan gewesen sein“ könnten. (120)

Ulrike Guérot und Hauke Ritz haben ein Buch vorgelegt, in dem sie ein europäisches Projekt herbeisehnen bzw. erträumen das demokratisch, sozial und friedliebend sein soll. Als imperialistisches Projekt war die EU dies alles aber nie und wird es auch nicht sein. Insofern ist Endspiel Europa ein Erbauungsbuch, das Kritiker mit der Union versöhnen soll.

Nun wird Ulrike Guérot im Zusammenhang mit einer Kandidatur auf einer womöglich kommenden „Liste Sahra Wagenknecht“ für die im Juni 2024 anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament genannt. In Pressemeldungen soll für sie dort bereits ein vorderer Listenplatz reserviert worden sein. Sollte es so kommen, würde dieses Projekt aber mit einem Flopp starten, denn eine Kandidatin, die in der EU „ein föderales Friedensprojekt zur Überwindung der Nationalstaaten“ (179) sieht, hat nichts gemein mit der Position von Sahra Wagenknecht, die den Nationalstaat stets als wichtig und unbedingt erhaltenswert ansieht. [4]

 

[1] Vgl. Ulrike Guérot, Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie, Berlin 2016

[2] Vgl. die Kritik zu dem Buch von Jeremy Rifkin von Andreas Wehr, Der europäische Traum und die Wirklichkeit. Über Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen, Köln 2013, S. 11-40

[3] So hatte der Landesverband Sachsen der Partei DIE LINKE aus Anlass der Beratung des Programms für die Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 versucht, die Forderung nach einer „Republik Europa“ in den Text einzufügen. Die Mehrheit des Parteitags folgte diesem Ansinnen aber nicht.    

[4] In ihrem Buch "Die Selbstgerechten" begründet Sahra Wagenknecht im Kapitel „Nationalstaat und Wir-Gefühl: Weshalb eine totgesagte Idee Zukunft hat“ ihre Ansicht, wonach der Nationalstaat weiterhin wichtig ist, vor allem mit dessen Bedeutung für den sozialen Ausgleich: „Die Nationalstaaten sind allerdings auch die einzige Instanz, die gegenwärtig in nennenswertem Umfang Marktergebnisse korrigiert, Einkommen umverteilt und soziale Absicherungen bereitstellt.“ Sahra Wagenknecht in "Die Selbstgerechten". Frankfurt am Main, 2021, S. 230


Die Rezension erschien in der Zeitschrift "Marxistische Blätter", Ausgabe 1_2024

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