Die EU ist kein Staat und wird auch keiner werden
Interview der Zeitschrift ÖkologiePolitik mit Andreas Wehr
6. November 2018
Herr Wehr, wo liegen die größten Probleme der EU?
Zur Beantwortung der Frage sollten wir einen Blick auf die inzwischen mehr als 60-jährige Geschichte der EU werfen. Sie lässt sich in verschiedene Phasen gliedern. Zwischen 1985 – als das Binnenmarktkonzept startete - bis 2005, als der EU-Verfassungsvertrag scheiterte, gab es eine lange Phase der forcierten Integration. Diese Jahre waren zugleich die Hochzeit des Neoliberalismus. Danach setzte eine bis heute dauernde Phase der Rückschläge und Krisen ein. 2007 begann die noch immer schwelende Eurokrise, die zu erheblichen Spannungen zwischen dem Kern der EU und ihren südlichen Peripheriestaaten führte.
2015/16 kam die Flüchtlingskrise hinzu. Auslöser war die einseitige Grenzöffnung Deutschlands. Die Forderung nach einer EU-weiten Umverteilung von Flüchtlingen traf auf den Widerstand vor allem der Osteuropäer. Die Eurokrise und die Flüchtlingskrise erzeugten in vielen Ländern eine starke EU-Skepsis. In Südeuropa profitieren davon vor allem linkspopulistische Parteien und Bewegungen, in Mittel-, Nord- und Osteuropa rechtspopulistische, ihr politischer Durchbruch gelang ihr aber in der Flüchtlingskrise.
Mit der Brexit-Entscheidung im Sommer 2016, kam eine weitere Krise mit noch unbekanntem Ausgang hinzu: gütliche Trennung oder harter Bruch?
Die EU hat auf all diese Krisen bis heute keine Antworten gefunden. Versuche, die Lage durch Vorstöße für eine schnellere Integration zu verbessern - wie etwa der Vorschlag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für eine engere Wirtschafts- und Währungsunion - finden kaum Unterstützer. Auch die von den europäischen Verteidigungsministern Ende 2017 ausgerufene Verteidigungsunion steht bisher nur auf dem Papier. Keine der als Gegenoffensive auf die vielfältigen Krisen der EU gedachten Initiativen kommt voran.
Was für ein Gebilde ist die EU überhaupt?
Die EU ist ein Vertragssystem, das souveräne Staaten miteinander abgeschlossen haben. Sie haben damit zwar Rechte an gemeinsame Einrichtungen wie die Europäische Kommission, den Europäischen Gerichtshof oder das Europäische Parlament abgegeben – ihre Souveränität haben sie jedoch nicht aufgegeben. Anders als zum Beispiel die Bundesstaaten der USA sind die Mitgliedsstaaten der EU selbständige Staaten geblieben. Der Brexit ruft es eindrucksvoll in Erinnerung: Der Austritt eines Mitgliedsstaates ist jederzeit möglich. Die EU ist kein Staat, und sie wird es auch nicht werden.
Wozu war und ist das Gebilde EU gut?
Anfangs beschränkte sich die EU darauf, einen gemeinsamen Binnenmarkt zu schaffen. Deshalb wurden die „Europäische Gemeinschaft“, wie die heutige EU zunächst hieß, auch oft als „Gemeinsamer Markt“ bezeichnet. Es begann mit der Schaffung einer Zollunion: der Abschaffung aller Binnenzölle und der Übertragung der Kompetenz für die Erhebung von Außenzöllen auf die Wirtschaftsgemeinschaft. Es folgte der Abbau nicht-tarifärer Handelshemmnisse zwischen den Mitgliedsstaaten. Grundlage dafür waren die Prinzipien der vier in den europäischen Verträgen verankerten liberalen Grundfreiheiten: der Freiheit für Waren, für Kapital, für Dienstleistungen und für Personen. Mit der Einführung der gemeinsamen Währung Euro im Zuge der Wirtschafts- und Währungsunion wurde der „Gemeinsame Markt“ dann auf eine qualitativ völlig neue Ebene gehoben: Die Eurostaaten übertrugen die Zuständigkeit für ihre Geldpolitik auf die Europäische Zentralbank.
Eine funktionierende Wirtschafts- und Währungsunion erfordert aber auch einen gemeinsamen Rechtsrahmen. So übertrug man der EU justizielle und innenpolitische Kompetenzen. Und schließlich wurden auch ihre außenpolitischen Kompetenzen erweitert. Beschlossen wurde das alles 1992 auf dem historischen Gipfel von Maastricht.
Welche außenpolitischen Ziele verfolgt die EU?
Das Bild vom „Gemeinsamen Haus Europa“ stand nach Ende des Kalten Krieges für die Hoffnung, dass eine neue europäische Friedensordnung etabliert werden könnte. Das hätte aber die Auflösung der NATO und die Bildung eines kollektiven Sicherheitssystems unter Einbeziehung Russlands verlangt. Es war Michail Gorbatschow, der vom „Gemeinsamen Haus Europa“ sprach. Doch es kam bekanntlich anders: Warschauer Pakt und sogar die Sowjetunion lösten sich zwar auf. Die NATO aber nicht. Im Gegenteil: Obwohl Gorbatschow zugesichert worden war, dass sich die NATO nicht nach Osten ausweiten werde, nahm sie ein osteuropäisches Land nach dem anderen auf. Spätestens ab Beginn der Präsidentschaft Wladimir Putins im Jahr 2000 wird von der westlichen Politik und den dortigen Massenmedien das alte Freund-Feind-Denken gegenüber Russland wieder bedient.
Ist Putin an den schlechten Beziehungen nicht auch maßgeblich beteiligt?
Russland hat aufgrund seiner historischen Erfahrungen starke und berechtigte Ängste vor Einkreisungen und Invasionen. Denken wir an den deutschen Angriff im Zweiten Weltkrieg, der fast 10 Millionen sowjetischen Soldaten und 15 Millionen Zivilisten das Leben kostete. Oder an den Ersten Weltkrieg, als 1918 zunächst das deutsche Kaiserreich und anschließend die westlichen Staaten unter Führung von Großbritannien, Frankreich und den USA versuchten, die junge Sowjetunion zu erwürgen.
Gehen wir in der Geschichte weiter zurück, so sehen wir die Eroberung Moskaus zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch Napoleon. Und auch in den Jahrhunderten zuvor hatte es in Russland verheerende Invasionen gegeben. Sie alle haben im nationalen Bewusstsein tiefe Spuren hinterlassen. Heute stehen die Armeen der NATO-Staaten direkt an der russischen Westgrenze. Die Eingliederung der Halbinsel Krim in den russischen Staatsverband wird als Bruch des Völkerrechts bezeichnet – nicht geredet wird aber über den vorangegangenen Putsch in der Ukraine unter aktiver Mithilfe des Westens. Der so wichtige Hafen der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol auf der Krim drohte damit für Russland verlorenzugehen.
Es wird heute nicht zu Unrecht von einem neuen „Kalten Krieg“ gesprochen. Die Staaten der EU zeigen leider keine Bereitschaft, in dieser gefährlich zugespitzten Situation eine eigenständige Haltung einzunehmen. Man folgt der von den USA vorgegebenen Linie.
Auch Großbritannien verfolgt hier keine andere Linie. Warum will es aus der EU austreten?
Ausschlaggebend ist die Sorge vieler Briten um die nationale Selbstbestimmung ihres Landes. Dass in Brüssel die Europäische Kommission und in Luxemburg der Europäische Gerichtshof über ihre Köpfe hinweg entscheiden, ist für sie unerträglich. Nicht nur die Rechtspopulisten der „United Kingdom Independent Party“ setzten sich aus diesem Grund für den Austritt ein, auch die linke Tageszeitung „Morning Star“ und linke Gewerkschafter plädierten für ein „Leave“.
Ein weiterer Beweggrund: Nach dem Beitritt der osteuropäischen Länder zur EU kamen von dort innerhalb kurzer Zeit so viele arbeitssuchende Menschen ins Land wie in kein anderes der alten EU. Zusammen mit Irland und Schweden hatte Großbritannien unter der neoliberalen Führung von Premierminister Tony Blair auf Übergangsregelungen, wie sie etwa Deutschland und Österreich in Anspruch nahmen, verzichtet. Die Folge war die völlig freie Zuwanderung von Millionen ausländischer Arbeitskräfte. Dies führte zu einer Verschärfung der Konkurrenz auf dem britischen Arbeitsmarkt und zu Engpässen bei sozialen Dienstleistungen, im Gesundheitssystem und auf dem Wohnungsmarkt.
Man kann in diesem Zusammenhang durchaus von einer weiteren Krise der EU sprechen: Die Arbeitnehmerfreizügigkeit führt in den Kernstaaten zu einer starken Konkurrenz unter den Lohnabhängigen und sozial Schwächsten - und entzieht den Auswanderungsländern gleichzeitig qualifizierte Arbeitskräfte, was deren ökonomischen Aufholprozess bremst.
Welche Bedeutung hat der Brexit für die EU?
Der Brexit bedeutet einen Rückschlag für all jene, die erwartet hatten, dass sich die EU unaufhaltsam um immer neue Mitglieder erweitert und damit am Ende mit dem Kontinent Europa nahezu identisch ist. Für die EU stellt der Brexit eine strategische Niederlage dar, von der sie sich nur schwer erholen kann. Mit Großbritannien verlässt auch nicht irgendein Land die EU, sondern das von seiner Bevölkerung und Wirtschaftskraft zweitwichtigste. Seine ökonomische Bedeutung entspricht der der 20 schwächsten EU-Mitglieder zusammen. Zudem ist es ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrats und sein Militär gilt als das kampfstärkste der EU. Der Brexit dämpft daher auch die außen- und sicherheitspolitischen Ambitionen der EU.
Dient das Schüren von Ängsten vor angeblichen Bedrohungen vor allem dazu, die EU-Staaten enger zusammenzuschweißen und Austritte weiterer Staaten zu verhindern?
Das Propagieren von Feindbildern stellt stets Versuche dar, in Krisensituationen die Aggressionen nach außen zu lenken und so für einen Burgfrieden im Inneren zu sorgen. Nach diesem Schema verfahren Staaten, und so verführt auch die EU. Dass ausgerechnet jetzt so viel über eine „russische Gefahr“ und die Notwendigkeit einer europäischen Militärunion gesprochen wird, soll das Versagen der EU bei der Bewältigung ihrer gegenwärtigen Krisen überdecken. Und natürlich will man damit verhindern, dass das britische Beispiel Schule macht. Auch deshalb verhandelt Brüssel so unnachgiebig und hart mit London. Jedem potentiellen Nachahmer soll vor Augen geführt werden, was ihn erwartet, sollte er dem britischen Weg folgen.
Welche Bedeutung hat die Flüchtlingsthematik für die Zukunft der EU?
Eine enorme! Da die EU ganz offensichtlich die Migrationskrise als Gemeinschaft nicht bewältigen kann, entwickeln die Nationalstaaten ihre eigenen spezifischen Antworten. Begonnen hatten damit die osteuropäischen Visegrádstaaten, vor allem Ungarn. Stand es anfangs noch weitgehend isoliert da, so findet es inzwischen immer mehr Verständnis und Nachahmer. Unter Führung Sloweniens und Österreichs wurde die Balkanroute geschlossen. Italien weigert sich inzwischen, über das Mittelmeer kommende Flüchtlinge und Migranten aufzunehmen. Es reagierte damit auf den Umstand, dass von ihm zwar verlangt wird, gemäß dem Abkommen von Dublin als Erstaufnahmeland die Ankommenden ins Asylverfahren zu nehmen, sich die übrigen EU-Staaten aber weigern, Italien Migranten abzunehmen. Auch Deutschland macht bei den nationalen Alleingängen keine Ausnahme. Die „Willkommenskultur“ war ohne Rücksprache mit den anderen EU-Ländern einseitig verkündet und das Abkommen der EU mit der Türkei von Bundeskanzlerin Merkel im Alleingang ausgehandelt worden.
Bleibt es bei der Unfähigkeit der EU, die Migrationsproblematik durch gemeinsame Anstrengungen zu bewältigen, so scheitert sie zugleich bei ihrem Bemühen, eine kohärente EU-Innen- und Rechtspolitik zu etablieren, denn eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik bildet deren Kern. Die Unfähigkeit zur Lösung dieser Frage stellt auch bisherige Erfolge der EU infrage. So wird sich die im Schengenraum weitgehend realisierte Aufhebung der Binnengrenzen nicht aufrechterhalten lassen, sollten wieder überall Grenzkontrollen eingeführt werden.
Braucht die EU eine tiefgreifende Reform?
Darüber gehen die Meinungen unter den Mitgliedsstaaten auseinander. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat kurz nach seinem Amtsantritt in September 2017 einen ehrgeizigen Reformplan vorgelegt. Dieser sieht unter anderem vor, die Wirtschafts- und Währungsunion auszubauen und dafür die Kompetenzen des während der Eurokrise geschaffenen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu erweitern und ihn zu einer EU-Institution zu machen.
Dies entspricht der seit langem von Frankreich eingenommenen Position, der EU mehr Kompetenzen in der Wirtschaftspolitik zu geben. Auf diese Weise will es das überlegene ökonomische Potential Deutschlands stärker einer europäischen Kontrolle unterwerfen. Seit Einführung des Euros fordert Frankreich auch immer wieder, im Euroraum eine Wirtschaftsregierung zu etablieren. Die deutschen Antworten waren stets hinhaltende, und es gab nur nichtssagende Formelkompromisse. So verfährt Deutschland auch jetzt. Nur bei einigen wenigen Reformvorschlägen ist es bereit, Macron entgegenzukommen: etwa beim Ausbau der militärischen Zusammenarbeit und in der Migrationspolitik. Bei der entscheidenden Frage – der Kontrolle des ESM - will es die Deutschland jedoch bei der nationalen Aufsicht belassen.
Da sich einige andere Staaten – etwa die Niederlande und Finnland – strikt gegen den Umbau des ESM ausgesprochen haben, verweist Deutschland jetzt auf diesen Widerstand und sicherte lediglich zu, dass man sich im Europäischen Rat im Herbst 2018 noch einmal mit seinen Vorschlägen befassen werde. Doch da ist kein Durchbruch zu erwarten. Es wird heißen, die Zeit für die Ausarbeitung grundlegender Reformvorschläge ist zu kurz, da im Mai 2019 das Europäische Parlament neu gewählt und einige Monate später die neu bestellte Europäische Kommission ins Amt kommen wird. Zu einer tief greifenden Reform der EU wird es in absehbarer Zeit nicht kommen.
Herr Wehr, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Das Interview erschien in der Zeitschrift Ökologiepolitik Nr.178 – November 2018
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