Noch einmal davongekommen? Über den Umgang mit der Corona-Krise in der Bundesrepublik Deutschland
Vortrag von Andreas Wehr im MEZ Berlin am 19. Juni 2020
Die Bundesregierung und auch die Bundesländer rühmen sich ihrer erfolgreichen Strategie bei der Niederhaltung der COVID-19 Krankheit. Mit 187.764 gemeldeten Infektionen und 8.856 an und mit dem Corona-Virus in Deutschland Verstorbenen (Stand 18.06.2020) steht die Bundesrepublik in der Tat im Vergleich mit Ländern wie die USA, Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien gut da. Alleine in Großbritannien starben an und mit dem Corona-Virus bisher 41.736, in Italien waren es 34.371 und in Spanien 27.136. In den USA sind inzwischen mehr als 120.000 an und mit COVID-19 gestorben.
Doch die angeblich so gute Bilanz sieht anders aus, vergleicht man die Zahlen mit anderen Ländern. In den östlichen EU-Ländern lag die Zahl der Todesfälle weit niedriger. In Kroatien, Tschechien und Österreich zusammen starben weniger Menschen als allein in dem deutschen Bundesland Bayern, in dem 2.556 Opfer zu beklagen sind. Noch schlechter fällt der Vergleich mit Japan aus: Da von der Einwohnerzahl sehr viel größere Land weist eine deutlich geringere Zahl an Virustoten auf. Zuletzt waren es 927 oder sieben Tote je eine Million Einwohner. Deutschland zählt 106 Virustote je eine Million Einwohner.
Dennoch: Das deutsche Gesundheitssystem erwies sich als robuster und leistungsfähiger als jene in vergleichbaren Ländern. In den deutschen Krankenhäusern standen stets genügend Intensivbetten zur Verfügung, so dass sogar schwer erkrankte Patienten aus Frankreich und Italien hier behandelt werden konnten. Es gab auch kein Mangel an Beatmungsgeräten. Ärzte und Pflegekräfte zeigten ihr ganzes Können und verhinderten mit ihrem oft über die eigenen Kräfte gehenden Engagement Schlimmeres. Zu Recht wurde ihnen allabendlich applaudiert! Die personelle Unterbesetzung des Gesundheitssystems und die dort gezahlten niedrigen Löhne bleiben aber ein Skandal. Als leistungsfähig und kompetent erwiesen sich die wissenschaftlichen Einrichtungen, etwa die Berliner Charité oder das Robert-Koch-Institut. Gewiss gab es von dort so manch falschen Rat, etwa jenen, dass Atemschutzmasken keinen Schutz bieten. Es ist erstaunlich und zugleich erfreulich, dass Wissenschaftlern, Virologen und Epidemiologen aufmerksam zugehört und ihrem Rat gefolgt wurde.
Doch die Corona-Krise brachte auch gravierende Mängel im deutschen Gesundheitswesen ans Licht: Es fehlte an ausreichender Schutzkleidung und vor allem an Atemschutzmasken. Desinfektionsmittel waren selbst für Arztpraxen über Wochen nicht verfügbar. Ausreichende Kapazitäten für Tests standen lange nicht zur Verfügung. In einigen Landesteilen – etwa in Baden-Württemberg – kamen die Krankenhäuser an ihre Leistungsgrenzen. Die Bevölkerung wurde deshalb vorsorglich auf die Möglichkeit der „Triage“ vorbereitet – d.h. auf die Entscheidungssituation, wem geholfen wird und wem nicht. Dass es dazu nicht kommen musste, war nur der staatlichen Anweisung zu verdanken, vorübergehend zum Prinzip der Kostenerstattung zurückzukehren. Die Kliniken wurden verpflichtet, planbare Operationen zu verschieben und zusätzliche Intensivbetten vorzubereiten. Das zeigte zugleich, dass das Kernstück aller bisherigen neoliberalen Krankenhausreformen, die Fallkostenpauschale, einer Pandemie nicht gewachsen ist.
Als besonders fatal erwies sich die Vernachlässigung des örtlichen Gesundheitswesens in Deutschland. Über Jahre war das Personal in den Gesundheitsämtern reduziert und die Etats der Ämter zusammengestrichen worden. Dadurch war man nicht in der Lage, die Infektionsketten nachverfolgen zu können. Erst im April hat man daraus die Konsequenten gezogen: Es wurden kurzfristig viele Mitarbeiter eingestellt – sogenannte „Corona-Scouts“. Ganz anders ist die Situation in Japan: Dank eines gut ausgebauten kommunalen Gesundheitsdienstes konnte man die Infektionsketten schnell aufklären und rechtzeitig Gegenmaßnahmen einleiten.
Doch bei aller Kritik am Umgang mit der Corona-Krise in der Bundesrepublik Deutschland sollte wir uns vor Selbstgerechtigkeit hüten. Auch hier gilt die alte Erkenntnis: Hinterher weiß man es immer besser! Zur Illustration was ich meine, möchte ich hier aus einem Leserbrief in der Zeitung Unsere Zeit vom 05.06.2020 zitieren:
„Rigorose Maßnahmen, wie sie im März ergriffen wurden, wären im Februar vermutlich auf breiten Protest gestoßen angesichts der wenigen Infektionen in Deutschland. Die ersten Todesfälle gab es erst 9. März. Die Kritik der Corona-Verharmloser auf den 'Hygiene-Demos' lautet ja nicht, dass zu spät, sondern zu hart durchgegriffen wurde.“
Und fragen wir uns einmal, wie denn die Linke auf Grenzschließungen reagiert hätte? Dort heißt es doch bekanntlich: „No Border – No Nation“.
Die Gefahr wurde lange Zeit verharmlost
Doch gleichwohl ist es eine Tatsache, dass die Bundesregierung – ganz so wie die Regierungen der anderen westlichen Länder auch – die Gefährlichkeit des Virus lange Zeit unterschätzt beziehungsweise verharmlost hat.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erklärte am 28. Januar 2020, dass es „keinen Grund für übertriebene Sorge“ gäbe. Doch wenige Tage zuvor, am 23. Januar, hatte die chinesische Regierung bereits die Abriegelung der Stadt Wuhan veranlasst, um die weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern. Man hätte es also zu diesem Zeitpunkt bereits besser wissen können!
Noch einen Monat später, am 28. Februar 2020, erklärte Angela Merkel bei einem Besuch in ihrem Wahlkreis in Stralsund, dass sie zwar keine Hände mehr schütteln werde, zugleich sprach sie sich aber „für ein Vorgehen mit 'Maß und Mitte' beim Umgang mit dem Virus aus. Es sollten nicht alle Veranstaltungen deshalb abgesagt werden (…).“
Es sollten zwei weitere Wochen vergehen, ehe in der Bundesregierung die Bedrohung endlich erkannt wurde: Erst am 18. März hielt Merkel ihre eindringliche Fernsehansprache, in der sie mahnte, die Seuche ernst zu nehmen.
Anders verhielten sich die unmittelbaren Nachbarn Chinas. Sie hatten bereits im Januar 2020 rigorose Einreisesperren gegenüber Reisenden aus dem Reich der Mitte verhängt. Zugleich verfolgten sie jede einzelne Infektion im Land und isolierten die Erkrankten. Besonders erfolgreich war dabei Taiwan, das seine Bürger bereits Ende Dezember 2019 aufgefordert hatte die Stadt Wuhan zu verlassen. Auch Vietnam konnte sich erfolgreich schützen. Singapur schloss umgehend seine Grenzen für Reisende aus China und konnte so über mehrere Monate Infektionen fast vollständig vermeiden. In Hongkong erzwang ein Streik von Krankenhauspersonal die hermetische Schließung der Grenze zum Mainland der Volksrepublik China.
Was wurde in Deutschland getan, um das Virus erst gar nicht in das Land zu lassen?
Zwar war man anfangs auch hier bemüht, einzelnen Infektionsketten nachzugehen. Etwa in München Ende Januar beim bayerischen Autozulieferer Webasto, wo eine aus China gekommene Mitarbeiterin mehrere Kollegen angesteckt hatte. Auch wurden deutsche Staatsbürger, die mit Flugzeugen der Bundeswehr aus der chinesischen Provinz Hubei ausgeflogen worden waren, einer mehrwöchigen Quarantäne unterworfen.
Zugleich ließ man aber die Grenzen offen. Flugreisende aus den ersten Hotspots der Pandemie, aus China, Südkorea und dem Iran, konnten weiter ungehindert, ohne jede gesundheitliche Kontrolle einreisen. Sie mussten lediglich sogenannte Aussteigekarten ausfüllen, aber auch nur dann, wenn der Verdacht auf eine übertragbare Krankheit an Bord bestand. Auf den Karten waren Name, Sitzplatz und die Adresse des Passagiers in Deutschland anzugeben. So sollte er, im Falle sich herausstellte, dass sich eine infizierte Person in seiner unmittelbaren Nähe befunden hatte, umgehend unterrichtet werden und ein Test angeordnet werden können. Doch das funktionierte in der Praxis nicht. Die personell ausgedünnten regionalen Gesundheitsämter waren angesichts der Menge an Karten völlig überfordert. Allein am Flughafen Frankfurt fielen täglich 6.000 davon an. Noch heute stapeln sie sich – wie vom Tagesspiegel Mitte März recherchiert – ungeordnet in großen Kartons in Abstellräumen der Flughäfen.
Nicht alleine nur nach Deutschland kamen über Wochen täglich Reisende aus Ländern mit hohen Infektionszahlen unkontrolliert ins Land. Das galt vor allem für Großbritannien. Berichtet wurde:
„London, die am stärksten vom Virus betroffene Region, hat mit Heathrow den größten Flughafen Europas – neben fünf weiteren Flughäfen im Großraum. Allein aus Wuhan landeten zwischen Januar und März 190.000 Passagiere im Königreich, rechnete die Universität Southampton aus.“
Erst am 17. März 2020 einigte man sich in der EU auf einen generellen Einreisestopp für alle Nicht-EU Bürger. Da war es aber längst zu spät. Das Virus war inzwischen überall angekommen. Seit seinem ersten Auftreten hatte es zweieinhalb Monate Zeit gehabt, sich in Europa und in anderen Teilen der Welt festzusetzen. Über Wochen bildete nun die Europäische Union die am härtesten von der neuen Krankheit betroffene Region. Erst durch die rasante Ausbreitung der Krankheit in den USA wurde die EU von diesem Spitzenplatz abgelöst.
Bei der Diskussion darüber, warum ausgerechnet die Staaten der EU derart in Mitleidenschaft gezogen wurden, werden mehrere Gründe genannt: die Vernachlässigung des Gesundheitssystems durch die von der Europäischen Kommission verlangte Austeritätspolitik, die Verlagerung der Produktion wichtiger medizinischer Ausrüstung wie Mundschutzmasken und Schutzanzüge in Billiglohnländer und vor allem zu wenige Testmöglichkeiten.
Doch kein Versäumnis wiegt so schwer wie die unterlassene rechtzeitige Schließung der Grenzen für Reisende aus den Hochrisikoländern. Länder, die dies wie Singapur, Taiwan, Hongkong oder Vietnam rechtzeitig taten, schlugen sich im Kampf gegen die Pandemie im Vergleich sehr viel besser, obwohl ihre Gesundheitssysteme oft mit nur wenig Mitteln auskommen müssen.
Der Ausbreitung des Virus wird zugeschaut
In Deutschland hatte man zunächst gehofft, dass das Virus in der Region verbleiben werde, in der es zuerst aufgetreten war, in China. Als es sich dann aber auch in Italien und in Österreich zeigte, hoffte man erneut, dass die neue Krankheit wenigstens auf diese Länder beschränkt bleiben werde. Doch das alles waren gewagte Vabanquespiele, bei dem das Virus nicht mitspielte.
Grenzkontrollen gegenüber den deutschen Nachbarländern wurden von der Bundesregierung erst am 15. März 2020 beschlossen. Da hatten sich aber bereits Hunderte von Winterurlaubern aus ganz Europa im österreichischen Bad Ischgl mit dem Virus infiziert. Zurückgekehrt in ihre Heimatorte sorgten sie dort für Tausende weiterer Infektionen.
So blieb der deutschen Bevölkerung nichts anderes übrig, als die Verbreitung des Virus hinzunehmen. Die politisch Verantwortlichen beschränkten sich allein darauf, einen „unkontrollierten Anstieg“ der Infektionen zu verhindern. Darauf hatten sich die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin am 21. März 2020 ausdrücklich verständigt:
„Die rasante Verbreitung des Coronavirus (SARS-CoV-2) in den vergangenen Tagen in Deutschland ist besorgniserregend. Wir müssen alles dafür tun, um einen unkontrollierten Anstieg der Fallzahlen zu verhindern und unser Gesundheitssystem leistungsfähig zu halten. Dafür ist die Reduzierung von Kontakten entscheidend.“
Damit war das Ziel der Maßnahmen beschrieben. Anders als in den ostasiatischen Staaten bestand es nicht darin, das Virus auszulöschen, indem man konsequent jede Neuinfektion verfolgt.
Eine Begrenzung der Zahl der Neuinfektionen wurde lediglich für notwendig befunden, um die Kapazitäten des Gesundheitswesens nicht zu überfordern. Unbedingt vermieden werden sollten Zustände wie in Italien und wenig später auch in Frankreich, Spanien, Großbritannien und den USA. Zumindest dieses Ziel wurde erreicht.
Kapitulation vor dem Virus
Die durch eine schnelle Ausweitung der Tests erreichte „Kontrolle des Anstiegs“ bedeutete aber zugleich, dass man die weitere Verbreitung des Virus und damit eine allmähliche Durchseuchung der Bevölkerung hinnahm. Da man das abschreckende Wort „Durchseuchung“ scheut, sprach die Politik lieber von der „Herstellung einer Herdenimmunität“. Hinter diesem Begriff stand die Strategie, über einen längeren Zeitraum eine ausreichend große Bevölkerungsgruppe sich infizieren zu lassen, so dass auf diese Weise immer mehr immun werden. Im Ergebnis würden die Infektionsketten dann allmählich von selbst in sich zusammenfallen.
Am 10. März 2020 berichtete die in Berlin erscheinende Boulevardzeitung B.Z. aus einer Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion:
„Paukenschlag in der Unionsfraktion! '60 bis 70 Prozent der Menschen in Deutschland werden sich mit dem Coronavirus infizieren', sagte Kanzlerin Merkel (…) kurz nach Beginn der Fraktionssitzung. Da herrschte Stille in der Fraktion, berichten Teilnehmer. (…) Deutschland werde ganz offensichtlich noch längere Zeit mit dem Virus zu kämpfen haben, deshalb sei es jetzt wichtig, dass die Ansteckungs- und Verbreitungsphase nicht an Geschwindigkeit gewinne. Nur so könnten flankierende Maßnahmen ergriffen und hoffentlich wirksam werden. (…) Gesundheitsminister Jens Spahn bestätigte die Analyse der Kanzlerin. Mit 60 bis 70 Prozent Infizierten müsse gerechnet werden – wenn es nicht vorab gelinge, einen Impfstoff zu entwickeln und zum Einsatz zu bringen.“
Auch in Großbritannien, wo man sich mit Maßnahmen zur Eindämmung des Virus noch mehr Zeit als in Deutschland gelassen hatte, wurde als Ziel die Herstellung einer „Herdenimmunität“ genannt: Diesen Begriff hatte der 'Wissenschaftliche Chefberater' der britischen Regierung, Patrick Vallance, in den Wochen vor dem Lockdown verwendet.
„'Unser Ziel ist zu versuchen, den Peak abzuflachen, ihn aber nicht vollständig zu unterdrücken', hatte Vallance gesagt und auf die Gefahr einer zweiten Infektionswelle verwiesen, wenn man das Virus 'zu hart' mit Maßnahmen unterdrücke und diese dann wieder lockere.“
Für Deutschland wurde allerdings am 19. April 2020, und damit gut einen Monat nach dem Auftritt Merkels in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, das Ziel einer bewussten Durchseuchung der Bevölkerung wieder zurückgenommen:
„Kanzleramtschef Helge Braun hält die Strategie einer 'Herdenimmunität' für untauglich im Kampf gegen das Coronavirus in Deutschland.“ Zur Begründung hieß es: „'Um nur die Hälfte der deutschen Bevölkerung in 18 Monaten zu immunisieren, müssten sich jeden Tag 73.000 Menschen mit Corona infizieren', sagte Braun der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. 'So hohe Zahlen würde unser Gesundheitssystem nicht verkraften und könnten auch von den Gesundheitsämtern nicht nachverfolgt werden. Die Epidemie würde uns entgleiten.'“
Braun vermied zu sagen, was mit einer solchen Strategie gleichfalls verbunden gewesen wäre: Die Hinnahme des Tods Hunderttausender!
Doch auch wenn die Strategie zur Herstellung einer 'Herdenimmunität' für Deutschland offiziell aufgegeben wurde, an der faktischen Hinnahme von täglich hunderten von Neuinfektionen änderte sich dadurch nichts. Und damit geht hier auch das Sterben an COVID-19 weiter. An einen Sieg über das Virus, wie er in China und in anderen ostasiatischen Ländern errungen wurde, denkt hier niemand mehr. Zwar kommt es auch in Ostasien immer wieder zu Neuinfektionen, wobei das Virus meist von außen eingeschleppt wird, doch die Infektionsketten blieben dort bisher nachvollziehbar und kaum jemand stirbt mehr an der Krankheit.
In diesen Tagen wird über neue Infektionen in Peking berichtet. Etwa 150 Neuerkrankungen wurden gemeldet. Daraufhin wurden Schulen geschlossen, einzelne Stadtteile abgeriegelt und Flüge von und nach Peking gestrichen. Zum Vergleich: In Deutschland werden gegenwärtig zwischen 350 und 400 Neuinfektionen gemeldet – und das täglich! Und jeden Tag zählt man zwischen 20 und 50 Tote. Insgesamt wurden ab Januar in der 20-Millionen Metropole Peking 750 Infektionen gemeldet. In Berlin, einer Stadt mit nur knapp 3,5 Millionen Einwohnern waren es hingegen 7.500!
Mit China vergleichbare Maßnahmen zur Eindämmung werden hier aber nicht ergriffen. Kontaktverbote und Quarantänen sollen erst dann angeordnet werden, sollte die Zahl von Neuinfektionen 35 bzw. 50 pro Landkreis überschreiten.
Das neoliberale Epidemie-Management
Als Grund für dieses Versagen des Westens und damit auch Deutschlands im Kampf gegen die Pandemie ist zunächst die klassische liberale Hybris zu nennen, wonach „der Westen“ - selbst in größten Krisen - stets sein Selbstbild, einer liberalen, den Freiheitsrechten des Einzelnen verpflichteten Gesellschaft hochzuhalten hat. Das ist es, was der chinesische Staatspräsident Xi Jinping meinte als er erklärte, Europa sei wegen seines „Narzissmus“ innerhalb kürzester Zeit das weltweite Zentrum der Pandemie geworden.
Aber es ist nicht nur der klassische westliche Narzissmus - wie er sich in liberalen Medien aber auch in anarcho-libertären Kreisen zeigt, die gegen die verordneten Restriktionen demonstrieren und dabei Texte des Grundgesetzes schwenken - der die Strategie des Offenhaltens der Grenzen hervorbrachte. Es waren und sind vor allem wirtschaftliche Interessen, die dies verlangen.
In der Zeitschrift Le Monde diplomatique wurde diese neoliberale Strategie von Théo Bourgeron am Bespiel Großbritanniens beschrieben:
„Noch am 12. März verkündete der britische Premierminister Boris Johnson, er werde sein Land auf einen – gelinde gesagten – riskanten Weg führen. Anstatt eine radikale Abschottungsstrategie zu verfolgen wie China, Italien und Spanien, habe Großbritannien beschlossen, das Virus 'einzudämmen', aber 'nicht auszurotten', mit dem Ziel eine 'Herdenimmunität' in der Bevölkerung herzustellen. Daher werde man weder Quarantänemaßnahmen noch Schulschließungen anordnen; auch Großveranstaltungen wie Fußballspiele vor vollen Rängen sollten weiterhin stattfinden.“
Johnson folgte dabei den bereits Jahre zuvor ausgearbeiteten Empfehlungen eines Expertengremiums unter dem Titel „UK Influenza Pandemic Preparedness Strategy 2011“. Danach sei Großbritannien aufgrund seiner engen wirtschaftlichen Verbindungen in die ganze Welt außerstande, eine solche Pandemie einzudämmen:
„Die für die moderne Welt typische Massenmobilität erlaubt es dem Virus, sich schnell auf dem gesamten Planeten zu verbreiten“. Deshalb sei es „höchstwahrscheinlich unmöglich, das Virus in seinem Entstehungsland oder bei seiner Ankunft in Großbritannien einzugrenzen oder auszurotten.“ Alle Anstrengungen in dieser Richtung „werden sicherlich nur sehr begrenzt oder teilweise wirksam sein und können daher nicht verlässlich eingesetzt werden, um Zeit zu gewinnen.“ Schützen könne sich daher nur der Einzelne, indem er sein Verhalten ändere.
Auch die Planungen in Deutschland sahen eine Grenzschließung im Falle einer Pandemie nicht vor. Im Bericht der Bundesregierung zur „Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“ vom 3. Januar 2013 wird die Möglichkeit von Grenzschließungen, um die Übertragung der angenommenen Infektion von außen zu stoppen, nicht einmal erwähnt.
Der Lockdown wird oft erzwungen
Die Strategie des Zuwartens auf eine Durchseuchung unter dem Begriff der Herstellung einer „Herdenimmunität“ war aber schließlich nicht durchhaltbar, zuerst in Deutschland nicht, und auch ein paar Tage später auch in Großbritannien nicht.
Die in Paris lebende US-amerikanische Autorin Diana Johnstone sieht in dem schließlich überall vollzogenen Lockdown eine abrupte Kehrtwende, die nur durch Druck von unten zustande kam:
„Der Lockdown, den unsere westlichen Regierungen verfügt haben, offenbart mehr Hilflosigkeit denn Macht. Sie haben sich nicht danach gedrängt, uns einzusperren. Der Lockdown ist verheerend für die Wirtschaft, der ihre Hauptsorge gilt. Sie haben gezögert und konnten sich erst dazu durchringen, als sie handeln mussten und schlecht gerüstet waren, etwas anderes zu tun. (…) In Frankreich fordern Gewerkschaften und Progressive einen besseren Schutz der Bevölkerung, angefangen bei all jenen unverzichtbaren Arbeitskräften, die in Krankenhäusern und Lebensmittelgeschäften arbeiten, bei Busfahrern, Lieferanten, (…).“
Für den deutschen Wissenschaftsjournalisten Ranga Yogeshwar war „die Entscheidung über das Kontaktverbot streng genommen eine populistische, da sie der Volksstimmung entsprach. Man musste die Menschen nicht mehr überzeugen, da die große Mehrheit ein Einsehen hatte.“
Auch für den kommunistischen Gesundheitsstadtrat von Graz, Robert Kratzer, steht fest: „Der Schritt eines 'Lockdowns' war im Stadium der Verbreitung der Covid-19-Erkrankungen Mitte März in Österreich unausweichlich.“
Der Lockdown zum Schutz der Lohnabhängigen
Die Beschäftigten bei Amazon Frankreich streikten gegen die Weigerung des Konzerns, für Arbeitsplätze zu sorgen, die sie vor Ansteckungen schützen. Sie waren damit vor Gericht erfolgreich: Die Geschäftstätigkeit von Amazon-Frankreich wurde durch Urteil auf das in der Pandemie Allernotwendigste beschränkt.
In Deutschland war es der Druck der Betriebsräte in der Autoproduktion, der das Herunterfahren der Produktion dort erzwang.
In Schweden, wo der Staat - mit verheerenden Konsequenzen für die Zahl der Infektionen und Todesfälle – den Schutz vor der Pandemie dem Einzelnen überließ, mussten Busfahrer die Unternehmen durch Androhung von Kampfmaßnahmen zwingen, den vorderen Teil der Busse zu sperren. Nur so konnte ein Mindestschutz der Fahrer gewährleistet werden.
Und in diesen Tagen zeigt sich erneut mehr, dass es die Beschäftigten in den Schlachthöfen sind, die am stärksten von der Krankheit betroffen sind.
Die Bekämpfung von COVI-19 liegt daher in einem besonderen Interesse der Lohnabhängigen weltweit. Sie sind es, die täglich an ihren Arbeitsplätzen ihre Gesundheit und ihr Leben riskieren.
Der Sonderfall Schweden
Nur Schweden weigert sich bis heute als einziges Land der EU dem Bespiel der anderen zu folgen. Der Preis, den die schwedische Bevölkerung und hier vor allem alte und mit Vorerkrankungen belastete Menschen dafür tragen, ist aber hoch. Eine Anfang Mai 2020 vorgenommene Zählung der Infektionen und der an COVID-19 Gestorbenen fällt für Schweden im Vergleich mit den Nachbarländern Dänemark und Norwegen deprimierend aus:
„In Norwegen mit seinen 5,3 Millionen Einwohnern gibt es bislang 8.034 bestätigte Infektionen (…) und 218 Tote. In Dänemark sind es bei 5,8 Millionen Einwohnern 10.218 Infizierte und 522 Tote. Schweden hat mit seinen 10,2 Millionen Einwohnern (…) 25.265 Infektionen und 3.175 Tote gemeldet.“ Inzwischen ist die Zahl der Corona-Toten in Schweden auf 5.041 gestiegen (Stand: 18.06.2020). Allein vom 15. Auf den 16. Juni kamen 102 hinzu. Im Vergleich: In der Bundesrepublik mit einer etwa achtmal so großen Bevölkerung sind es mit 8.856 nicht einmal doppelt so viel.
Und erst vor wenigen Tagen, am 13. Juni 2020, wurde gemeldet : Mit 1.474 Neuinfektionen innerhalb von nur 24 Stunden befindet sich Schweden hinsichtlich der Corona-Krise aktuell - mit Ausnahme von Russland - an der Spitze der Neuinfektionen in ganz Europa.
Nur ein halber Lockdown in Deutschland
Nach dem 21. März 2020 wurden in ganz Deutschland Versammlungen jeglicher Art untersagt, Bildungseinrichtungen geschlossen und Kontaktbeschränkungen beschlossen. Angela Merkel erklärte dazu in einer Fernsehansprache: „Es ist ernst“. Boris Johnson und Donald Trump hielten noch einige Tage länger an der neoliberalen Politik der absoluten unbegrenzten Mobilität fest, ehe auch sie unter dem Druck ihrer besorgten Bevölkerungen einlenken mussten.
Am weitesten gingen die Einschränkungen in Italien, Spanien, Frankreich, Großbritannien und in den USA. In Spanien durfte man nur für dringende Einkäufe oder wegen eines Arzttermins das Haus verlassen. Die Polizei hatte das Recht, per Taschenkontrolle und durch Vorlage der Quittung zu überprüfen, ob man tatsächlich einkaufen war. In Frankreich war man beim Gang auf die Straße verpflichtet, eine schriftliche Erklärung bei sich zu tragen, weswegen man die Wohnung verlassen hatte. Sport durfte in der Öffentlichkeit nur zu bestimmten Tageszeiten getrieben werden.
Die in Deutschland erlassenen „Kontaktbeschränkungen“ fielen im Vergleich dazu geradezu idyllisch aus. Man kann daher durchaus von einem bloß halben Lockdown in Deutschland sprechen. Dennoch wurden die Einschränkungen hier von Beginn an vehement bekämpft.
Sie waren noch nicht einmal eine Woche in Kraft, da erschien bereits am 26. März 2020 in der FAZ - im Wirtschaftsteil wohlgemerkt - unter der bezeichnenden Überschrift "Geld oder Leben" ein Artikel, in dem über eine schnelle Aufhebung dieser Maßnahmen nachgedacht wurde. In den Tagen danach tat sich – was wohl niemanden überraschen konnte – vor allem die FDP mit Forderungen nach Erleichterungen hervor. Auch NRW-Ministerpräsident Armin Laschet verlangte immer wieder Lockerungen. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble erklärte in einem Interview, dass „dem Schutz des Lebens nicht alles unterzuordnen ist“. Und auch die AfD stellte sich auf die Seite der Kritiker des Lockdowns. Damit bestätigte sie einmal mehr, dass sie eine in der Wolle gefärbte neoliberale Partei ist. Druck kam auch von den Demonstranten auf den sogenannten Hygiene-Demonstrationen, von Esoterikern, Verschwörungsphantasten und Rechten.
Ich kann hier aus Zeitgründen keine Bewertung der wirtschaftlichen Auswirkungen des Lockdowns vornehmen. Ich verweise hier auf die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift marxistische Erneuerung Z. Nummer 122, in der erste Einschätzungen der jetzt einsetzenden Wirtschaftskrise enthalten sind. Noch umfangreicher wird die Anfang Juli erscheinende Ausgabe 4_2020 der Marxistischen Blätter darüber informieren. Dieses Heft widmet sich ganz der Corona-Krise. Und ich möchte schon jetzt ankündigen, dass wir uns hier im MEZ ausführlich mit der jetzt einsetzenden Wirtschaftskrise befassen werden. Am 18. September 2020 wird Thomas Sablowski von der Rosa-Luxemburg–Stiftung hier referieren.
Wirtschaft und Politik verlangen die Aufhebung der Beschränkungen
Am 6. Mai 2020 war es schließlich so weit. In einer Telefonschaltkonferenz der Kanzlerin mit den Länder-Regierungschefs wurde entschieden, dass die Bundesländer künftig selbst entscheiden können, welche Schritte sie gegen das Coronavirus für nötig halten. Unterschiedlich schnell und weitreichend wurden danach die Einschränkungen sowohl im öffentlichen Leben als auch gegenüber der privaten Wirtschaft zurückgenommen.
Von der nur wenige Tage zuvor ausgesprochenen Warnung Merkels vor „Öffnungsdiskussionsorgien“ war nichts mehr zu vernehmen.
In einem Kommentar der FAZ hieß es: „Nicht nur im Verhältnis von Bund und Ländern hat sich in den vergangenen Tagen etwas verschoben, auch die Corona-Politik selbst gehorcht einer anderen, einer liberaleren Richtung als noch vor zwei Wochen. Dem Bundeskanzleramt ist die Rolle entglitten, die es damals, wenigstens äußerlich, noch hatte. Einheitliche Ausgangsbeschränkungen gibt es nicht mehr.“
Ausgerechnet das von einem Ministerpräsidenten der Partei DIE LINKE regierte Land Thüringen ging hierbei voran und folgte damit am weitestgehenden der „liberaleren Richtung“.
Aufgegeben wurde nicht allein die bis dahin geltende zentralstaatliche Führung in der Bekämpfungsstrategie, sondern zugleich auch die weitgehende Kontrolle des Geschehens durch den Staat.
Von der FAZ wurde dies ausdrücklich begrüßt: „Wichtiger aber ist die Richtung, in die es geht. Weit mehr als in den vergangenen Wochen wird die Epidemiebekämpfung jetzt zu einer Sache der Eigenverantwortung der Bürger. (…) Nicht mehr der Gehorsam gegenüber einem staatlichen Schutzhammer zählt, sondern der Respekt vor dem lebensbedrohlichen Risiko. Zum Aufatmen ist es deshalb noch zu früh, aber dennoch ist es an der Zeit zu sagen: Mehr Schweden wagen.“ Wobei Schweden hier für den unverfälschten neoliberalen Weg in der Corona-Krise steht.
Damit wurde nach Ranga Yogeshwar zugleich die „berechtigte Warnung der Wissenschaft vor einer zweiten Welle (…) abgetan, denn die Politik setzt auf Lockerung, so wie 1918, als die große Grippe, die fälschlicherweise als 'Spanische' bezeichnet wurde, nach dem Aufheben der Kontaktverbote nochmals heftig zuschlug. Die damaligen Fallzahlen Dutzender Städte belegen, wie bedrohlich eine zu frühe Öffnung ist, doch die Verantwortlichen reagieren falsch, weil sie die Tragweite unterschätzen und weil unsere brennende Sehnsucht nach einer unbekümmerten Normalität allmählich unsere Ohren verschließt. Wir wollen keine analytischen Denker, die uns schlechte Nachrichten verkünden und uns weiterhin einsperren wollen, sondern wünschen uns Erlöser, die uns von der Last dieser ansteckenden Geißel befreien.“
Die guten Noten, die man der Bundesregierung bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie, sowohl im Ausland als auch in Deutschland gibt, sind daher nur vor dem Hintergrund der katastrophalen Verhältnisse in anderen Ländern zu verstehen. In Wahrheit aber ist die deutsche Politik alles anderes als gut, sie ist nur nicht so schlecht wie eben in diesen Ländern. Auch sie folgte den neoliberalen Prämissen. Papst Franziskus hat den Kapitalismus eine Wirtschaft genannt, die tötet. Wie Recht er damit hat, kann man heute sehen.
Der Vortrag beruht auf dem Artikel "Diese Wirtschaft tötet" von Andreas Wehr vom 19.05.2020. Dort finden sich auch die Quellen für die in diesem Text verwendeten Zitate.
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