Mit Kleinstaaterei den Neoliberalismus überwinden?
Rezension des Buches von Wolfgang Streeck „Zwischen Globalismus und Demokratie – Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus“
Wolfgang Streeck gehört zu den wenigen deutschen Sozialwissenschaftlern, die es sich nicht nehmen lassen bei der Bewertung sowohl der Europäischen Union (EU) als auch der Globalisierung gegen den Strom zu schwimmen. In seinem 2013 veröffentlichten Buch „Gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ [1] hatte der frühere Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung beschrieben, wie die EU die historisch erkämpften demokratischen Strukturen der Mitgliedstaaten in „marktkonforme Demokratien“ [2] umwandelt. Streeck gehörte als Mitglied der Initiative „Full Brexit“ zu denen, die den Austritt Großbritanniens aus der EU unterstützten. In Deutschland engagierte er sich an der Seite von Sahra Wagenknecht in der Bewegung „Aufstehen“. Im Frühjahr 2021 hat er nun ein mehr als 500 Seiten umfassendes Werk mit dem Titel „Zwischen Globalismus und Demokratie – Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus“ [3] vorgelegt.
Sein zentrales Anliegen benennt der Autor bereits im Vorwort: „Meine in diesem Buch ausgearbeitete Intuition ist, dass eine Überführung der Staatlichkeit in global governance, eine 'Überwindung' des Nationalstaats zugunsten internationaler Organisationen oder globalisierter oder regionalisierter Superstaatlichkeit auf die Errichtung einer demokratischem Einfluss entzogenen Techno- oder Merkatokratie – Experten- oder Marktherrschaft –, oder beider zugleich, hinauslaufen und eine Rückgewinnung demokratischen Einflusses auf die kapitalistische Ökonomie auf lange Zeit unmöglich machen würde.“ (11 f.)
Seine Kritik an der EU ist faktenreich, präzise und scharf. Mit der „grün-linken postindustriellen Mitte der Gesellschaft“ (12) rechnet er im Kapitel „Globalismus von links“ ab. Er beschreibt wie diese Wendung der Grün-Linken funktioniert: „Möglich war und ist das, weil der Neoliberalismus mit seiner, wie auch immer auch ideologischen, Forderung nach Überwindung des Nationalstaats an ein universalistisch erweitertes Gerechtigkeitsverständnis andocken kann, dass sich vor allem bei einer neuen Mittelschicht im Gleichschritt mit der wirtschaftlichen Globalisierung und dem Verschwinden der organisierten Arbeiterklasse als historisches Subjekt herausgebildet und verfestigt hatte.“ (32)
Die Bedeutung des Nationalstaats
Streeck ist zwar ein entschiedener Kritiker des Kapitalismus, doch kommt es ihm nicht in den Sinn, blind gegen ihn anzurennen. Er plädiert vielmehr dafür, an den gegebenen historischen Besonderheiten dieses Systems anzusetzen und so die Widersprüche zwischen Nationalstaat und Globalisierung zu nutzen: „Ziel ist, der Unterschiedlichkeit der historischen Konkretisierung des Kapitalismus sowohl in der Zeit, im Prozess kapitalistischer Entwicklung, als auch in Gestalt spezifischer nationaler Ausprägungen dessen, was ich als Kompromiss zwischen Kapitalismus und Gesellschaft bezeichne, systematisch Rechnung zu tragen (…)“ (25) Überzeugend fällt sein Plädoyer für den Erhalt des Nationalstaats aus: „Nur ein souveräner Nationalstaat kann die Grenzen sichern, die für eine Zerlegung der unregierbaren Komplexität einer globalen Markt- und Konzernwirtschaft in beherrschbare Unterteilungen nötig sind. Und nur nationalstaatlich souverän begrenzte Gesellschaften können demokratisch organisiert und dadurch in der Lage sein, einen kollektiven, für alle Bürger geltenden politischen Willen hervorzubringen und mit legitimer Autorität durchzusetzen (…). " (438)
Für diesen Staat hält der Autor auch einen Namen bereit, er nennt ihn Keynes-Polanyi-Staat“ [4]. (439) Im Kapitel „Große Krise, kleine Staaten“ (462 ff.) umreißt er die Funktionen, die ein solcher Staat haben müsse: „Zunächst wäre (…) die weltweite Tendenz zu einer Verkürzung von Lieferketten und einer territorialen Wiederverdichtung zuletzt global ausgedehnter Produktionssysteme aufzunehmen und zu verstärken.“ (465) Ein Keynes-Polanyi-Modell „sollte und könnte sich offen als wirtschaftspatriotisch oder gar protektionistisch bekennen.“ (466) Notwendig dafür ist ein anderes Wachstumsmodell: „Ein Rückzug aus der Hyperglobalisierung bedeutet ein Umschwenken der Wirtschaftspolitik auf Binnenwachstum. (468) Eine „Ökonomie des Alltagslebens“ aufbauend auf „kollektiven Gütern“ (469 f.) ist in den Mittelpunkt zu rücken. Dazu gehören ein „nationales Bankensystem, regionale Sparkassen und sektorale Genossenschaftsbanken“ (471) sowie „neue Formen des Gemein- oder Verantwortungseigentums“. (472) Geschützt werden muss eine solche Ökonomie durch „Kapitalverkehrskontrollen auch bei ausländischen Direktinvestitionen“. (472) „Am Horizont sichtbar würde, was man eine Beteiligungsökonomie nennen könnte – eine Wirtschaftsdemokratie (…)“ (473). Streeck knüpft mit seiner Forderung nach einer Wirtschaftsdemokratie an gewerkschaftliche und sozialdemokratische Konzepte der Zwischenkriegszeit an, die selbst noch in den 1950er Jahren im Deutschen Gewerkschaftsbund vertreten wurden. Die vom Autor hier skizzenhaft dargestellten Umrisse einer Wirtschaftsordnung im nationalen Rahmen könnten programmatische Leitlinie für eine künftige, grundlegend erneuerte Linke werden, vorausgesetzt eine solche Linke wäre fähig, die zentrale Bedeutung des Nationalstaats für den gesellschaftlichen Fortschritt zu erfassen und sich zugleich von der Illusion einer demokratischen und sozialen EU zu befreien.
Mit „Kleinstaaterei“ gegen die Globalisierung
Streeck geht es aber nicht allein nur um die Bewahrung und Stärkung des Nationalstaates an sich, er entwickelt in seinem Buch auch Umrisse einer „historisch-institutionalistischen Staatstheorie“: „Eine gesellschaftliche Rückeinbettung der im Neoliberalismus aus Politik und Gesellschaft herausgelösten kapitalistischen Wirtschaft, die diese als Wirtschaft saniert, indem sie sie als kapitalistische Wirtschaft transformiert, erfordert dazu geeignete Staaten in einem sie unterstützenden Staatensystem. (…)“ (507) Als solche „geeigneten Staaten“ gelten für ihn nur "friedfertige, nichtimperiale, demokratische und souveräne Klein - und Mittelstaaten“ (17). In polemischer Abgrenzung gegenüber dem Plädoyer von Jürgen Habermas für eine „postnationale Demokratie“ [5], die ihren zentralen Ort auf der Ebene der EU haben soll, bekennt sich Streeck ausdrücklich zur „Kleinstaaterei“. (47) An der Größe der Staaten scheiden sich für ihn die Geister: "Die Wahl zwischen Groß- und Kleinstaaterei, zwischen Integration und Differenzierung von Staatensystemen, ist unter den Bedingungen der kapitalistischen politischen Ökonomie von heute eine Wahl zwischen Globalismus und Demokratie beziehungsweise der Möglichkeit von Demokratie." (57)
Doch nicht allein die Größe eines Staates ist für ihn entscheidend, auch dessen innerer Aufbau sei von Bedeutung, denn zentralistisch organisierte Staaten sieht Streeck als ungeeignet an für die von ihm geforderte „Rückeinbettung“ der kapitalistischen Wirtschaft: „Zentralistisch regierte Staaten und Staatensysteme, ob neoliberaler oder neolinker Denomination, entziehen ihre Gesellschaften nicht nur demokratischer Gestaltung, sondern sind darüber hinaus zu einer differenzierten, an unterschiedliche lokale Bedingungen angepassten und dadurch den Ordnungs- und Leistungsansprüchen komplexer Gesellschaften gerecht werdenden Politik unfähig.“ (508 f.) Als Konsequenz daraus fordert er, dass sich große Staaten einen föderalistischen Aufbau geben, "der den von einem Staat umfassten Gemeinschaften Rechte zu sub- oder gar quasistaatlicher Selbstregierung und ausgehandelter horizontaler Kooperation einräumt; im Extremfall wird sich dann ein großer, viele Gemeinschaften umfassender Staat nur geringfügig, wenn überhaupt, von einem viele Staaten umfassenden Staatensystem unterscheiden." (45) Für ihn sind daher gleichermaßen „Imperialismus und Superstaatismus (…) die real existierenden Formen von global governance als institutioneller Rahmen für kapitalistische Globalisierung (…).“ (509)
Streeck übernimmt mit seinem Plädoyer für kleine und mittelgroße Staaten zentrale Aussagen des bereits 2019 erschienen Buchs „Die Größe der Demokratie“ von Dirk Jörke. Gemäß Jörke sind „unter den etablierten Demokratien die mittelgroßen demokratischer“. [6] „Die durchschnittliche Einwohnerzahl dieser Gruppe beträgt 9,6 Millionen.“ [7] In der EU entsprechen dem Belgien, Portugal, Österreich, Schweden, Tschechien und Ungarn. Jörke belegt diesen empirischen Zusammenhang mit Untersuchungen, auf deren begrenzte Aussagekraft er allerdings selbst verweist. [8] Dennoch kommt er – ganz wie der ihm darin folgende Streeck – zu dem Resümee: „Kleinere Staaten weisen tendenziell einen höheren Grad an politischer Beteiligung und politischem Wettbewerb auf als größere“. [9]
Doch sind solche Staaten wirklich demokratischer? Blicken wir dazu auf die Schweiz, ein kleines Land mit einem hohen Grad an politischer Beteiligung. Nach Streeck wäre es besser gewesen, wenn es 1871 nicht zur Gründung des Deutschen Reiches gekommen wäre, sondern das Alte Reich sich in eine "Art große Schweiz" (49) verwandelt hätte. In seinem Buch „Geschichte der Schweiz“ beschreibt der Historiker Thomas Maissen die Konstitution dieses Landes hingegen ausgesprochen kritisch: Es leiste „sich eine Verfassung, die in ihrer Bürgernähe politisch unvermeidlich konservativ wirkt: direkte Demokratie und Föderalismus, Zweikammersystem und Ständemehr, schwache Parteien und starke Verbände, eine indirekt gewählte Landesregierung als Kollektivbehörde ohne Führung und mit Verpflichtung auf die Konkordanz. In solchen Strukturen haben schon kleine Gruppen Vetomacht, gewählte Volksvertreter hingegen relativ wenig Gestaltungsmöglichkeiten und politische Verantwortung.“ [10] Die Schweiz zeigt danach, dass eine kleinteilige und direkte Bürgerbeteiligung keineswegs mit Demokratie und schon gar nicht mit sozialer Demokratie gleichgesetzt werden kann. Bereits Karl Marx und Friedrich Engels hielten nichts von jener schweizerischen Demokratie, die sich im Kern bis heute erhalten hat. [11]
Ganz anders war hingegen ihr Blick auf Frankreich! In diesem Land sahen sie die Hoffnung auch auf die Revolutionierung der deutschen Verhältnisse. Doch ein Land wie Frankreich passt ganz und gar nicht in das Streecksche Prokrustesbett - viel zu groß, viel zu zentralisiert! Denkt man den Gedanken Streecks zu Ende, dass nur mittlere und kleine bzw. dezentrale Staaten fähig seien, wirkliche Demokratien zu sein, drängen sich absurde Schlussfolgerungen auf: Was sollen Kritiker der Globalisierung in jenen Staaten tun, die nun einmal – aus den unterschiedlichsten historischen Gründen – in großen und oft auch noch zentralistisch organisierten Staaten leben? Sollen sie in ihrem Kampf um Demokratie die Zerschlagung ihrer Staaten fordern bzw. deren weitreichende Dezentralisierung verlangen, so dass sie am Ende – wie bereits zitiert - "den von einem Staat umfassten Gemeinschaften Rechte zu sub- oder gar quasistaatlicher Selbstregierung und ausgehandelter horizontaler Kooperation einräumt“?
Streek steht mit dieser Haltung im Gegensatz zu den Prinzipien sowie zur Geschichte der nationalen Arbeiterbewegungen. Für sie waren und sind große Staaten stets der ideale Kampfboden um kulturellen und politischen Einfluss gewinnen zu können. Nur in großen Zentralstaaten können ständische Einzelinteressen und überkommene Privilegien beseitigt werden, können die Massenparteien des Proletariats ihre ganze Wirkung entfalten. Friedrich Engels wies darauf hin, dass es etwa in der französischen Revolution das Proletariat war, dass die Zentralisierung des Landes forcierte. [12] Marx und Engels lehnten auch die deutsche Reichsgründung 1871 nicht ab, sondern bedauerten lediglich, dass sie unter preußischer Führung zu Stande kam. Auch Lenin erklärte stets, dass die Arbeiterbewegung immer ein Interesse am Erhalt großer Staaten haben müsse.
Die neoliberale Weltordnung ist am Ende
„Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus“ lautet der Untertitel des hier besprochenen Buches. Wir befinden uns also nach Streeck bereits am Ausgang einer historischen Phase des Kapitalismus, die Ende der siebziger bzw. Anfang der achtziger Jahre mit den Wahlsiegen zunächst von Margaret Thatcher in Großbritannien und dann von Ronald Reagan in den USA begonnen hatte. Doch wie wahrscheinlich ist das Ende des Neoliberalismus wirklich? Wie steht es um dessen Lebensfähigkeit?
Er wäre womöglich heute längst Geschichte, wäre nicht Ende der 1980er Jahre die ganze Welt grundlegend erschüttert worden, wodurch der globale Neoliberalismus erst zu dem wurde was wir heute unter ihm verstehen. Dieses epochale Ereignis stellte der Zusammenbruch der Sowjetunion und des gesamten Systems der europäischen sozialistischen Staaten dar. Der kalte Krieg endete mit dem nahezu vollständigen Triumph des "Westens". Dieser Sieg des Imperialismus wäre sogar vollständig und damit total ausgefallen, hätte im April 1989 auch auf dem Pekinger Tian'anmen Platz die sogenannte „Demokratiebewegung“ Erfolg gehabt.
Der Neoliberalismus ist daher nicht einfach nur eine besondere Wirtschaftsverfassung, die mal so eben durch eine andere, etwa eine sozialstaatliche eingetauscht werden könnte, er ist vielmehr die gegenwärtige Lebensform des heutigen Imperialismus, der nur deshalb seine aggressiven und destruktiven Potentiale derart ungehemmt ausleben kann, weil er seit der Weltenwende 1989/91 keinen ernsthaften Gegner mehr zu fürchten hat.
Wolfgang Streeck diskutiert diese Zusammenhänge leider nicht. Für ihn hat sich die imperialistische Führungsrolle der USA bereits erledigt: „Die USA, egal unter welcher Führung, müssen sich um sich selbst kümmern; mit dem Ende der New World Order hat die Welt aufgehört, ihre Auster zu sein (…).“ (504) Er spricht in der Vergangenheitsform von einer „poststaatlichen kosmopolitischen Weltregierung“: „Wie jedes Imperium, so unterlag auch dieses einer Tendenz zur Überdehnung mit entsprechenden Einbußen an Effektivität und Legitimität auch im Inneren seines Zentralstaats (den USA, A.W.)“. (54 f.)
Die Bedeutung sozialer Protestbewegungen
Nach Streeck konnte der „Neoliberalismus zu einem vorläufigen Stillstand gebracht“ (57) werden. Und die EU sei ein „gescheiterter Superstaat“ (331). Verantwortlich dafür sei eine „Gegenbewegung von unten“ (56). Wie eine solche „Gegenbewegung“ für ihn aussieht, beschreibt der Autor am Beispiel der heutigen, vor allem von Jugendlichen getragenen Klimabewegung; sie sei fähig „kulturelle Revolutionen“ auszulösen: „Soziale Bewegungen versorgen Gesellschaften mit Ideen über und Identitäten mit sich selbst; sie finden auf der Gesellschafts-, nicht auf der Staatenebene statt, aber wenn sie stark genug werden, setzen sie staatlichem Handeln Ziele und Grenzen; sie provozieren eine emotionale Normativität, eine auf andere übertragbare, ansteckende Leidenschaft, die besser als alles andere den Einsatz von vielen für ein gemeinschaftliches Ziel stiften und antreiben kann.“ (484) Auf diese Weise entwickele sich ein gesellschaftlicher Konsens: „Was man als unmoralisch empfindet, tut man nicht, egal ob andere es tun: massengehaltene tote Tiere essen, Sklaven kaufen und verkaufen (sic!), mit dem Flugzeug in den Urlaub reisen, vielleicht bald: Autos mit Verbrennungsmotor fahren.“ (484f.) Es handele sich dabei um eine Selbstverpflichtung zu „umweltpolitischer Tugendhaftigkeit“ (484).
Streeck geht davon aus, dass solche sozialen Bewegungen in kleineren Staaten erfolgreicher sind: „Hier nun kommen Staatenarchitektur und Skalenpolitik ins Spiel. Es spricht einiges dafür, dass die Ausbreitung moralischer Erneuerungsbewegungen durch verteilte Kleinstaatlichkeit begünstigt wird. (…) In einem Staatensystem mit verteilter Kleinstaatlichkeit ist ihre Chance, in den Besitz staatlicher Macht zu gelangen größer, als wenn sie sich in dem System als Ganzem auf einmal durchsetzen müssten.“ (485 f.)
Es darf jedoch bezweifelt werden, dass klima- und globalisierungskritische Bewegungen „von unten“ den Neoliberalismus auch nur „zu einem vorläufigen Stillstand“ (57) bringen können. Bereits 1999 waren aus Anlass der Ministerkonferenz der Welthandelskonferenz (WHO) mehr als 50.000 Menschen in die US-amerikanische Stadt Seattle gekommen, um gegen Globalisierung und Freihandel zu protestieren. Im Juni 2001 kamen in Genua noch weit mehr Menschen aus Anlass des G-8-Gipfels zusammen. Die europäischen Linksparteien sahen in diesen Protesten bereits die Wiedergeburt einer weltweiten Linken. Fausto Bertinotti, seinerzeit Vorsitzender der italienischen Partei Refondazione Comunista und der Europäischen Linkspartei, sprach von der Anti-Globalisierungsbewegung als „der Bewegung der Bewegungen".
Nur wenige Wochen nach den Protesten in Genua wurden am 11. September 2001 das World Trade Center und das Pentagon angegriffen. Die US-Regierung nutzte die ihr damit gebotene Gelegenheit um einen „Krieg gegen den Terror“ auszurufen. Innerhalb von nur Tagen gelang es ihr, die ganze westliche Welt hinter sich zu versammeln. Zum ersten und bisher einzigen Mal in der Geschichte der NATO wurde der Bündnisfall ausgerufen. Im Oktober 2001 begann unter Führung der USA die militärische Intervention in Afghanistan an der sich nicht weniger als 24 Staaten beteiligten. Kaum jemand sprach damals noch über die Verwerflichkeit der Globalisierung. Der „Westen“ zeigte einmal mehr, zunächst in Afghanistan und dann auch im Irak, Libyen und in Syrien, dass seine globale Weltordnung und damit auch der Neoliberalismus auf militärische Gewalt gegründet sind. Die stählerne Faust war und ist stets präsent.
2011 kam es, angesichts der katastrophalen Folgen der Weltfinanzkrise zu neuen Protesten gegen die US-geführte globale Weltordnung. Unter dem Slogan „Occupy Wallstreet“ formierte sich eine Kritikbewegung, zunächst in Nordamerika, dann auch in Westeuropa. Bereits nach wenigen Wochen war aber auch dieser Spuk wieder vorbei. Nicht wenige der Aktivisten ließen sich als Angehörige der neuen Mittelschicht im Zuge der neoliberalen ideologischen Gegenoffensive von den „Vorteilen der Globalisierung“ überzeugen.
Auch die heutigen Aktivisten der neuen Klimabewegung gehören dieser neuen Mittelschicht an. Politisch setzen sie in Deutschland ganz auf die Grünen, auf eine Partei, die sowohl globalisierungsaffin als auch entschieden proeuropäisch ist. Und da es Aktivisten stets um nicht weniger als die Rettung der gesamten Welt geht, nehmen sie natürlich auf die Interessen von Nationalstaaten keinerlei Rücksichten. Die spin-doctors der EU haben längst begriffen, dass ihnen mit dieser Klimabewegung ein neues, junges und europabegeistertes Publikum zuwächst. Genau auf sie zielt denn auch der „Green New Deal“ der Europäischen Kommission. Es ist daher ein Rätsel, wie man ausgerechnet diese Bewegung für fähig halten kann, der Globalisierung ein Ende zu setzen.
Russland und China – die neuen Feindbilder des „Westens“
Der demütigende Rückzug der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan zeigt, dass es dem „Westen“ immer schwerer fällt Kriege zu gewinnen. Bereits zuvor hatte sich die Invasion im Irak als verlustreicher Fehlschlag erwiesen. Auch der Sturz des libyschen Staatschefs Gaddafis führte nur zu Chaos im Land. Angesichts dieser ernüchternden Erfahrungen schreckte man schließlich vor einer offenen Invasion in Syrien zurück.
Der globalisierte US-geführte Neoliberalismus ist aber deshalb keineswegs weniger aggressiv geworden. Nachdem im Jahr 2000 der US-Freund Boris Jelzin von Vladimir Putin abgelöst worden war, trat Schritt um Schritt Russland an die Stelle des alten Feindbildes Sowjetunion. Amtlich wurde dies 2014 mit dem Ausschluss des Landes aus der Gruppe der wichtigsten Wirtschaftsnationen, in die es 1998 aufgenommen worden war. Aus der Gruppe der G8 wurde wieder die alte G7. Seitdem hat sich das Verhältnis des „Westens“ gegenüber Russland immer mehr verschlechtert. Mit der Unterstützung bzw. Initiierung samtener bzw. farbiger Revolutionen in Interessensphären Moskaus – erst in Serbien, dann in Georgien, in der Ukraine, und nun auch in Belarus – versucht man den politischen und militärischen Spielraum Russlands weiter einzuengen.
Mit vergleichbarer Aggressivität beantwortet der globale „Westen“ den Aufstieg Chinas zu einer führenden Macht. Befürchtet wird, dass das große Land den Weg bereiten könnte für eine andere, alternative Globalisierung, die sich orientiert am Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder, und die ausgeht vom Grundsatz, dass sich Handel und Direktinvestitionen am beiderseitigen Vorteil zu orientieren haben, eine Ordnung, die vor allem davon absieht, Staaten durch Sanktionen oder militärische Gewalt zu erpressen.
Unter Führung Chinas ist es bereits gelungen, auf diesem Weg hin zu einer anderen, alternativen Globalisierung einige Schritte voranzukommen. Mit der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) entstand 2015 in Peking eine multilaterale Entwicklungsbank, die im Wettbewerb zur Weltbank, zum Internationalen Währungsfonds und zur Asiatischen Entwicklungsbank steht. Gegenwärtig sind 87 Länder Mitglied der AIIB, unter ihnen Großbritannien, Deutschland und Italien. Die 2001 gegründete Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) widmet sich der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit sowie Wirtschafts- und Handelsfragen und der Stabilität in der Region. Ihr gehören gegenwärtig acht Staaten an, darunter Russland, Indien und Pakistan.
Streeck lässt all diese Entwicklungen unerwähnt. Dabei sind doch diese Integrationsschritte hoffnungsvolle Ansätze für die von ihm selbst geforderte „polyzentrische nationenbasierte Ordnung (PNO)“, die an die Stelle der „neoliberalen imperialen Ordnung“ (491) treten soll. Doch China kommt in seinem Buch lediglich in Fußnoten, und dort ganz dem westlichen Duktus entsprechend vor. [13]
Zu den hoffnungsvollen Ansätzen einer anderen Globalisierung gehört auch die Einrichtung der G20, die Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Entstanden bereits 1999 wurde sie 2007/2008 zur Bewältigung der Auswirkungen der Weltfinanzkrise auf Drängen Chinas aufgewertet, indem ihr neue Aufgaben, vor allem zur Stabilisierung des Weltfinanzsystems, übertragen wurden. Die westlichen Staaten zeigen aber nur ein geringes Interesse an diesem Format. Sie bevorzugen weiterhin, alle Entscheidungen der Globalisierung unter sich – in der Gruppe der G7 – auszumachen. [14]
Diese neuen, alternativen Formen der Globalisierung, aber auch die Erfahrungen des bereits 1967 gegründeten Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN), dem zehn Länder angehören, geben wertvolle Hinweise darauf, wie die hierarchisch aufgebaute EU, die darauf abzielt ihren Mitgliedsländern immer mehr Souveränitätsrechte zu nehmen, grundlegend verändert werden kann.
Wie kann die neoliberale imperiale Ordnung überwunden werden?
Die alles entscheidende Voraussetzung für die Etablierung einer neuen globalen Ordnung ist die Ablösung der imperialistischen USA als dominanter Weltmacht. Es gilt, ein multipolares Staatensystem zu schaffen. Dies aber setzt die Existenz großer Staaten voraus, sowohl was Territorien und Bevölkerungen, vor allem aber Wirtschaftskraft angeht. Klein- und Mittelstaaten vermögen da nichts auszurichten. Der von Wolfgang Streeck vorgeschlagene "Ausweg nach unten" in die "Kleinstaaterei" (387 ff.) ist rückwärtsgewandt und führt in die Irre.
Imperialistische Staaten wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Japan und heute vor allem die USA, versuchten bzw. versuchen weiterhin, die Gegner ihrer Hegemoniepolitik in Klein- und Mittelstaaten zu zerlegen und damit auszuschalten. Mit der Auflösung der Sowjetunion ist ihnen dies - unter tatkräftiger Mithilfe des dort neu entstandenen Bürgertums – gelungen; ebenso verhielt es sich in Jugoslawien. Der von einer Allianz westlicher Staaten besetzte Irak wurde föderalisiert, um ihn beherrschen zu können. Heute nun versucht der "Westen" China aufzuteilen. Deshalb wird der Dalai Lama als Führer eines nach Selbstständigkeit strebenden Tibets hofiert, spricht man in den USA, aber nicht nur dort, von einem "Völkermord" an den Uiguren, die offen zum Aufstand gegen die chinesische Zentralregierung aufgefordert werden. Und aus diesem Grund bestreitet man die Zuständigkeit Pekings für Hongkong und stellt mit der Aufwertung Taiwans die auch vom „Westen“ anerkannte Ein-China-Politik erneut infrage. Es ist abermals der „Westen“, der sich „als Hüter des moralischen Bewusstseins der Menschheit aufspielt und sich deshalb ermächtigt fühlt, auf der ganzen Welt Destabilisierungen und Staatsstreiche sowie Embargos und 'humanitäre' Kriege zu entfesseln.“ [15]
In Deutschland besteht heute in Politik und Medien weitgehend Konsens über die Notwendigkeit einer Mobilmachung gegenüber Russland und China. Vorneweg marschieren dabei einmal mehr die Grünen. Die bürgerliche Frankfurter Allgemeine Zeitung sieht es ganz richtig: „Ihre Haltung gegenüber Moskau ist strenger als die Laschets und gegenüber Peking kritischer als die der von China faszinierten Merkel.“ [16] Eine Linke, die sich nicht dieser imperialistischen Politik entgegenstellt, hat ihre Bezeichnung nicht verdient.
So richtig die Kritik von Wolfgang Streeck an der EU und der US-geführten Globalisierung ist, so wichtig seine Verteidigung des Nationalstaats in einer Zeit zählt, in der er von neoliberalen Kräften denunziert wird, so wenig trägt aber sein Buch dazu bei, diese zutiefst inhumane Ordnung zu überwinden.
[1] Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013.
2015 erschien eine erweiterte Ausgabe. Das Buch war auch in international ein Erfolg: Es wurde in 17 Sprachen übersetzt.
[2] Kanzlerin Merkel: “Wir leben ja in einer Demokratie und das ist eine parlamentarische Demokratie und deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments und insofern werden wir Wege finden, wie die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird, dass sie trotzdem auch marktkonform ist.” Zitiert nach Freitag online, Merkel: Marktfonforme Demokratie
[3] Wolfgang Streeck, Zwischen Globalismus und Demokratie – Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus, Berlin 2021, 538 Seiten. Zitate aus dem Buch sind im Text in Klammern gesetzt.
[4] John Maynard Keynes, britischer Ökonom und Mathematiker - Karl Paul Polanyi, ungarisch-österreichischer Wirtschaftshistoriker und Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler
[5] Zur Kritik des Konzepts der „postnationalen Demokratie“ von Jürgen Habermas vgl. Andreas Wehr, Der europäische Traum und die Wirklichkeit, Köln 2013, S. 41 – 71
[6] Dirk Jörke, Die Größe der Demokratie – über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation, Berlin 2019, S. 98
[7] Dirk Jörke, Die Größe der Demokratie, ebenda, S. 101
[8] Die These von der stärker verankerten Demokratie in mittelgroßen bzw. kleinen Staaten beruht im Wesentlichen nur auf einer einzigen Studie, bei der Wahlbeteiligung in Relation zur Gesamtbevölkerung gesetzt wurde, und die zudem bereits 2001 erstellt wurde. Vgl. Jörke a.a.O., S. 100
[9] Jörke, Die Größe der Demokratie, a.a.O., S. 100 f.
[10] Thomas Maissen, Geschichte der Schweiz, Baden 2010, S. 323
[11] Friedrich Engels schrieb 1847 über die Unvereinbarkeit von Demokratie und Schweizer Verhältnissen: „Und mit dieser Art von Demokratie sollten die englischen, die französischen, die deutschen Demokraten irgendetwas gemein haben?“ In: Friedrich Engels, Der Schweizer Bürgerkrieg, Marx-Engels-Werke (MEW), Band 4, S. 396
[12] Friedrich Engels verwies darauf, dass der französische Zentralstaat Ergebnis vor allem des Vorgehens des Proletariats ist: „Während der kurzen Zeit, in der das Proletariat in der französischen Revolution am Staatsruder saß, während der Herrschaft der Bergpartei, hat es die Zentralisation mit allen Mitteln, mit Kartätschen und der Guillotine durchgesetzt.“ In: Friedrich Engels, Der Schweizer Bürgerkrieg, a.a.O., S. 397
[13] Ganz im westlichen China-Bashing verfangen, bezeichnet Streeck das chinesische Social-credit-System als „Dystopie“ (53), d.h. als eine erschreckende Zukunftsvorstellung. Auch sieht er den Wert demokratischer Diskussionen in souveränen Nationalstaaten unter anderem darin, dass sich dann Mehrheiten gegen Olympische Spiele in China aussprechen könnten. (465 f.)
[14] Die Proteste der deutschen Friedensbewegung und linker Organisationen gegen das Hamburger Gipfeltreffen der G20 im Jahr 2017 waren ein kolossaler strategischer Fehler. Man meinte ausgerechnet gegen das Treffen einer Organisation demonstrieren zu müssen, der mit China und Russland explizierte Widersacher des „Westens“ angehören. Vgl. zur Kritik dieser Proteste Andreas Wehr, Wer demonstriert da gegen wen?
[15] Domenico Losurdo, Gewaltlosigkeit – eine Gegengeschichte, Hamburg, 2015, S. 234
[16] Die verzweifelte CDU, in: FAZ vom 23.08.2021
Der Text erschien am 04.09.2021 auf Telepolis
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