Hitler: „Was für England Indien war, wird für uns der Ostraum sein.“ Über die internationalen Ursprünge des Nazismus
Von den Apologeten des Liberalismus wird gern übersehen, dass dieser Philosophie bzw. Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, zumindest in der Zeit ihres Aufkommens, eine starke ethnische Komponente eigen war. Sie ist noch heute nicht ganz verschwunden und lebt etwa in den Vorstellungen einer White Supremacy fort. So beruht die Selbstdarstellung der USA als „auserwählter Nation, die die Welt zu führen“ habe, auf einer ethnischen Erhöhung der liberalen Weißen. Losurdo kommt in seinem Buch „Freiheit als Privileg“ darauf zu sprechen: „Jedenfalls ist der Begriff 'liberal' Ausdruck eines stolzen Selbstverständnisses, das zugleich eine politische, gesellschaftliche und sogar ethnische Konnotation hat.“ [1] Es war Edmund Burke, der große Kritiker der von den französischen Revolutionären proklamierten Gleichheitsforderungen, der von den Engländern als einer „auserwählten Rasse“ sprach, als „der Nation, in deren Adern das Blut der Freiheit kreist'. (…) Es geht um „eine Selbstdeklaration, die zugleich ein Akt des Ausschlusses ist. Betroffen sind nicht nur die Kolonialvölker.“ [2]
Der als einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika noch heute hochangesehene Benjamin Franklin entwarf eine Hierarchie der Nationen. Ganz unten stehen Afrika und Asien. Aber auch in Europa werden von ihm minderwertige Rassen identifiziert: „Spanier, Italiener, Franzosen, Russen und Schweden (sic!) tendieren im Allgemeinen zu einer vagen dunklen Farbe; nicht viel besser kommen die Einwohner Deutschlands weg. Die höchste Stufe der Menschheit wird von den Engländern beiderseits des Atlantiks repräsentiert, 'dem wichtigsten Kern des weißen Volks', dem 'rein weißen Volk' (purely white People); und der einzigen Gemeinschaft, die die Sache der Freiheit verkörpert.“ [3]
Losurdo zitiert Pasquale Villari, den italienischen Historiker und Politiker des 19. Jahrhunderts: „Nicht viel besser ist die Situation Griechenlands: An den Grenzen Europas gelegen, ist es noch 'unter vielen Aspekten zu orientalisch', um sich selbst regieren zu können. Schließlich haben wir, in der Mitte der Pyramide, die Völker 'Südeuropas', deren 'Trägheit' und 'Neid' die Entwicklung der Industriegesellschaft, die Herausbildung einer festen Führungsgruppe und das ordentliche Funktionieren der Institutionen behindern.“ [4] Eine Sicht auf jene Völker, die selbst heute nicht verschwunden ist. So wurden die Probleme Griechenlands während der Eurokrise nach 2010 sowohl in deutschen Medien als auch in der Politik oft auf die besondere Mentalität der Griechen zurückgeführt, die deshalb zu Desorganisation, Klientelwirtschaft, fehlender Antriebskraft und ähnlichem neigen. [5] Auch gegenüber den Italienern halten sich solche Vorurteile hartnäckig.
„Kaum anders drückt sich John S. Mill aus“, so Losurdo. Es ist jener Philosoph und Politiker, der zu den Klassikern des Liberalismus gerechnet wird. [6] „Der Gipfel wird auch bei ihm von den 'Angelsachsen' gebildet (genau gesagt von England und den Vereinigten Staaten), unvergleichliche Meister der Repräsentativ- Regierung und des 'allgemeinen Fortschritts der Menschheit', während wir an der Basis, außer den mehr oder weniger wilden Völkern, die Chinesen antreffen.“ Nach Mill „ist es wahr, dass diese sich einer sehr alten Kultur rühmen können; doch 'sie sind statisch geworden, sind es für Tausende von Jahren geblieben, und wenn es ihnen jemals gelingen wird, sich zu verbessern, muss es durch das Werk von Fremden sein'. Mit den anderen Kolonien oder Halbkolonien kann Irland verglichen werden: 'halbzivilisiert' in den Augen Benthams, ist es für Mill nicht nur unfähig zur Selbstregierung, sondern bedarf auch 'eines guten und festen Despotismus' (a good stout despotism), genau wie Indien.“ Wie Pasquale Villari verweist auch Mill auf „die Völker 'Südeuropas', deren 'Trägheit' und 'Neid' die Entwicklung der Industriegesellschaft, die Herausbildung einer festen Führungsgruppe und das ordentliche Funktionieren der Institutionen behindern. Auch ihnen gegenüber erweisen sich die Angelsachsen als überlegen, da ihnen jene Eigenschaften fehlen ('Unterwürfigkeit', 'Resignation', Etatismus), die typisch für die Franzosen und die 'kontinentalen Nationen' sind, welche alle von krankhaft egalitärem Neid und 'von der Bürokratie zerrüttet' wurden.“ Für Losurdo steht fest: „Von Anfang an hat die Selbstproklamation der Gemeinschaft der Freien das Bedürfnis, auf genealogische Mythen zurückzugreifen, die dieser Geste der Unterscheidung eine Grundlage verschaffen.“ [7]
Das Deutsche Reich als Teil der Gemeinschaft der Freien
Es war Montesquieu der „in den von den 'Germanen' bewohnten 'Wäldern' den Geburtsort der freien und repräsentativen Regierung“ entdeckt zu haben glaubte. [8] „Ende des 19. Jahrhunderts ist der teutonische genealogische Mythos sehr erfolgreich. Auf dem Bild Frankreichs lastet, trotz der mit der Dritten Republik erlangten Stabilisierung, die Erinnerung an die Pariser Kommune und den endlosen revolutionären Zyklus; auf dem Bild Italiens lasten die Wunde des Brigantentums im Süden und die nicht gerade nordische geografische Lage, vor allem seiner südlichen Regionen. Das Zweite (Deutsche, A.W.) Reich dagegen scheint sich hinsichtlich seiner Repräsentativorgane, der liberalen Ordnung und der wirtschaftlichen Entwicklung problemlos an die Seite Englands und der Vereinigten Staaten stellen zu können. Diese drei Länder werden jetzt als die Avantgarde der Gemeinschaft der Freien beziehungsweise als die Völker gefeiert, die die Sache der Freiheit am besten verkörpern. (…) 1899 ruft (der britische Staatsmann, A.W.) Joseph Chamberlain (Minister für die Kolonien) die Vereinigten Staaten und Deutschland offiziell auf, zusammen mit seinem Land ein 'teutonisches' Bündnis zu schmieden. (…) Dieses ideologische Klima spornt die Neuinterpretation des Begriffs der 'Angelsachsen' an, die jetzt auch Deutschland umfasst – den Ort, von dem das große Abenteuer der Auswanderung des Stamms der Freiheit seinen Ausgang nahm, des Stamms, dem das Verdienst zukommt, zuerst gegen den Despotismus Roms und dann gegen den päpstlichen Despotismus rebelliert zu haben.“ [9]
Die internationalen Ursprünge des Nazismus
Eine Zuspitzung erhält dieses völkerpsychologische Denken in der Schrift des französischen Autors Joseph Arthur de Gobineau „Über die Ungleichheit der Menschenrassen“ von 1853-55. Die Sicht Gobineaus auf die USA unterscheidet sich hingegen deutlich von der der liberalen Klassiker: „Wegen der massiven Einwanderungsströme verschiedenartiger Herkunft ist das ursprüngliche angelsächsische Element dabei, seine Identität zu verlieren.“ [10] Auch Frankreich wird nach Gobineau eine düstere Zukunft vorausgesagt: Durch sein großes Kolonialreich in Afrika käme es unweigerlich zu einer Vermischung der Rassen und zur Degeneration. Alle Hoffnung setzt Gobineau daher auf die arische Rasse.
1899 erscheint das Buch „Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts“ des deutsch-englischen Autors Houston Stewart Chamberlain, in dem er die Thesen von Gobineau aufnimmt und radikalisiert. Chamberlain entstammt einer wohlhabenden englischen Adelsfamilie. Von ihm werden die Juden als minderwertige und zugleich gefährliche Rasse bezeichnet, mit der es keine blutsmäßige Vermischung geben darf. Chamberlain gilt als Wegbereiter der nationalsozialistischen Rassenlehre. Bereits 1923 tritt er der NSDAP bei.
Rassenkreuzung und Rassenvermischung galt bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts in den USA als Verbrechen. Es liegt daher nahe, die Parallelen zwischen den rassistischen Ideologien zu untersuchen, die sich ab der zweiten Hälfte der 19. Jahrhunderts in allen westlichen liberalen Staaten ausbreiten. Das gilt auch für das Verständnis des sich durch besondere Brutalität auszeichnenden deutschen Rassismus der Nationalsozialisten.
In seinem 2010 erschienenen Buch „Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes?“, setzt sich Losurdo aus diesem Grund mit der Frage auseinander, inwieweit der deutsche Nazismus auch auf Ideologien zurückging, die zuvor in anderen Ländern entstanden waren: Wir „müssen uns eine Frage stellen: ist es möglich, die Entstehung des Nazismus zu verstehen, indem man sich ausschließlich auf Deutschland konzentriert?“ [11] Er verweist in diesem Zusammenhang auf den französischen Philosophen und Politiker Alexis de Tocqueville, den er mit der Aussage zitiert: „Wer nur Frankreich gesehen und untersucht hat, wird niemals etwas – so wage ich zu behaupten – von der Französischen Revolution verstehen.“ [12] Und auch den deutschen Faschismus verstehe man nach Losurdo nicht, wenn man seinen internationalen Kontext ignoriert.
Er untersucht vor allem die Verbindungen, die es zwischen dem US-amerikanischen Rassismus und der NS-Ideologie gibt. Er zitiert dazu aus Adolf Hitlers „Mein Kampf“, der darin das „Amerikanertum“ als „Ausdruck eines 'jungen, rassisch ausgesuchten Volkes'“ beschreibt. [13] „Nachdem er betont hat, dass 'die Verschmelzung von höherer Rasse mit niederer' zerstörerische Konsequenzen habe, fährt Adolf Hitler in 'Mein Kampf' fort: 'Die geschichtliche Erfahrung bietet hierfür zahllose Belege. Sie zeigt in erschreckender Deutlichkeit, dass bei jeder Blutsvermengung des Ariers mit niedrigeren Völkern als Ergebnis das Ende des Kulturträgers herauskam. Nordamerika, dessen Bevölkerung zum weitaus größten Teil aus germanischen Elementen besteht, die sich nur sehr wenig mit niedrigeren farbigen Völkern vermischen, zeigt eine andere Menschheit und Kultur als Zentral- und Südamerika, in dem die hauptsächlich romanischen Einwanderer sich in manchmal großem Umfange mit den Ureinwohnern vermengt hatten.'“ [14] Da ist es nur folgerichtig, wenn Hitler die USA in der Staatsbürgerfrage als Vorbild eines künftigen NS-Staats nennt: „'Indem die amerikanische Union gesundheitlich schlechten Elementen die Einwanderung grundsätzlich verweigert, von der Einbürgerung aber bestimmter Rassen einfach ausschließt, bekennt sie sich in leisen Anfängen bereits zu einer Auffassung, die dem völkischen Staatsbegriff zu eigen ist.'“ [15] So nehmen die Vereinigten Staaten „jene Unterscheidung von 'Staatsbürgern' ('Reichsbürgern'), 'Staatsangehörigen' und 'Ausländern' vorweg, die von den Nürnberger Gesetzen 1935 sanktioniert werden wird. Aber schon vor der Machtergreifung unterstreicht Hitler, dass weder 'der Neger' noch der 'Jude oder Pole, Afrikaner oder Asiat' deutscher Staatsbürger werden darf.“ [16]
Es ist der Chefideologe der NSDAP, Alfred Rosenberg, der in seinem Buch „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ vom Vorbild der Vereinigten Staaten schwärmt, dieses „'herrlichen Landes der Zukunft', dem das Verdienst zukomme, den glücklichen 'neuen Rassestaatsgedanken' formuliert zu haben, den es jetzt umzusetzen gilt, 'mit junger Kraft' und mittels der Vertreibung und Deportation der 'Nigger und Gelben'. In Deutschland sollen offensichtlich vor allem die Deutschen jüdischer Herkunft den Platz der Afroamerikaner einnehmen.“ [17]
Auch die Sprache der Nationalsozialisten wird vom US-amerikanischen Rassismus stark beeinflusst. Losurdo weist darauf hin, dass der Begriff „Untermensch“, von den Nationalsozialisten gebraucht als Diffamierung und Herabsetzung von Juden, Slawen und Farbigen, eine Übersetzung des amerikanischen „Under Man“ ist. Bereits 1922 veröffentlichte der US-amerikanische Autor Lothrop Stoddard das Buch „The Menace of the Under Man“, das auf Deutsch unter dem Titel „Der Kulturumsturz - Die Drohung des Untermenschen“ drei Jahre danach in Deutschland erschien und sofort große Wirkung entfaltete. 1940 bereist der Autor das nationalsozialistische Deutschland und wird dort mit großen Ehren empfangen, er begegnet Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Hermann Göring. „Der Kampf auf Leben und Tod gegen den 'Under man' ist für Stoddard Teil eines eugenischen Rassenprogramms von größerer Tragweite. Es geht darum, 'to cleance the race of its worst impurities' - 'die Rasse von den schlimmsten Verunreinigungen zu säubern'; notwendig ist eine Politik der 'race cleansing', der 'race purification' - 'der rassischen Säuberung', der 'rassischen Reinigung'. (…) Damit sind wir bei einem anderen Schlüsselwort der Naziideologie, das meistens synonym mit 'Rassenhygiene' übersetzt wird.“ [18]
Ein weiterer im 3. Reich hochgeschätzter Autor ist der US-amerikanische Magnat der Autoindustrie, Henry Ford. Seine Rolle bei der Inspiration der deutschen faschistischen Führer beleuchtet Losurdo in seinem 1996 erschienenen Buch „Il revisionismo storico. Proble e miti“ (Auf Deutsch 2007 unter dem Titel „Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen“). Zur Bekämpfung der jüdisch-bolschewistischen Verschwörung ruft Ford „eine Zeitschrift mit hoher Auflage, den 'Dearborn Indipendent', ins Leben: die dort abgedruckten Artikel werden im November 1920 in Buchform mit dem Titel Der internationale Jude veröffentlicht, das sofort zum Bezugspunkt für den internationalen Antisemitismus wird (…). Später werden Nazibonzen ersten Ranges wie von Schirach und sogar Himmler erklären, von Ford inspiriert worden oder von ihm ausgegangen zu sein. Besonders Himmler behauptet, erst nach der Lektüre des Buches von Henry Ford 'die ganze Gefährlichkeit des Judentums' erkannt zu haben: 'Es war für uns Nationalsozialisten die Offenbarung'. Darauf folgte die Lektüre der Protokolle der Weisen von Zion: 'Diese beiden Bücher wiesen uns den Weg, den wir zu beschreiten hatten, um die gequälte Menschheit von dem größten Feinde aller Zeiten, dem internationalen Juden, zu befreien'. Im Übrigen habe – nach Himmler – das Buch von Ford zusammen mit den Protokollen sowohl für seine als auch für die Formierung des Führers eine 'ausschlaggebende' Rolle gespielt.“ [19] Henry Ford erhielt 1938 zu seinem 75. Geburtstag den von Hitler geschaffenen Verdienstorden vom Deutschen Adler, der ausländischen Staatsbürgern verliehen wurde, die sich um das Deutsche Reich verdient gemacht hatten. Ford revanchierte sich mit einer Spende von 35.000 Reichsmark zum Geburtstag des Führers am 20. April 1939. [20]
Losurdo ist weit davon entfernt, den Einfluss US-amerikanischer Rassisten auf die Entstehung des deutschen NS-Regimes zu überschätzen oder ihm gar die Alleinverantwortung für das Geschehen zu überantworten. Die Ideologie der Nationalsozialisten schöpfte aus unterschiedlichsten Quellen: Aus völkischen, militaristischen, religiösen, und gegen die Arbeiterbewegung gerichteten Bewegungen und Ideologien. Und natürlich blickte „der Nazismus nicht mit undifferenzierter Bewunderung auf die nordamerikanische Republik: zum Beispiel können wir bei Hitler und Rosenberg hasserfüllte Äußerungen über die Rolle lesen, die den Juden dort zugeschrieben wurde. Außerdem ist die ideologische Beeinflussung, mit der wir uns hier beschäftigen, keine Einbahnstraße. Stoddard hat in Deutschland studiert, wurde tief von Nietzsche beeinflusst und prägt den Begriff 'Under Man' als Gegenstück zu dem von dem deutschen Philosophen gerühmten 'Übermenschen' (…).“ [21] Aber „eindeutig sind die Lehrer des Nazismus nicht nur Deutsche gewesen, wie es dagegen die Theorie vom deutschen Sonderweg nahezulegen sucht!“ [22]
Das neuerliche Aufkommen des Rassismus, und hier vor allem die Wiederbelebung des Antisemitismus in den westlichen liberalen Demokratien beiderseits des Atlantiks in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, kann nur verstanden werden, wenn man es als Reaktion des angesichts der russischen Revolution um seine Macht fürchtenden Bürgertums begreift. Für Lothrop Stoddard stand fest: „Diese Weltanschauung des Untermenschen nennt man heute Bolschewismus.“ [23] Für Hitler und die Nationalsozialisten war der Marxismus und damit der Kommunismus nichts anderes als eine Ausgeburt des Weltjudentums. Die Vernichtung der Juden und die Eliminierung des Marxismus sowie des Kommunismus, zunächst im Machtbereich des Dritten Reiches und dann in den überfallenen Ländern, war daher aus Sicht der Nazi-Ideologie notwendig. Bereits in „Mein Kampf“ hatte Hitler 1924 geschrieben: „Der Marxismus stellt sich als der in Reinkultur gebrachte Versuch der Juden dar, auf allen Gebieten des menschlichen Lebens die überragende Bedeutung der Persönlichkeit auszuschalten und durch die Zahl der Masse zu ersetzen.“ [24] Nach dem Ende des Dritten Reiches beeilten sich die Verteidiger des liberalen Westens das Element des Antisemitismus in der bürgerlichen antikommunistischen Ideologie unsichtbar werden zu lassen. Angesichts von mehr als sechs Millionen ermordeter Juden hatte sich dieser menschenverachtende Rassismus vollständig diskreditiert. Übrig blieb der übliche bürgerliche Antikommunismus nicht zuletzt jener, die gestern noch glühende Antisemiten waren. So erhielt das 1954 errichtete Hauptgebäude der Berliner Freien Universität, die als Konkurrenz für die kommunistisch beeinflusste Berliner Universität gegründet worden war, ausgerechnet den Namen Henry Fords, des Autors des Buches „Der internationale Jude“. Bis heute hat sich kein prominenter Politiker daran gestoßen!
Russland – das deutsche Indien
Bei der Wiederaufnahme der deutschen Kolonialpolitik nach 1933 blickten die Nationalsozialisten in erster Linie nicht mehr in Richtung des globalen Südens, etwa nach Afrika oder Südostasien, sondern nach Osten: „Nach dem Scheitern der Politik Wilhelms II., die darauf abzielte, ein überseeisches Kolonialreich zu errichten, das im Gefolge der Seeblockade, die England gleich nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhängt hatte, sofort isoliert worden war, strebte Hitler die Errichtung eines kontinentalen Kolonialreichs in Osteuropa an. (…) Der Krieg gegen die 'Eingeborenen' Osteuropas wird mit dem Krieg gegen die Indianer, gegen die Rothäute Nordamerikas verglichen; im einen wie im anderen Falle wird die stärkere Rasse siegen.“ [25]
In „Mein Kampf“ hatte Hitler die Richtung vorgegeben: „Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewusst einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland und die ihm untertanen Randstaaten denken. (…) Das Riesenreich im Osten ist reif für den Zusammenbruch. Und das Ende der Judenherrschaft in Russland wird auch das Ende Russlands als Staat sein. Wir sind vom Schicksal ausersehen, Zeugen einer Katastrophe zu werden, die die gewaltigste Bestätigung für die Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird.“ [26]
Und in „Hitlers Tischgesprächen im Führerhauptquartier“ heißt es unter dem Datum des 26. Juli 1942 zu seinen Kolonialplänen: „Der Chef (gemeint ist Hitler, A.W.) bemerkte beim Abendessen: Er habe den Ausgleich mit England auf der Basis gesucht, dass Kolonien für uns gar nicht notwendig seien. Allein schon das Problem der Aufrechterhaltung der Verbindung zwischen Großdeutschland und solchen etwa in Afrika gelegenen Kolonien mache Schwierigkeiten. Denn die Aufrechterhaltung einer solchen Verbindung erfordere Flotten- und noch mehr Flugzeugstützpunkte. In diesem Zeitpunkt sei unsere Lage dafür weltstrategisch denkbar ungünstig. Die Verbindung nach den besetzten Ostgebieten dagegen sei ohne Schwierigkeiten zu schaffen; denn sie lasse sich allein schon durch den Bau von Straßen und Eisenbahnen hinreichend bewerkstelligen. Ein unabweisbares Bedürfnis nach Kolonien könne er in Anbetracht der Ostgebiete mit ihren außerordentlichen Rohstoffmöglichkeiten nicht anerkennen.“ [27]
Zeitgleich mit dem Dritten Reich führen auch Italien und Japan Kolonialkriege: „Die Initiative zur Entfesselung des Zweiten Weltkriegs ergreifen nicht umsonst drei Länder, die erst spät einen Platz beim kolonialen Bankett erobert haben und die sich durch den anwachsenden Antikolonialismus in ihrem Ehrgeiz frustriert und direkt bedroht fühlen: so sucht Japan seinen 'Lebensraum' in Asien, Italien in Äthiopien, in Albanien und anderswo, Deutschland in Osteuropa und auf der Balkanhalbinsel. Am Vorabend des offiziellen Beginns des Zweiten Weltkriegs, noch vor dem Angriff auf Polen und auf die UdSSR, zerteilt Hitler die Tschechoslowakei und erklärt ausdrücklich Böhmen-Mähren zu einem 'Protektorat' des Dritten Reichs: die Sprache und die Institutionen der kolonialen Tradition werden klar und deutlich in Anspruch genommen und ihr Anwendungsbereich auf Osteuropa ausgedehnt.“ [28]
Anders als es in der Geschichtsschreibung meist behauptet wird, beginnt der Zweite Weltkrieg als „Kolonialkrieg (gegen die Kolonien und die Gebiete, die die Aggressorstaaten in Kolonien verwandeln wollen): man denke an die italienische Eroberung Äthiopiens, an die japanische Eroberung Chinas und an die deutsche (wenn auch durch das Münchner Abkommen legalisierte) Invasion der Tschechoslowakei. Das eurozentrische Vorurteil hindert uns daran, einen Tatbestand zu bemerken, der jedoch einem Führer der Dritten Welt wie Mao Tsetung nicht entgeht, der im Mai 1938 schreibt: 'Zur Zeit befindet sich ein Drittel der Weltbevölkerung im Krieg; bedenkt einmal: Italien, dann Japan, Abessinien, dann Spanien, dann China. Die Bevölkerung der Krieg führenden Länder beträgt jetzt 600 Millionen, fast ein Drittel der Weltbevölkerung […] Wen wird es jetzt treffen? Ohne Zweifel wird Hitlers Krieg gegen die Großmächte folgen'.“ [29]
Und was „die besondere Barbarei des Dritten Reichs“ angeht, so liegt sie „in seinem Versuch, die kolonialistische und rassistische Tradition gerade in dem Augenblick zu übernehmen und zu radikalisieren (und sogar für Osteuropa geltend zu machen), in dem diese Tradition von der gigantischen Emanzipationsbewegung im Kielwasser der Oktoberrevolution in eine schwere Krise gestürzt wird.“ [30]
Nach Losurdo ist „Hitlers Modell Englands Kolonialreich“ und „er hat eine sehr hohe Meinung von dessen zivilisatorischer Funktion und Mission“. Er zitiert dazu aus den Tischgesprächen im Führerhauptquartier: „'Seit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches hat es in Europa keinen Staat gegeben, der England überragt hätte'; für den Zeitpunkt des Triumphs der Achsenmächte zeigt sich Hitler sogar besorgt über den 'Anarchiezustand, der in Indien nach dem Rückzug der Engländer eintreten wird'; die Ukraine ist das 'neue Reich von Indien', und ihre Einwohner, wie die Einwohner Osteuropas im Allgemeinen, werden des Öfteren 'Eingeborene' genannt; auch die Italiener werden vom Führer aufgefordert, sich in Ägypten und in Afrika an das englische Kolonialmodell zu halten.“ [31]
Hitler kommt immer wieder auf die englische Kolonialherrschaft über Indien zu sprechen. Am 3. März 1942 heißt es dazu in den Tischgesprächen: „Ich vertrete den Standpunkt der britischen Tories: Wenn ich ein freies Land unterwerfe, nur um ihm die Freiheit wiederzugeben, wozu das? Wer Blut vergossen hat, hat auch das Recht, die Herrschaft auszuüben. Die indische Freiheit würde keine 20 Jahre dauern. Die Engländer machen sich heute Vorwürfe, sie hätten das Land falsch regiert, weil das Land keine Begeisterung zeigt. Gemacht haben sie es richtig. Aber es ist ungescheit, Begeisterung zu erwarten. Wenn die Engländer nicht die Herren wären, gäbe es dort keine 380 Millionen Inder. England hat Indien ausgebeutet. Aber die englische Herrschaft hat Indien auch schon genützt.“ [32]
Hitler sieht sich hinsichtlich des Kolonialismus in einer Kontinuität mit dem liberalen Großbritannien: „Was für England Indien war, wird für uns der Ostraum sein. Wenn ich dem deutschen Volk nur eingeben könnte, was dieser Raum für die Zukunft bedeutet.“ [33] Und wie die Engländer und die US-Amerikaner sah er die Deutschen selbstverständlich als Herrenvolk an: „Den größten Unsinn, den man in den besetzten Ostgebieten machen könne, sei der, den unterworfenen Völkern Waffen zu geben. Die Geschichte lehre, dass alle Herrenvölker untergegangen seien, nachdem sie den von ihnen unterworfenen Völkern Waffen bewilligt hatten.“ [34]
Der Versuch des Dritten Reichs auf dem europäischen Kontinent ein gigantisches Kolonialreich errichten zu wollen, führt zur Barbarei, denn „Osteuropa ist nicht das von den Weißen eroberte Amerika und auch nicht das Afrika der goldenen Jahrhunderte des Sklavenhandels. Der wilde Indianer und der schwarze Sklave befinden sich dort nicht im Naturzustand; man muss sie produzieren, indem man Jahrhunderte der Geschichte und der Künstlichkeit (vom Gesichtspunkt des nazistischen Sozialdarwinismus aus) auslöscht und die Gesetze und den Adel der Natur wiederherstellt: der Versuch, der kolonialen Tradition im Osteuropa des 20. Jahrhunderts wieder Leben zu verleihen, führt zu einem gigantischen Programm der Deemanzipation und zu unerhörten Gräueltaten und Barbareien.“[35]
Losurdo zieht aus all dem den Schluss: „Man kann nichts vom Nazismus verstehen, wenn man nicht von seinem Ehrgeiz ausgeht, auf Weltebene das terroristische white-supremacy-Regime zu errichten, das er in erster Linie der Geschichte der Vereinigten Staaten entnommen hat.“ [36] Und in seinem Buch „Freiheit als Privileg“ schreibt er: „Ein Punkt aber scheint mir sicher: Es ist banal ideologisch, in der Katastrophe des 20. Jahrhunderts eine Art von neuem Barbareneinfall sehen zu wollen, der eine gesunde und glückliche Gesellschaft plötzlich angreift und überwältigt.“ [37]
Er steht dabei mit seinem Urteil nicht allein. Während der zweite Weltkrieg tobt, 1942, schreibt der US-amerikanische Wissenschaftler Ashley Montagu: „Das Ungeheuer, das sich offen auf die Welt stürzen konnte (der Nazismus), ist zu einem großen Teil unser Geschöpf, und ob wir nun bereit sind, oder nicht, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, wir alle sind, individuell und kollektiv, verantwortlich für die grauenhafte Form, die es angenommen hat.“ [38]
Und in seinem Buch „Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volks?“ schreibt Losurdo: „Der von mir hergestellte Zusammenhang zwischen kolonialer Tradition und vor allem zwischen kolonialem Expansionismus kontinentaler Art und Nazismus, war den großen Theoretikern der antikolonialen Befreiungsbewegung vollkommen klar. Als Franz Fanon seinerzeit auf die Verbrechen, auf die 'Deportationen', 'Massaker', 'Zwangsarbeit' und 'Versklavung' aufmerksam gemacht hatte, die der Kolonialismus 'jahrhundertelang' begangen hatte, fügte er hinzu: 'Der Nazismus hat ganz Europa in eine wirkliche Kolonie verwandelt'.“ [39]
[1] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, Köln 2010, S. 314 f.
[2] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 314
[3] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 315
[4] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 316
[5] Vgl. hierzu Hans Bickes u.a. „Die Dynamik der Konstruktion von Differenz und Feindseligkeit am Beispiel der Finanzkrise Griechenlands: Hört beim Geld die Freundschaft auf? München, 2012
[6] So Elif Özmen, in: Was ist Liberalismus? Berlin 2023, S. 55
[7] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 315 f.
[8] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 342
[9] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 343 f.
[10] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 344
[11] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? Berlin 2010, S. 38
[12] Ebenda
[13] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? a.a.O., S. 39
[14] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? a.a.O., S. 41
[15] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? a.a.O., S. 42
[16] Ebenda
[17] Ebenda
[18] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? a.a.O., S. 45 f.
[19] Domenico Losurdo, Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen, Köln 2007, S. 227
[20] Vgl. Werner Rügemer, Verhängnisvolle Freundschaft. Wie die USA Europa eroberten. Erste Stufe: Vom 1. zum 2. Weltkrieg, Köln, 2023, S. 206
[21] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? a.a.O., S. 49
[22] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? a.a.O., S. 47
[23] Lothrop Stoddard: Der Kulturumsturz. Die Drohung des Untermenschen, München, 1925, S. 127
[24] Adolf Hitler, Mein Kampf, hier zitiert nach Reinhard Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, 5. Auflage, Köln 1980, S. 114
[25] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? a.a.O., S. 43
[26] Adolf Hitler, Mein Kampf, hier zitiert nach Reinhard Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, a.a.O., S. 115 f.
[27] Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, Berlin, 1997, S. 667
[28] Domenico Losurdo, Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen, a.a.O. S. 133
[29] Domenico Losurdo, Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen, a.a.O. S. 135
[30] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? a.a.O., S. 43
[31] Domenico Losurdo, Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen, a.a.O. S. 134
[32] Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, a.a.O., S. 163f
[33] Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, a.a.O., S. 93
[34] Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, a.a.O., S. 304
[35] Domenico Losurdo, Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen, a.a.O. S. 239 f.
[36] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? a.a.O., S. 47
[37] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 434
[38] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 433
[39] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? a.a.O., S. 50 f.
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