Scheitern oder Niederlage?

Die Sicht des Philosophen und Historikers Domenico Losurdo auf das Verschwinden des realen Sozialismus in Europa und auf die daraus zu ziehenden Konsequenzen [1]

Das Ende der Sowjetunion und der europäischen sozialistischen Staatengemeinschaft 1989/91 mit dem Ergebnis, dass in diesen Gesellschaften wieder die „kapitalistische Produktionsweise herrscht“ [2], beschäftigt seit mehr als 30 Jahren Politik und Wissenschaft. Für die Linken geht es dabei um Aufklärung über die Ursachen des Zusammenbruchs, vor allem aber um die Suche nach adäquaten Antworten darauf. Kaum ein anderer marxistischer Wissenschaftler hat sich mit diesen Fragen so eingehend beschäftigt wie Domenico Losurdo. Zahlreiche Artikel und Bücher hat er dazu veröffentlicht, viele sind auch auf Deutsch erschienen.

Losurdo beschreibt wie sich die Welt mit den vom Sozialismus ausgegangenen Anstößen verändert hat: „Die zeitgenössische Demokratie beruht auf dem Grundsatz, dass jedes Individuum, unabhängig von Rasse, sozialem Stand und Geschlecht, unveräußerliche Rechte besitzt, und sie setzt daher die Überwindung der drei großen Diskriminierungen (der rassischen, klassenbedingten und sexuellen) voraus, die am Vorabend der Oktoberrevolution noch gang und gäbe waren.“ [3]

Erst die „Wende Lenins“ öffnete den Ausweg aus dieser Nacht. Ihre Impulse sind vor allem auf drei Gebieten wirksam geworden: in der Überwindung der „Klassenaristokratie als Rassenaristokratie“, die zur Unabhängigkeit kolonialer Völker wie zur rechtlichen Gleichstellung der Farbigen in den USA führte. Zum zweiten in der Infragestellung der gegenüber den Frauen verhängten „Ausschlussklausel“. Und drittens löste diese Wende einen Demokratisierungsschub aus, der das Zensuswahlrecht in vielen Ländern zum Einsturz brachte und damit den breiten Volksmassen überhaupt erst ermöglichte, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, auch wenn sie fast überall ökonomisch weiter diskriminiert blieben. Die französische wie auch die russische Revolution haben dazu erstrangige Beiträge geleistet: „Die entscheidenden Schläge, die dieser Welt versetzt wurden, sind wesentlich dafür, dass allen Menschen, unabhängig von Rasse, Zensus und Geschlecht, die Würde als soziales Subjekt, als Selbstzweck zuerkannt wird.“ [4]

Ein „mächtiger Impuls“ für die Emanzipationsbewegungen des globalen Südens

Nach Losurdo sind einige gängige linke Klischees und Erklärungsmuster zu verwerfen, nur dann kann man zu einem unverstellten Blick auf die Geschichte des Sozialismus gelangen. Zu diesen Klischees zählt die – auch in der deutschen Partei DIE LINKE – so beliebte Kategorie des Scheiterns. Losurdo fragt: „Welchen Sinn hat es aber, von 'Scheitern' zu sprechen, was die Geschehnisse betrifft, die mit der Oktoberrevolution begonnen haben? Zum Verständnis des inadäquaten oder entschieden irreführenden Charakters dieser Kategorie versuche man, sie auf die ehemaligen Kolonialländer und -völker anzuwenden, die ihre Unabhängigkeit und Würde auf der Woge eines Kampfes erlangt haben, der sich von der kommunistischen Bewegung hat inspirieren und vorantreiben lassen.“ [5] So sah Losurdo im Verschwinden des europäischen Sozialismus zwar eine Niederlage aber eben kein Scheitern des mit dem Roten Oktober begonnenen Weges, denn „während letztere Kategorie ein total negatives Urteil impliziert, ist die erstere ein partiell negatives Urteil, das auf einen bestimmten historischen Kontext Bezug nimmt und es ablehnt, die Realität einiger Länder (und sogar eines Landes das ein Kontinent ist) zu verdrängen, die sich weiterhin auf den Sozialismus berufen“. [6] Zu diesen Ländern zählte er neben China die Volksrepublik Korea, Vietnam und Kuba.

Was die Bedeutung der russischen Revolution für die Überwindung des Rassismus, der Beendigung der Unterdrückung und Versklavung der kolonialen Völker betrifft, so zitiert Losurdo aus der „Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes“, vorgelegt von der im Oktober 1917 gebildeten ersten russischen Revolutionsregierung – dem Rat der Volkskommissare. Diese Deklaration, die als Grundsatzprogramm der neuen Regierung anzusehen ist, wurde im Januar 1918 in die Konstituierende Versammlung Russlands eingebracht. Gefordert wurde darin unter anderem der „völlige Bruch mit der barbarischen Politik der bürgerlichen Zivilisation, die den Wohlstand der Ausbeuter in einigen wenigen auserwählten Nationen auf der Versklavung der Hunderte Millionen Werktätigen in Asien, in den Kolonien überhaupt und in den kleinen Ländern begründete.“ [7] Niemals zuvor hatte ein europäisches Land derart offen Partei für die Ausgebeuteten in den Kolonialländern genommen und zugleich mit seiner imperialistischen Vergangenheit gebrochen!

Und mit Blick auf die Gründung der Volksrepublik China 1949 fragt Losurdo: „Ist die neue Lage, die sich in dem großen asiatischen Land herausgebildet hat, das Ergebnis eines ῾Scheiterns῾? Ähnliche Betrachtungen könnte man hinsichtlich Vietnams oder Kubas und nicht weniger Länder der Dritten Welt anstellen, die sich zwar nicht auf den Sozialismus berufen, aber dennoch ihre Unabhängigkeit und Würde im Gefolge der Herausforderung erreicht haben, die die Oktoberrevolution, der ῾Realsozialismus῾ und die kommunistische Bewegung dem kapitalistischen System der ganzen Welt gegenüber darstellte.“ [8] Vor allem in Afrika beriefen sich Unabhängigkeitsbewegungen auf den Marxismus und zahlreiche unabhängig gewordene Staaten verstanden sich lange als sozialistische bzw.  volksdemokratische Republiken. „Das Mindeste, was man sagen kann, ist, dass der heutige Diskurs vom ῾Scheitern῾ grob euro-zentristisch ist.“ [9]  

Die Bedeutung der Oktoberrevolution für den Okzident

Aber nicht allein der globale Süden profitierte von der Wirkung der russischen Revolution: „Gegen jede neo-menschewistische Tendenz muss heute die auf planetarischer Ebene entfaltete außerordentliche Wirkung der Oktoberrevolution hervorgehoben werden, die in erster Linie der Emanzipationsbewegung der Kolonien einen mächtigen Impuls gegeben hat. Aber nicht nur die Dritte Welt verdankt viel der Oktoberrevolution. Denn wenn es unmöglich ist, die Geschichte der UdSSR zu verstehen, ohne den konterrevolutionären Kreuzzug der großen kapitalistischen Mächte zu berücksichtigen, so ist es ebenfalls unmöglich, die Entwicklung der liberal-demokratischen Regimes im Okzident von der Herausforderung zu trennen, die die antikapitalistische Revolution von 1917 dargestellt hatte. Selbst die Erzielung des allgemeinen gleichen Wahlrechts kann ohne diese Herausforderung nicht verstanden werden, die auch eine starke Wirkung auf die sozialen Inhalte der liberalen Demokratie genommen hat.“ [10]      

Losurdo fragt: Ist mit einem solchen Scheitern etwa vereinbar, dass „ohne den Oktober und, ganz allgemein, ohne den revolutionären Zyklus, der vom Jakobinismus zum Kommunismus hinführt, das Aufkommen und die weitere Entwicklung des Sozialstaats im Westen nicht zu verstehen“ ist? [11] Für ihn jedenfalls kann es keinen Zweifel daran geben, dass der „Rote Oktober“ legitim war und als humanitäre Antwort auf das Versagen der demokratisch-liberalen Systeme folgte, die sich im ersten Weltkrieg, mit den Worten Rosa Luxemburgs, als „reißende Bestien, als Hexensabbat der Anarchie“ [12] erwiesen.

Die Überwindung der Rassendiskriminierung

Nach Losurdo macht es daher „keinen Sinn, den Kommunismus mit dem Nazismus gleichstellen zu wollen, das heißt mit der Macht, die sich am konsequentesten und brutalsten der Überwindung der Rassendiskriminierung und damit der Einführung der Demokratie widersetzt hat. Stellt das Dritte Reich den mit dem totalen Krieg vorangetriebenen Versuch dar, ein Regime der white supremacy auf planetarischer Ebene und unter deutscher und 'arischer' Hegemonie zu errichten, so hat auf der anderen Seite die kommunistische Bewegung einen entscheidenden Beitrag zur Überwindung der Rassendiskriminierung und des Kolonialismus geliefert, dessen Erbe der Nazismus antreten und radikalisieren möchte.“ [13]

Das gilt auch für den überaus blutigen und opferreichen Anteil, den die Rote Armee bei der Niederringung des deutschen Faschismus hatte. Ohne diese kolossale Anstrengung wäre nicht allein Europa, sondern womöglich die ganze Welt in eine schreckliche Finsternis gefallen. Die 1945 erkämpfte Niederlage des deutschen Faschismus, des japanischen Militarismus sowie die Schwächung des imperialistischen Weltsystems als Ganzes eröffnete den Befreiungsbewegungen des globalen Südens erst die Chance, ihren Kampf erfolgreich führen zu können. Kommunistische Parteien standen und stehen dabei für die Überwindung des Rassismus. In Südafrika bilden sie etwa ein festes Bündnis mit dem lange von Nelson Mandela geführten African National Congress (ANC). Und in Israel steht die KP an der Seite der Palästinenser.             

Selbst in den USA machte sich der von der Oktoberrevolution ausgehende Impuls bei der Überwindung der Rassendiskriminierung bemerkbar. Losurdo führt hierzu den US-amerikanischen Historiker C. Vann Woodward an, der aus einem Brief zitiert, den der amerikanische Justizminister im Dezember 1952 an den Obersten Gerichtshof geschickt hatte, der gerade die Integration der Farbigen in den öffentlichen Schulen diskutierte: „'Die Rassendiskriminierung begünstigt die kommunistische Propaganda und erweckt Zweifel auch bei befreundeten Nationen über die Solidität unseres demokratischen Credos.'“ [14]    

Die Überwindung der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts

Der Rote Oktober gab aber auch dem Kampf um die Gleichstellung der Frauen weltweit, vor allem aber in den liberalen Gesellschaften des Westens einen bedeutenden Schub: „Betrachtet man den Westen insgesamt, dann betrifft die weitreichendste Ausschlussklausel die Frauen. In England sind Mutter und Tochter Pankhurst, die die Suffragettenbewegung anführen, periodisch dazu gezwungen, die heimatlichen Gefängnisse aufzusuchen. Von Lenin und der bolschewistischen Partei verurteilt, wird der 'Ausschluss der Frauen' von den politischen Rechten in Russland schon nach der Februarrevolution abgeschafft (…). Den gleichen Weg schlägt dann die Weimarer Republik ein (…) und erst später die Vereinigten Staaten.“ [15]  

Die Sowjetunion und die übrigen europäischen sozialistischen Länder leisteten bedeutende Beiträge zur Gleichstellung der Frauen. Diese Erfolge wurden durch die Schaffung gesellschaftlicher Bedingungen möglich, die den Frauen erst die Chance zur vollen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gab. Dies betraf etwa das Bildungswesen, das nun uneingeschränkt beiden Geschlechtern offenstand, die flächendeckende Schaffung von Einrichtungen zur Kinderbetreuung sowie die gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit. [16] Es handelte sich dabei um Bedingungen für die Emanzipation der Frauen, die die bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften bis heute nicht bieten. Auch bei der Aufhebung der Diskriminierung aus rechtlichen Gründen gingen die sozialistischen Länder voran. So gab das Ehescheidungsrecht der DDR den Frauen größere Freiheiten über ihr Leben zu bestimmen als jenen im Westen. Der Schwangerschaftsabbruch wurde in der DDR 1972 legalisiert. Die Bundesrepublik zog erst 1974 mit einer Fristenlösung nach. Dieses Gesetz wurde aber vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben und musste 1976 vom Bundestag durch ein Modell mit verschiedenen Indikationen ersetzt werden. Seitdem besteht eine Beratungspflicht, der nach der Übernahme der DDR durch die BRD nun auch die ostdeutschen Frauen unterliegen.

Die Überwindung der klassenbedingten Diskriminierung

Die liberale Demokratie des Westens war lange geprägt von einer Tradition des Vorenthaltens von Bürgerrechten und der Beschränkung der Demokratie für die besitzlosen Massen. Losurdo zitiert hierzu Lenin: „Lassen wir jetzt einmal die Kolonien und das Schicksal der 'minderjährigen Rassen' hinter uns, um unseren Blick auf die kapitalistische Metropole, ja ausschließlich auf ihre 'zivile' Bevölkerung zu richten. Auch auf dieser Ebene – bemerkt Lenin - bestehen weiterhin bedeutende Klauseln des Ausschlusses vom Bürgerrecht und von der Demokratie. In England ist das Wahlrecht 'immer noch beschränkt genug (…) um die eigentlich proletarische Unterschicht fernzuhalten' [17]; wir können außerdem hinzufügen, dass einige Privilegierte weiterhin das 'Mehrfachstimmrecht' genießen, das erst 1948 völlig aufgehoben wird. Besonders komplex war im klassischen Land der liberalen Tradition der Prozess, der zur Verwirklichung des Prinzips 'ein Kopf, eine Stimme' geführt hat, und dieser Prozess ist undenkbar ohne die Herausforderung, die die Revolution in Russland und die kommunistische Bewegung dargestellt hatten.“ [18]  

In Deutschland orientierte sich die Novemberrevolution 1918 am Vorbild der russischen Revolution im Jahr zuvor. Das gilt etwa für die Arbeiter- und Soldatenräte, die in Deutschland – anders als in Russland, wo Räte bereits in der Revolution von 1905 entstanden – völlig neu waren. Der Historiker Arthur Rosenberg beschreibt die Wirkung des russischen Beispiels: „So war die Frage nach der Überwindung des bürokratischen Apparats zugleich die Frage nach Leben und Tod der deutschen Demokratie. Durch die historische Entwicklung und durch das eigenartige russische Vorbild waren nun plötzlich die Organe einer demokratischen Selbstregierung der Massen in Deutschland vorhanden.“ [19] Und der Journalist Sebastian Haffner beschrieb in seiner Geschichte der deutschen Revolution die „anfeuernde Wirkung“ des russischen Beispiels.[20]

Rosa Luxemburg sah in der Bildung der Arbeiter- und Soldatenräte sogar das „Stichwort dieser Revolution, das ihr sofort das besondere Gepräge der proletarischen sozialistischen Revolution gegeben hat – bei allen Unzulänglichkeiten und Schwächen des ersten Moments, und wir sollten nie vergessen, wenn man uns mit den Verleumdungen gegen die russische Revolution kommt, darauf zu antworten: wo habt ihr das Abc eurer heutigen Revolution gelernt? Von den Russen habt ihr's geholt: die Arbeiter- und Soldatenräte; und jene Leutchen, die heute als ihr Amt betrachten, an der Spitze der deutschen sogenannten sozialistischen Regierung die russischen Bolschewisten zu meucheln, Hand in Hand mit den englischen Imperialisten, sie fußen ja formell gleichfalls auf Arbeiter- und Soldatenräten, und sie müssen damit bekennen: die russische Revolution war es, die die ersten Losungen für die Weltrevolution ausgegeben hat.“ [21]

Und so spricht Rosa Luxemburg in ihrer Broschüre „Die russische Revolution“, in der es im Übrigen an scharfer Kritik an Theorie und Praxis der Bolschewiki nicht fehlt, ausdrücklich von ihrem „unsterblichen geschichtlichen Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben.“ [22]

Die heutige moderne Demokratie beschränkt sich aber nicht nur auf die Gleichstellung der Menschen bei Wahlen. „Zur Demokratie, wie sie heute im Allgemeinen verstanden wird, gehören auch die sozialen und ökonomischen Rechte. Und gerade der Patriarch des Wirtschaftsliberalismus, Friedrich A. von Hayek, klagt darüber, dass ihre Durchsetzung im Westen auf den von ihm für verderblich gehaltenen Einfluss der 'russischen marxistischen Revolution' zurückzuführen sei. Natürlich haben die subalternen Klassen nicht das Jahr 1917 abgewartet, um die Anerkennung dieser Rechte zu fordern. Ihre Erringung wird von denselben Etappen markiert, die der Sieg des allgemeinen Wahlrechts durchmachte.“ [23]

Domenico Losurdo geht bei der Beschreibung des Kampfes um politische und soziale Rechte bis zur Französischen Revolution zurück: „Robespierre, der in der zensusbedingten Diskriminierung eine Nachwirkung der antiken Sklaverei beklagte, rühmte außerdem das 'Recht auf Leben' als das erste und unverjährbarste Menschenrecht. Während der 48er Revolution, die den Sieg des allgemeinen (männlichen) Wahlrechts sanktionierte, tauchte auch die Forderung nach Recht auf Arbeit auf: Dies ist der Beginn der zweiten Etappe, in der die sozialistische Bewegung die Hauptrolle spielte.“ [24]

Es folgte die dritte Etappe, „die mit den Umwälzungen in Russland begann und sich fast bisauf den heutigen Tag ausdehnt. Im Zweiten Weltkrieg erklärte Franklin Delano Roosevelt, dass man die 'Freiheit von Not' verwirklichen müsse, um ein für alle Mal 'die Keime

des Hitlerismus' zu zerstören, was einen entschiedenen Eingriff in die bestehenden ökonomischen und sozialen Verhältnisse mit sich bringe. [25] Diese Erkenntnis prägte nach Losurdo auch die neu geschaffene Organisation der Vereinten Nationen (UNO): „Unter dem Eindruck des gigantischen Emanzipationsprozesses, der von der bolschewistischen Revolution seinen Ausgang genommen, und der sich nach der Niederlage des Nazi-Faschismus weiter entwickelt hatte, hat die UNO mit der am 10. Dezember 1948 verabschiedeten Erklärung zu den 'Menschenrechten' ausdrücklich auch die 'ökonomischen, sozialen und kulturellen' Rechte hinzugefügt (Art.22)“ [26]

Doch die Erfolge stellten sich nicht im Selbstlauf ein: „Jede Etappe dieses Prozesses zeichnete sich durch harte Kämpfe aus. Man bräuchte hier nur auf die Jahre hinzuweisen, die der Oktoberrevolution vorangehen. (…) Die drei Etappen der Erringung des allgemeinen Wahlrechts fallen aus einem ganz einfachen Grund mit den Etappen des Aufbaus des Sozialstaats zusammen. Es handelt sich im Grunde um einen einzigen Prozess, in dem die subalternen Klassen die Anerkennung ihrer vollen Menschenwürde fordern. Trifft deren Nichtanerkennung vor allem die Kolonialvölker, so spart sie auch nicht die Verdammten der kapitalistischen Metropole aus. (…) Von daher versteht man, dass Gramsci mit Blick auf die Ausgeschlossenen sowohl in den Kolonien als auch in der kapitalistischen Metropole im Kommunismus den 'integralen Humanismus' bzw. die Vollendung des Aufbauprozesses der Einheit des Menschengeschlechts erblickt.  (…) Die Dämonisierung des mit der bolschewistischen Revolution begonnenen historischen Geschehens verhindert das Verständnis der zeitgenössischen Demokratie: Diese beruht auf dem Grundsatz, dass jedes Individuum als Inhaber unveräußerlicher Rechte zu betrachten ist, unabhängig von Rasse, Zensus und Geschlecht, und sie setzt daher die Überwindung der drei großen – nämlich der rassischen, zensusbedingten und sexuellen – Diskriminierungen voraus, die am Vorabend der Oktoberrevolution noch weit verbreitet waren. “ [27]

Spricht Losurdo anfangs noch allgemein von der „klassenbedingten“ als eine der drei Diskriminierungen, so beschreibt er in seinen späteren Schriften diese Diskriminierung als „zensusbedingt“ bzw. als „Zensusdiskriminierung“, etwa in seinem Buch „Die Sprache des Imperiums.“ [28] Mit dieser Präzisierung stellte er die Bedeutung der Überwindung der Diskriminierung aufgrund der vielfältigen Einschränkungen des Wahlrechts heraus. Es ging ihm dabei vor allem um die Überwindung der Hürden im Bereich der formellen Beteiligungsrechte, also von Diskriminierungen, die von Linken oft übersehen oder – im Vergleich mit den materiellen, sozialen Rechten – als weniger bedeutsam, da als selbstverständlich vorausgesetzt, verkannt werden. Ein Nachteil dieser Betonung der zensusbedingten Diskriminierung ist aber, dass die vielfältigen anderen klassenbedingten Diskriminierungen, etwa im Bereich der Arbeit, dadurch leicht aus dem Blick geraten können.

Die Überwindung der drei großen Diskriminierungen – ein bis heute nicht abgeschlossener Prozess

Die Überwindung der drei großen Diskriminierungen wurde nach Losurdo „durch eine doppelte Bewegung möglich: Mit den zahlreichen und großen Revolutionen von unten, die sich sowohl in den kapitalistischen Metropolen als auch in den Kolonien abspielten und die sich oft an der Oktoberrevolution und an der kommunistischen Bewegung inspirierten, haben sich Revolutionen von oben gekreuzt, die initiiert wurden, um neue Revolutionen von unten zu verhindern.“ [29] Eine solche „Revolution von oben“ stellten in Deutschland die Bismarckschen Sozialreformen dar. Sie gewährten zumindest einen gewissen Schutz vor Krankheit, Altersarmut und Arbeitslosigkeit. Politisches Ziel war es dabei, die aufstrebende revolutionäre Arbeiterbewegung zu schwächen. Den Proletariern sollte gezeigt werden, dass sich ihre grundlegenden Lebensbedürfnisse auch ohne Revolution verwirklichen ließen. Eine vergleichbare Konstellation entstand in den 50er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Soziale Reformen wurden sowohl von unten durch kämpferische Gewerkschaften erkämpft –etwa mit dem Gesetz zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Andere sozialpolitische Maßnahmen wie die Einführung der beitragsbezogenen Rente verdanken ihre Einführung hingegen einer „Revolution von oben“: Die CDU/CSU-Bundesregierung führte sie ein, um den Einfluss der Gewerkschaften und der oppositionellen SPD zu schwächen. Sozialpolitische Zugeständnisse wurden aber auch gemacht, damit sich klassenbewusste Kräfte in der Bundesrepublik nicht die Stellung der Werktätigen in der DDR als Vorbild nehmen konnten. Bei Tarifverhandlungen hörte man dennoch oft die Klage der Vertreter des Kapitals, dass „die DDR ständig mit am Tisch sitze“.

Der Prozess der Aufhebung dieser Diskriminierungen ist bis heute nicht abgeschlossen. Im Gegenteil: Mit der Niederlage des Sozialismus in Europa begann ein Prozess der De-Emanzipation, der in allen drei Bereichen zu neuen Einschränkungen und Diskriminierungen führt. So beschreibt Losurdo etwa den „Kampf um das Wahlrecht“ als eine „schwierige Geschichte, die noch nicht zu Ende ist“. [30] In vielen Ländern – vor allem in den USA – wurden in den letzten Jahren zahlreiche neue Wahlrechtseinschränkungen geschaffen, die es vor allem den sozial und rassisch Diskriminierten schwierig oder sogar unmöglich machen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Eine besondere Form der Entdemokratisierung stellt die immer häufigere Übertragung nationalstaatlich verankerter demokratischer Entscheidungsrechte an multinationale Organisationen wie die Europäische Union dar. Und was den Prozess der Emanzipation der Völker des globalen Südens angeht, so befinden wir uns in einem Prozess des Neokolonialismus. Immer unverhohlener werden die Souveränitätsrechte der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unabhängig gewordenen Staaten Asiens und Afrikas von den alten westlichen Kolonialmächten in Frage gestellt und missachtet.

Die Überwindung der drei großen Diskriminierungen ist für Domenico Losurdo von zentraler Bedeutung und stellt seine wichtigste strategische Botschaft dar. In dem Buch „Das 20. Jahrhundert begreifen“ wird diese als eigenständiges Kapitel unter der Überschrift „Die zeitgenössische Demokratie als Überwindung der drei großen Diskriminierungen“ behandelt. [31] In seinem Werk „Wenn die Linke fehlt… Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg“ heißt es hierzu: „Historisch ist die Linke aus dem Zusammentreffen von realen Protest- und Befreiungskampfbewegungen mit der Theorie entstanden, die sich der kritischen Analyse der bestehenden Ordnung widmet. Zwischen dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts hat die Linke, oft inspiriert von den Lehren von Marx und Engels, sich mit mehr oder weniger Geschlossenheit und Kohärenz an drei Fronten des Klassenkampfes geschlagen, nämlich für die politische und soziale Befreiung der unteren Klassen, die Emanzipation der Frauen und gegen Kolonialherrschaft und Kolonialkriege.“ [32] Und Sie hat dabei eine Reihe wichtiger Erfolge erzielt. Trotz der epochalen Niederlage des europäischen Sozialismus kann daher von ihrem Scheitern nicht die Rede sein.   

 

[1] Dieser Beitrag ist Teil eines Projekts in dem die Zusammenhänge der Gedanken Domenico Losurdos dargestellt werden. Der erste Teil hatte seine Sicht auf China zum Thema und erschien am 8. Februar 2023 auf dieser Seite unter der Überschrift „China – eine Macht, die die Machtverhältnisse grundlegend verändert“.

[2] Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, Marx-Engels-Werke Band 23, S. 49, Berlin 1962

[3] Domenico Losurdo, Scheitern, Verrat, Lernprozess. Drei Ansätze zur Interpretation der Geschichte der kommunistischen Bewegung in: Domenico Losurdo/Erwin Marquit, Zur Geschichte der kommunistischen Bewegung, Marxistische Blätter, Flugschriften 20, Essen o.J., S.7 f. Der Artikel erschien auch in der Zeitschrift Marxistische Erneuerung Z, Heft 53, März 2003, S. 123-141.

[4] Domenico Losurdo, Das 20. Jahrhundert begreifen, PapyRossa Verlag Köln 2013, S. 84

[5] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, Neue Impulse Verlag, Essen, 2009, S. 91

[6] Domenico Losurdo, Scheitern – Verrat – Lernprozess, a.a.O. S. 23

[7] Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes in: Lenin Werke 1955, Band 26, S. 425. Die noch vor der Revolution gewählte Konstituierende Versammlung lehnte es ab, sich mit der „Deklaration“ zu befassen. Sie wurde daraufhin von der revolutionären Regierung aufgelöst. Am 12. (25.) Januar 1918 wurde die „Deklaration“ vom III. Gesamtrussischen Sowjetkongress bestätigt.

[8] Domenico Losurdo, Scheitern – Verrat – Lernprozess, a.a.O. S., S.8.

[9] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? a.a.O., S. 91

[10] Domenico Losurdo, Nach dem Zusammenbruch: Rückkehr zu Marx? In: Topos – Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Heft 5, Bonn 1993, S. 111

[11] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? a.a.O., S. 90 f.

[12] Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie, in: Politische Schriften II, 1972, Frankfurt am Main, S. 20

[13]Domenico Losurdo, Scheitern – Verrat – Lernprozess, a.a.O., S. 6

[14] Ebenda

[15]Domenico Losurdo, Scheitern – Verrat – Lernprozess, a.a.O., S. 7

[16] Vgl. dazu Helga Deppe-Wolfinger und Jutta von Freyberg, Materialien zur sozialen Lage der Frauen in BRD und DDR, in: BRD-DDR – Vergleich der Gesellschaftssysteme, Köln 1977, S. 318 - 342

[17] Domenico Losurdo, Scheitern – Verrat – Lernprozess, a.a.O. S., S. 6. Losurdo zitiert aus Lenins Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, Lenin Werke, Band 22 S. 287. Lenin übernimmt die hier zitierte Formulierung dem Buch von Gerhard von Schulze-Gaevernitz, Britischer Imperialismus und englischer Freihandel zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, Duncker und Humblot 1915, S. 301

[18] Domenico Losurdo, Scheitern – Verrat – Lernprozess, a.a.O. S., S. 6 f.

[19] Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt am Main, 1973, S. 18

[20] Sebastian Haffner, 1918/19 – Eine deutsche Revolution, Reinbeck bei Hamburg, 1986, S. 62

[21] Rosa Luxemburg, Unser Programm und die politische Situation, Rede auf dem Gründungsparteitag der KPD (Spartakusbund) am 31. Dezember 1918, in: Politische Schriften III, Frankfurt am Main 1972, S. 171

[22] Rosa Luxemburg, Die russische Revolution, in: Politische Schriften III, Frankfurt am Main 1973, S. 141

[23] Domenico Losurdo, Das 20. Jahrhundert begreifen, a.a.O., S. 32

[24] ebenda

[25] Domenico Losurdo, Das 20. Jahrhundert begreifen, a.a.O., S. 32 f.

[26] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration? Über den Zusammenbruch des 'realen Sozialismus' in Osteuropa, in: Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Heft 3, Bonn 1994, S. 65

[27] Domenico Losurdo, Das 20. Jahrhundert begreifen, a.a.O., S. 33 f.

[28] Domenico Losurdo, Die Sprache des Imperiums. Ein historisch-philosophischer Leitfaden, PapyRossa Verlag Köln, 2011, S.112

[29] Domenico Losurdo, Scheitern – Verrat – Lernprozess, a.a.O. S., S. 7

[30] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus. Triumpf und Niedergang des allgemeinen Wahlrechts, PapyRossa Verlag Köln, 2008, S. 16

[31] Domenico Losurdo, Das 20. Jahrhundert begreifen, a.a.O., S. 34

[32] Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt…Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg, PapyRossa Verlag Köln, 2017, S. 336

 

Der Artikel erschien in zwei Teilen in den Ausgaben Mai und Juni 2023 im Magazin Rotfuchs

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