Die EU – Instrument und Sprungbrett für den deutschen Imperialismus?

Referat auf dem Kommunismus-Kongress 2023 der Kommunistischen Organisation


Die Bedeutung der EU für das deutsche Kapital

Die EU besteht in ihrem Kern aus einem Binnenmarkt, in dem gegenwärtig in 27 Ländern knapp 450 Millionen Menschen leben. Garantiert werden darin die vier Grundfreiheiten:

  • der freie Warenverkehr
  • der freie Personenverkehr
  • die Dienstleistungsfreiheit
  • der freie Kapitalverkehr

Damit erweitern sich faktisch die jeweiligen wirtschaftlichen Hoheitsgebiete der Mitgliedsstaaten um die der 26 anderen. Ohne Beachtung sonst international geltender Regelungen bzw. Einschränkungen – wie etwa Zölle, nachtarifäre Handelshemmnisse oder Kapitalverkehrskontrollen – können die einzelnen Unternehmen darin weitgehend ungehindert tätig werden.

Die deutschen Unternehmen profitieren in besonderem Maße von diesem Binnenmarkt, da der deutsche Kapitalismus in einem besonders hohen Maße monopolisiert ist. Und Monopole sind zu ihrem Erhalt und ihrem Wachstum besonders auf den Waren- und Kapitalexport angewiesen - das wissen wir seit Hilferding und Lenin.

Monopole bedürfen zur Gewährleistung und Sicherung ihrer Reproduktion aber des Agierens des jeweiligen Staates. Wir sprechen daher vom „staatsmonopolistischen Kapitalismus“: Vor allem international entwickelt sich der staatsmonopolistische Kapitalismus mit dem schnellen Tempo der Internationalisierung des Wirtschaftslebens, der Expansion transnationaler Konzerne und Finanzinstitute, der verschärften Konkurrenz bei zugleich widerspruchsvollen Tendenzen in den ökonomischen und politischen Beziehungen der Staaten untereinander. Deren Basis sind die gemeinsamen Interessen des internationalen Monopolkapitals und führender Staaten am Funktionieren des kapitalistischen Gesamtsystems.

Die Interessen realisieren sich

  • über die Tätigkeit solcher Institutionen wie dem Internationalen
  • Währungsfonds (IWF), der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Weltbank), der Welthandelsorganisation (WTO) mit den entsprechenden Mechanismen zum Erhalt und Ausbau von Positionen der Monopole und führenden Staaten über Kreditvergabe oder Investitionsschutzabkommen,
  • über die wachsende Anzahl staatsmonopolistisch-strategischer Foren wie das Weltwirtschaftsforum in Davos (WEF), die international agierenden Lobby-Verbände verschiedener Couleurs wie der ERT (European Round Table), der »Latein Amerika Verein« oder die von den Herrschaftseliten zur Expertenregierung erkorene Goldman Sachs Group.“
  • und schließlich „über das staatsmonopolistische Regelwerk der Europäischen Union (EU), über das ein wirtschaftlich starkes Kerneuropa seine Macht gegenüber einer schwachen europäischen Peripherie ausspielt.

Die Europäische Union wird heute als das fortgeschrittenste Regulationssystem unter kapitalistischen Staaten angesehen. Und in der Tat ist der von der EU erreichte Integrationsgrad bemerkenswert. Er ist nicht mit dem anderer ökonomischer Staatenbündnisse vergleichbar, sei es das North American Free Trade Agreement (NAFTA), die Association of Southeast Asian

Nations (ASEAN) oder die Asia-Pacific Economic Cooperation (APEC). Anders als diese losen Zusammenschlüsse gründet sich die EU vielmehr auf ein umfangreiches Vertragssystem und auf feste Institutionen.

Der in über 50 Jahren angewachsene Bestand gemeinsamer Rechtsakte, der Acquis communautaire, umfasst neben den Verträgen tausende Richtlinien, Verordnungen und Protokolle. Die EU verfügt über einen eigenen Haushalt, sie hat einen Gerichtshof, einen Rechnungshof, eine Zentralbank und eine gemeinsame Währung, die inzwischen in 18 ihrer 27 Mitgliedsländer Zahlungsmittel ist. Es existiert zudem ein Europäisches Parlament, welches allerdings aufgrund fehlender eigener Rechte kein echtes Parlament ist. Durch umfangreiche Kompetenzübertragungen auf die europäische Ebene kommt der nationalen Gesetzgebung oft nur noch die Aufgabe zu, dort getroffene Entscheidungen umzusetzen. Im Zuge der Integration haben sich die Rechtsschutzsysteme der Mitgliedsländer verändert. Das Prinzip der unmittelbaren Wirkung des EU-Rechts verpflichtet die nationalen Gerichte, europäische Rechtsnormen anzuwenden.

Die Bedeutung der EU für die deutschen Monopole ist daher kaum zu überschätzen.

Hierzu einige statistische Angaben: Der deutsche Handelsbilanzüberschuss bei Waren betrug 2021 172,5 Mrd. €. Davon machte der Überschuss gegenüber den EU übrigen Ländern nicht weniger als 62,9 % aus; 46,5 % - also knapp die Hälfte - entfielen dabei auf die Eurozone. Wichtigster Handelspartner Deutschlands sind zwar die USA, und China steht auf Platz 4, doch unter den ersten 20 Ländern befinden sich allein 14 Staaten der EU. Die wichtigsten EU-Handelspartner sind dabei Frankreich (Platz 2), die Niederlande (Platz 3), Polen (Platz 5), Österreich (Platz 6) und Italien (Platz 7). Erst dann folgen das aus der Union ausgetretene Großbritannien und die von Beginn außerhalb der Union gebliebene Schweiz. Eine ähnliche Reihenfolge dürfte es bei anderen wirtschaftlichen Indikatoren geben, etwa bei Dienstleistungen und beim Kapitalimport bzw. Export.

Etwas anders sieht die Statistik bei den Warenexportüberschüssen aus: Die höchsten Überschüsse wies Deutschland im Jahr 2022 mit den Vereinigten Staaten (63,9 Milliarden Euro) auf. Es folgte Frankreich (46,8 Milliarden Euro) und das Vereinigte Königreich (35,9 Milliarden Euro). Aus China wurden hingegen mehr Waren importiert als dorthin exportiert. Für dieses Land wies der deutsche Außenhandel im Jahr 2022 einen Importüberschuss und damit ein Handelsdefizit von 85,1 Milliarden aus. [1]

Von besonderer Bedeutung sind die wirtschaftlichen Verflechtungen der deutschen Wirtschaft mit den vier Visegradländern Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn. Noch größer ist die Abhängigkeit dieser Länder von der deutschen Wirtschaft. Deutschland war etwa 2021 Lieferland Nummer eins für Ungarn. Die Bundesrepublik hält allein einen Anteil von rund 24 Prozent an den ungarischen Importen. Im gesamten deutschen Außenhandel hat Ungarn inzwischen das sanktionierte Russland überholt. Von vergleichbarer Bedeutung sind Polen, die Slowakei und Tschechien. Für die deutsche Automobilindustrie sind die Produktionsstandorte in der Slowakei und in Ungarn von zentraler Bedeutung. Ohne sie wäre sie weltweit nicht konkurrenzfähig.

Ausschlaggebend für die hohe Investitionsbereitschaft dort sind niedrige Löhne, schwache Sozialleistungen, kampfunfähige Gewerkschaften, aber auch niedrige Umweltstandards.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) konnte man kürzlich lesen: „Das Gefühl, alles hängt von China ab, entspricht nicht der gesamtwirtschaftlichen Realität“, (…). „2,7 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts hängen von der chinesischen Endnachfrage ab. In die vier Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn exportieren wir zusammen mehr als nach China.“ [2]

Die östlichen EU-Staaten sich aber auch wichtige Herkunftsländer für die Arbeitsmigration. Es findet ein massiver Brain drain von dort statt – vor allem bei medizinischem Personal. Garantiert wird er durch den freien Personenverkehr, einer der vier Grundfreiheiten der Union.


Was sind die Mechanismen zur Durchsetzung der Interessen des deutschen Kapitals in der EU?

Die Europäische Union stellt zwar eine entwickelte Form der Kooperation von Staaten dar. Sie ist aber zugleich Austragungsort des Kampfes unter ihnen. So ist die Geschichte der EU immer auch eine des Ringens zwischen Deutschland und Frankreich um den entscheidenden Einfluss in ihr, wobei sich Phasen engen Zusammenwirkens mit solchen offener Konkurrenz ablösen.

Seit dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik und der Rückgewinnung des Handlungsspielraums des deutschen Monopolkapitals im europäischen Osten ist jedoch der Kampf um die Hegemonie in der EU zugunsten Deutschlands entschieden.

In Krisenzeiten schwächt sich regelmäßig die innereuropäische Kooperation ab, und es verstärkt sich die Konkurrenz. Vertraglich festgelegte Aushandlungsverfahren werden dann auch mal ignoriert.

So entschied man in der Euro-Krise über Maßnahmen zur Stabilisierung angeschlagener Defizitstaaten nicht in dem eigentlich zuständigen Ministerrat, sondern in der lediglich informell tagenden Eurogruppe, in der nur die Euroländer vertreten sind. Neue Institutionen, wie die EFSF (die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität) und der ESM (der Europäische Stabilitätsmechanismus), wurden außerhalb der Union eingerichtet. Dominiert werden sie von den kerneuropäischen Ländern, und hier in erster Linie von Deutschland.

Die damit einhergehenden Veränderungen im europäischen Machtgefüge wurden in der deutschen Presse mit Genugtuung kommentiert. So war in der FAZ vom 07.04.2012 zu lesen: „Es ist offensichtlich, dass die Finanz- und Staatsschuldenkrise die Verlagerung der Macht hin zu den Mitgliedstaaten verstärkt hat. So ist etwa die Stellung Deutschlands (…) heute so stark, wie das noch nie in der Geschichte der Einigung der Fall war. Spiegelbild ist die relative Schwäche Frankreichs und Großbritanniens.“

Noch gravierender sind die von der Finanz- und Staatsschuldenkrise ausgelösten Machtverschiebungen zwischen europäischem Kern und Peripherie. Dadurch wird die EU immer weniger ihrem selbst gestellten Anspruch gerecht, eine auf Zusammenarbeit und Aushandlung angelegte Institution zu sein.

Stattdessen hat sich eine Hegemonialordnung mit Deutschland an der Spitze herausgebildet. Die Eurokrise und der Streit zwischen ost- und kerneuropäischen Ländern in der Flüchtlingskrise haben im Ergebnis zu einer Verbitterung zwischen den Völkern geführt, die sie mehr und mehr entfremdet. In Griechenland, Italien und weiteren Ländern des Südens werden immer häufiger Parallelen zwischen den unguten historischen Erfahrungen mit Deutschland und der aktuellen Entwicklung gezogen. Karikaturen – Nazi-Vergleiche – Griechenland: „Nach jedem deutschen Tank kommt gleich die Deutsche Bank“.

Wie sehen nun die Mechanismen aus, denen sich die großen Mitgliedsländer – und hier vor allem Deutschland – bedienen, um ihre Interessen in der EU durchzusetzen?

Dies geschieht vor allem bei Abstimmungen über die Vorschläge der Europäischen Kommission zu Richtlinien und Verordnungen in den Ministerräten und im Europäischen Rat der Regierungschefs. Solche Abstimmungen finden permanent statt. Abgestimmt wird dabei über Beschlussvorlagen, Paragraphen, Sätze, ja sogar über einzelne Worte.    

Die EU-Staaten haben bei Abstimmungen im Rat bzw. in den Ministerräten unterschiedliches Gewicht. Entscheidend ist dabei ihre Bevölkerungsgröße. In dem Vertrag von Lissabon vom 1. Dezember 2009 wurde dieses neue Abstimmungsverfahren der gewichteten Stimmen verankert. Danach gilt das Prinzip der doppelten Mehrheit (16 Abs. 4 EUV und Art. 238 Abs. 2 AEUV). Angenommen ist ein Text, wenn hinter ihm die Mehrheit der Staaten (mindestens 15 der 27) und eine Bevölkerungsmehrheit von 65 Prozent der EU steht. Die so zustande gekommene Mehrheit gilt als qualifizierte Mehrheit.

Angewandt wird die Regelung aber erst seit 2014. Polen hatte den Aufschub verlangt, da die neue Regelung vor allem für das Land negativ ist. Polen und Spanien hatten zuvor bereits gegen das ursprünglich geplante Bevölkerungsquorum von 60 Prozent Widerspruch eingelegt. [3]

Setzt man für die gesamte Bevölkerung der EU die Prozentzahl 100 an, so entfallen danach auf Deutschland 18,59 Prozent, auf Frankreich 15,16, Italien 13,32 usw. Am Ende steht Malta mit 0,12 Prozent. Selbst mittelgroße Länder wie Rumänien (4,25 Prozent), die Niederlande (3,96 Prozent) oder Belgien (2,60 Prozent) haben nur einen geringen Einfluss. Allein im Bündnis mit großen Staaten können sie – wenn überhaupt – ihren Einfluss geltend machen. Die Kleinen können ansonsten ihre Interessen nur mittels des zweiten Kriteriums – es muss die Mehrheit der Mitgliedsländer zustimmen – geltend machen.

Stimmen die Großen Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien überein, so erreichen sie beim Kriterium der Bevölkerungsgröße bereits 57,67 Prozent. Da ist es nicht mehr weit bis zum erforderlichen Quorum von 65 Prozent. Aufgrund der hohen Anteile der großen Länder – und hier vor allem Deutschlands – kommen nur selten Mehrheitsbündnisse im Rat bzw. im Ministerrat gegen sie zustande.

Die Umstellung auf das Kriterium der Bevölkerungsgröße stellte die Entscheidungsfindung innerhalb der EU auf eine völlig neue Grundlage. Seit Gründung der Europäischen Gemeinschaften wurde mit gewichteten Stimmen abgestimmt. In der EWG der sechs galt: Jeweils 10 Stimmen für die drei Großen BRD, Frankreich, Italien, 4 Stimmen für Belgien und die Niederlande, 2 Stimmen für Luxemburg. Die proportionalen Abstände waren vergleichsweise gering.

Bis 2014 hatten die vier großen Staaten (D, F, GB, I) jeweils 29 von insgesamt 321 Stimmen. Ihr Anteil betrug damit jeweils 9 Prozent. Polen und Spanien hatten mit jeweils 27 fast genauso viel. Heute hält Deutschland hingegen 18,59 Prozent, Frankreich 15,16 und Italien 13,32 Prozent. Polen hingegen nur noch 8,41 Prozent und Spanien 10,60. Es ist damit klar, wer bei dieser Umstellung auf das demografische Prinzip Gewinner und wer Verlierer war!

Die Berücksichtigung der Bevölkerungsgrößen als ein entscheidendes Kriterium stellte die Union auf eine völlig neue Grundlage. Die Bedeutung der großen Staaten in ihr wuchs in ihr ganz erheblich. Vor allem aber profitierte Deutschland von ihr.

Das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich verschob sich dadurch zugunsten der Bundesrepublik. Bis zum Vertrag von Lissabon hatten sie mit jeweils 29 Stimmen gleich viel Einfluss im Rat. Auf dem EU-Gipfel in Nizza im Jahr 2000 konnte sich Frankreich noch die Parität wahren. Staatspräsident Chirac soll damals gesagt haben, dass Frankreich nicht dreimal Krieg mit Deutschland geführt habe, um nun die Parität aufzugeben.

Alle deutschen Bundesregierungen haben seit dem Anschluss der DDR 1990 Druck gemacht, um dem damit deutlich größer gewordenen Land mehr Einfluss in der EU zu verschaffen. Als dies auf mehreren EU-Gipfeln nicht gelang, versuchte man es Anfang der 2000 Jahre mit der Einsetzung eines Konvents der eine „Verfassung für Europa“ ausarbeitete. Trotz des Scheiterns des Verfassungsentwurfs bei Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden 2005 wurde das neue Abstimmungsverfahren in den Vertrag von Lissabon aufgenommen. Deutschland war am Ziel! [4]


Welche Haltung sollten Sozialisten und Kommunisten gegenüber der EU einnehmen?

Eine „demokratische und soziale EU“, wie sie von linken Politikern und Gewerkschaftern in Deutschland und anderen kerneuropäischen Ländern gefordert wird, ist zwar eine schöne Idee, doch leider »die Verhältnisse, sie sind nicht so«, um mit Bertolt Brecht zu sprechen. Angesichts der vorhandenen

Machtverhältnisse in den Mitgliedstaaten sowie in der EU müssen sich die Befürworter einer progressiv gewendeten EU vielmehr nach der Realisierbarkeit ihres Wunsches befragen lassen.

Mehr noch: Die Parole von einer „demokratischen und sozialen EU“ ist als eine nicht realisierbare Utopie nur geeignet, Illusionen über die Reformierbarkeit der Union zu verbreiten. Objektiv führt sie daher zu einer weiteren Schwächung der demokratischen Rechte auf nationaler Ebene und spielt den neoliberalen Kräften in die Hände.

Die EU wird gegenwärtig weniger von links als von rechts infrage gestellt Die Kritik der Kräfte von Rechtsaußen an der EU und am Euro ist oft sehr laut, und es gelingt ihnen, damit bei Wahlen zu punkten. Anders sieht es aber aus, wenn diese Parteien an der Regierung sind. Dann wird oft aus der lauten sehr schnell eine kleinlaute Kritik.

Doch so wenig die rechten und rechtsextremen Kräften wirklich bereit sind, die Mitgliedschaft ihres jeweiligen Landes in der Eurozone oder gar in der EU infrage zu stellen, so ist es doch eine Tatsache, dass ihre Erfolge weitere Integrationsschritte erschweren bzw. unmöglich machen, etwa in der angestrebten Entwicklung einer EU-Migrationspolitik oder bei der Umwandlung des ESM in einen europäischen Währungsfonds.

Je lauter die Kräfte von Rechtsaußen mit chauvinistischen Tönen gegen EU und den Euro Stimmung machen, umso mehr flüchten sich die in der Europäischen Linken (EL) zusammengeschlossenen Parteien in eine Pro-EU-Position. Ihr traditioneller Internationalismus ist längst zu einem Europäismus mutiert. Es ist die Angst vor dem Nationalismus der „tieferliegende Grund, warum die meisten Linken die Auflösung der Währungsunion so entschieden ablehnen“. [6] Auf diese Weise werden sie zu Verbündeten von Sozialdemokraten und Grünen. Die von ihnen erhobenen Forderungen nach einer »demokratischen, sozialen EU« liegen aber jenseits jeder Realisierungsmöglichkeit. Sie werden ihnen daher zu Recht nicht abgenommen. Und so zählt am Ende nur ihr „Ja zu Europa“.

Europäische Linksparteien wie die Kommunistische Partei Frankreichs, die italienische Partei der Kommunistischen Wiedergründung (Rifondazione Comunista) und die DIE LINKE gehören daher inzwischen zum breiten Spektrum der Pro-EU-Parteien. Den rechten Kräften überlässt man auf diese Weise die grundsätzliche Kritik an Globalisierung und EU. Es gibt nur wenige linke Parteien, die in einer grundsätzlichen Opposition zur EU stehen. Zu nennen sind hier kommunistische Parteien in Griechenland, Italien, Portugal und Spanien sowie die französische Bewegung „Das unbeugsame Frankreich“ (La France insoumise) unter Führung von Jean-Luc Mélenchon. Dazu zählen aber auch Linke in Großbritannien. Dort setzte sich etwa in der Labour Party die Strömung „Labour Leave“ aktiv für den Brexit ein. Auch die KP Britanniens setzte sich für den Austritt ein.

Für die antikapitalistischen Kräfte in den Ländern der EU geht es auf absehbare Zeit nirgendwo um die Durchsetzung grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen und schon gar nicht um den Kampf für einen Sozialismus. In der heutigen Situation kommt es zunächst darauf an, für den Erhalt der nationalstaatlich verankerten Demokratien einzutreten, auf deren Boden solche Auseinandersetzungen eines Tages überhaupt erst wieder ausgefochten werden können.

Die Demokratien sind heute vor allem durch die EU gefährdet. Der Kampf gegen die EU ist daher, verbunden mit dem weltweiten Kampf gegen den Imperialismus, der Antikapitalismus der heutigen Zeit. Die linke britische Tageszeitung Morning Star beschrieb am Vortag der Abstimmung über den Brexit sehr genau worum es geht: „Eine Stimme für Verlassen bringt nicht heute den Sozialismus. Aber sie wäre ein Schritt hin zur Wiederherstellung von demokratischer Kontrolle über unsere Wirtschaft, und sie würde ein Hindernis für Fortschritt beseitigen.“

 

(1) Angaben nach dem Statistischen Bundesamt, abgerufen am 03.10.2023  https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Aussenhandel/_inhalt.html#238728

(2) FAZ, Der angeschlagene Riese, in FAZ vom 02.09.2023

(3) Stimmengewichte im Europäischen Rat: https://www.consilium.europa.eu/en/council-eu/voting-system/voting-calculator/

(4) Vgl. zum Europäischen Konvent und zur Entstehung und zum Schicksal des Verfassungsvertrag die beiden Bücher von Andreas Wehr, Europa ohne Demokratie? Die europäische Verfassungsdebatte – Bilanz, Kritik und Alternativen, Köln 2004 und Das Publikum verlässt den Saal. Nach dem Verfassungsvertrag: Die EU in der Krise, Köln 2006  

(5) Vgl. zum Europäischen Konvent und zur Entstehung und zum Schicksal des Verfassungsvertrag die beiden Bücher von Andreas Wehr, Europa ohne Demokratie? Die europäische Verfassungsdebatte – Bilanz, Kritik und Alternativen, Köln 2004 und Das Publikum verlässt den Saal. Nach dem Verfassungsvertrag: Die EU in der Krise, Köln 2006  

(6) Perry Anderson, das System Europa und seine Gegner, in: Le Monde diplomatique, März 2017, S. 6

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