Top oder Flop? Die aussichtsreichsten Kandidaten für die EU-Spitzenposten

Interview von Andreas Wehr mit Sputnik Deutschland vom 3. Juli 2019

Während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die deutsche Verteidigungsministerin an der Spitze der EU-Kommission sehen will, haben Sozialdemokraten, Grüne und Linke Vorbehalte. Wie die EU mit von der Leyen als Kommissionschefin aussehen würde und wie die Kandidaten für die anderen EU-Topjobs zu bewerten sind, hat EU-Experte Andreas Wehr erklärt.

Herr Wehr, nach zähem Ringen um die EU-Spitzenjobs deutet sich in Brüssel eine Einigung an. Bevor wir zu den einzelnen Kandidaten kommen: Ist es normal, dass dieser Prozess so schwer vonstattengeht oder sind die Konflikte zwischen den einzelnen Staats- und Regierungschefs beziehungsweise ganzen Ländergruppen ein Zeichen für eine ernsthafte Spaltung der EU?

Es ist durchaus normal, 2014 hat es auch lange gedauert. Aber da war schon ziemlich klar, wer Kommissionspräsident wird. Es gab damals Schwierigkeiten bei anderen Posten – es ging etwa darum, wer Ratspräsident wird. Es kann schon mal lange dauern, aber dieses Mal kann man sagen, dass die Spaltungslinien in der EU bei der Auswahl des vorzuschlagenden Kommissionspräsidenten offensichtlicher geworden sind.

Die Nominierung der deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als Kommissionschefin sorgt derzeit für die heftigsten Debatten. Sie steht für die Frage nach dem Spitzenkandidatenprinzip und auch für das Machtgerangel zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Personalie Von der Leyen?

Das Spitzenkandidatenprinzip ist gescheitert. Ich nehme an, dass man das in fünf Jahren bei der nächsten Wahl der Kommission nicht wieder hervorholen wird. Als man es 2014 gemacht hat, gab es den „geborenen Kandidaten“ mit Jean-Claude Juncker. Er war lange Zeit Ministerpräsident in Luxemburg, kannte sich auch auf der europäischen Ebene sehr gut aus. Er wäre es auch ohne das Spitzenkandidatenprinzip geworden. Dieses Mal wurde mit Weber jemand vorgeschlagen, der bei vielen nicht als derjenige galt, der das Format hat, um Kommissionspräsident zu werden.

Es ist auch deshalb schiefgegangen, weil die Sozialdemokraten und die Konservativen nicht mehr die alleinige Mehrheit im Europäischen Parlament haben, sondern auf andere Fraktionen angewiesen sind, vor allem auf die Liberalen. Bei diesen hat es aber mit dem Auftauchen Macrons eine Veränderung gegeben. Nach der Ablehnung Webers hatte man dann das Problem, dass man jemand Neues vorschlagen musste. Es gab schließlich den Kandidaten Barnier aus Frankreich und eben auch Ursula von der Leyen. Man hat sich für von der Leyen entschieden und jetzt muss man sehen, ob man das im Europäischen Parlament durchbringen kann.

Gegen Von der Leyen gibt es sehr viele Vorbehalte. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass sie tatsächlich Junckers Nachfolge antritt?

Der Vorbehalt, dass sie keine Kandidatin im Wahlkampf war, wird sich sicher abnutzen. Aber von der Seite der Kritiker einer zunehmenden Militarisierung der EU gibt es natürlich massive Vorbehalte gegen die jetzige deutsche Verteidigungsministerin. Sie hat ja den Slogan der „Militär-Union“ hervorgebracht und alles getan, um die militärische Zusammenarbeit, die Sicherheitszusammenarbeit bis hin zu einer europäischen Armee voranzutreiben. Sie steht für die Militarisierung der gesamten EU und ist eine Vertreterin des industriell-militärischen Komplexes. Als Verteidigungsministerin hat sie auch in Deutschland immer dafür geworben, zwei Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben. Mit von der Leyen als Kommissionschefin würde die EU eine noch stärker in Richtung Militarisierung gehen.

Wer käme noch infrage? Sind Timmermans und Weber endgültig vom Tisch?

Die beiden sind mit Sicherheit vom Tisch. Es war schon ein sehr erstaunlicher Schwenk, den die Kanzlerin, aber auch andere da noch gemacht hatten, nachdem Weber nicht durchsetzbar war: Timmermans vorzuschlagen, war eine merkwürdige Sache, weil er ja nur als „zweiter Sieger“ durch das Ziel gegangen ist. Man hat gesagt: Egal, welche Gruppe die stärkste geworden ist, wir nehmen irgendeinen, der Spitzenkandidat war. Dieser Versuch, das Spitzenkandidatenprinzip zu retten, hat nicht funktioniert. Wenn Ursula von der Leyen im Europäischen Parlament durchfällt, wird es mit der Kandidatensuche wieder von vorn losgehen und man wird wieder überrascht sein, wer dabei aus dem Hut gezaubert wird.

Für den Posten des Präsidenten des Europäischen Parlaments wurde der italienische Sozialist und ehemalige Fernsehjournalist David Sassoli bereits gewählt. Wie bewerten Sie diese Personalie?

Das ist ein Versuch, die großen Länder einzubinden. Man hat gegenwärtig große Schwierigkeiten mit Italien. Lagarde aus Frankreich, von der Leyen aus Deutschland. Wenn man dann schaut, welche großen Länder übrig bleiben, kommt man auf Spanien und natürlich auch auf Italien. Die Frage ist, was mit dem großen Land Polen wird - es hatte ja bisher den Ratspräsidenten mit Donald Tusk gestellt. Was in Brüssel passiert, ist eine Zusammenarbeit der 27 verbliebenen Staaten, insbesondere der großen Staaten. Man schaut auf die Vertretung der einzelnen Länder, damit diese sich dort auch wiederfinden.

Interessant und ebenfalls aussichtsreich ist auch die Anwärterin für den EZB-Chefposten Christine Lagarde. Die bisherige IWF-Chefin ist keine Ökonomin, scheint aber sehr viel Vertrauen zu genießen. Woran liegt das? Was kann man von Lagarde auf diesem Posten erwarten?

Es ist zum ersten Mal eine Kandidatin für den Posten des EZB-Präsidenten, die im Bankengeschäft keine Erfahrung hat. EZB-Präsidenten wurden bisher immer nur Vertreter von staatlichen Banken. Es wird noch Diskussionen darüber geben, ob Lagarde wirklich erfüllen kann, was sie verspricht. Es ist auch kein gutes Zeichen, wenn der Stil des IWF, der ein brutaler Sanierer ist, zum Stil der EZB wird, sodass der Druck auf die einzelnen Staaten zur Einhaltung der Austeritätspolitik noch grösser werden wird. Lagarde hat im Zusammenhang mit Griechenland gezeigt, dass sie weit über das hinausgehen wollte, was die Kommission dem Land auferlegt hatte. Das ist kein gutes Zeichen für kommende Krisen der EU. Lagarde wird sicherlich die Sparpolitik noch weiter verschärfen.

Ratspräsident soll nach dem vorläufigen Stand der Dinge der Belgier Charles Michel werden. Die Nominierung des Juristen und belgischen Premiers scheint, der Resonanz nach zu urteilen, ebenfalls nicht besonders umstritten. Ist der Posten sicher?

Das kann man noch nicht abschätzen. Es ist jedoch ein Posten, der nicht von einer so großen Bedeutung ist, wie der des Kommissionspräsidenten oder des EZB-Präsidenten. Dieser Posten ist erst mit dem Lissaboner Vertrag geschaffen worden. Er hat mehr oder weniger die Aufgabe, die Arbeit des Rats zu koordinieren. EU-Ratspräsidentschaft ist ein großes Wort, ist aber eher ein Koordinationsjob. Hinzu kommt, dass alle halbe Jahr die Durchführung der konkreten Ratsarbeit von Land zu Land wechselt. Daher bleibt nicht viel Platz für einen EU-Präsidenten. Nehmen wir Donald Tusk: Er kommt dauernd in der Presse vor, weil er koordiniert und jetzt versucht hat, die Verhandlungen über den Kommissionspräsidenten zu führen. Aber in der praktischen Bedeutung ist das nicht mit der Kommissionspräsidentschaft zu vergleichen. Insofern wird man nicht allzu viele Probleme mit dem Kandidaten aus Belgien haben.

Als EU-Außenbeauftragter ist schließlich der Spanier Josep Borrel Fonteles im Gespräch. Wie bewerten Sie die Chancen des Sozialdemokraten?

Man versucht bei der Personalfindung, alles Mögliche zu verteilen, Spanien, Italien, Deutschland und Frankreich zu berücksichtigen.  Mit Borrel hat man einen Kandidaten gefunden, der zwei Dinge erfüllt. Zum einen ist er Sozialist. Obwohl die Sozialdemokraten bei diesen Europa-Wahlen deutlich geschwächt worden sind, müssen sie auch irgendwie mit einem Posten abgefunden werden. Timmermans ist es ja nicht geworden. Zum zweiten soll sich das relativ große Land Spanien im Personaltableau der EU wiederfinden. Es war schon absehbar, dass die Spanier jemanden vorschlagen werden.

Das Tableau liest sich sehr international. Wäre damit der Vorwurf der deutschen Dominanz in der EU ausgeräumt? Und können sich beispielsweise die Visegrad-Staaten damit zufriedengeben?

Die Visegrad-Staaten haben bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten zum ersten Mal eine wichtige Rolle gespielt, aber auch in der Vergangenheit haben sie sich schon bemerkbar gemacht. Es gibt eine immer festere Koordination zwischen den vier Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei. Diesmal haben sie deutlich gemacht, dass sie Frans Timmermans auf keinen Fall mittragen.

Deswegen ist es auch nicht möglich gewesen, ihn durchzusetzen. Man hat Timmermans zu Recht vorgeworfen, dass er massiven Druck auf diese Staaten ausgeübt hat und in der EU-Kommission ein Scharfmacher gegenüber Polen und Ungarn war. Es zeigt sich, dass sich diese Staaten nicht einfach herumschubsen lassen, sondern dass sie sich auch untereinander koordinieren, sich wehren und Personalentscheidungen beeinflussen können. Das ist eine interessante neue Entwicklung und das zeigt auch die Vertiefung der Spaltungslinien. Im Prozess der Personalentscheidung ist deutlich geworden, dass die EU wesentlich gespaltener ist als vor fünf Jahren.

Die deutsche Dominanz ist aufgrund der Wirtschaftsstärke gegeben und wird über die Beeinflussung der Kommission umgesetzt. Die Kommission ist jetzt stärker in deutscher Hand. Die bisherigen Kommissionsmitglieder aus Deutschland – ich denke da an Oettinger – konnten das nicht so umsetzen. Aber egal wer dort agiert – die deutschen Positionen sind aufgrund der ökonomischen Dominanz des Landes einfach unglaublich stark. Man darf auch nicht vergessen, dass der Abstimmungsmodus im Europäischen Rat so ist, dass die Länder mit der größten Bevölkerung auch den größten Einfluss haben.  Wenn man berücksichtigt, dass jede Entscheidung, die die EU trifft, von einem Bevölkerung squorum unterstützt werden muss, dann erkennt man leicht, dass 83 Millionen deutsche Bundesbürger dort erhebliches Gewicht haben.  Die deutsche Dominanz ist also automatisch gegeben.

Weswegen sollte es dann im Interesse von Emmanuel Macron gewesen sein, Ursula von der Leyen ins Spiel zu bringen?

Macron hatte ja schon vorher deutlich gemacht, dass er gegen das Spitzenkandidatenprinzip ist. Das kann man aus seiner Sicht auch verstehen, weil er sich den Liberalen zugehörig fühlt. Klar ist: Wenn dieses Spitzenkandidatenprinzip existiert, können die Liberalen, aber auch die Grünen nicht zum Zuge kommen. Das ist ein Spiel, das sich die Sozialdemokraten und die Konservativen ausgedacht haben, um untereinander den Kommissionspräsidenten ausmachen zu können. Macron will das durchbrechen und hat auch deutlich gemacht, dass er sich nicht daran gebunden fühlen will. Wenn er gestalten wollte, musste er also einen Kandidaten vorschlagen.

Der Vorschlag von Ursula von der Leyen hatte für ihn das Attraktive, dass er damit auf die Deutschen zugehen konnte. Außerdem hatte Macron bei seiner Rede 2017 und auch danach immer wieder deutlich gemacht, dass er sehr an einer Militarisierung der EU und einer rüstungspolitischen Zusammenarbeit mit Deutschland interessiert ist, dass es bei den Militärunternehmungen in Afrika eine Lastenteilung zwischen Deutschland und Frankreich geben soll. Und das alles unter dem Dach der EU. Da lief also schon einiges auf von der Leyen hinaus. Sie steht für das Projekt einer Militarisierung, einer europäischen Armee. Und das ist im französischen Interesse.

 

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