Protokoll des ukrainischen Bürgerkriegs

Rezension des Buches von Ulrich Heyden „Der längste Krieg in Europa seit 1945 – Augenzeugenberichte aus dem Donbass“ [1]

Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine im Februar 2022 erfolgte weder aus einer Laune Wladimir Putins heraus, noch war er Ausdruck eines irgendwie gearteten imperialistischen Charakters Russlands, wie uns selbst Linke heute weißmachen wollen. Er war vielmehr das Ergebnis eines acht Jahre andauernden Bürgerkriegs in der Ostukraine. Dieser begann direkt nach dem Putsch ultranationalistischer und faschistischer Kräfte in Kiew im Februar 2014, wodurch das Land aus seinem Gleichgewicht zwischen Ost und West gebracht worden war. Seitdem wütet der Bürgerkrieg, der bis zum Beginn der russischen Intervention 14.000 Menschen das Leben gekostet hat. Nach Ulrich Heyden starben davon „5.000 in der Volksrepublik Donezk, 4.000 in der Volksrepublik Lugansk und 5.000 Menschen in dem von Kiew kontrollierten Teil des Donbass.“ (18). Betroffen davon waren „ein Drittel Zivilisten. Zwei Drittel ukrainische Soldaten und Soldaten der Volksrepubliken. Der Anteil der Freiwilligen aus Russland unter den Toten ist minimal.“ (62) Mit dem Einmarsch Russlands ist aus einem regional begrenzten Bürgerkrieg ein die ganze Welt beeinträchtigender Krieg geworden, von dem heute niemand sagen kann, wie und wann er enden wird.

In deutschen Medien wurde darüber kaum und wenn dann fast ausschließlich aus ukrainischer Perspektive berichtet. Im Unterschied zu anderen Ländern hatten die großen deutschen Zeitungen und Nachrichtenagenturen keine Journalisten vor Ort. Bereits 2014 waren die deutschen Korrespondenten aus dem Donbass abgezogen worden. Man begnügte sich mit gelegentlicher Berichterstattung von Kiew oder Moskau aus. Für Heyden steht fest: „Je mehr sich die Macht der Separatisten im Donbass festigte, desto weniger waren die Chefredakteure großer deutscher Medien daran interessiert, den faktischen Sieg der Separatisten auch noch durch eigene Berichte zu bestätigen. (30) Ein Reporter vom Spiegel schrieb 2014: „Wer erfahren will, was im Osten des Landes passiert, der muss momentan auf russischsprachige, englische oder französische Medien ausweichen.“ (31)  

Eine Ausnahme ist der Journalist Ulrich Heyden, der in den Kriegsjahren immer wieder nach Donezk und Lugansk reiste und sich dort auch länger aufhielt. Vertraut mit der Ukraine wurde er bereits während seiner früheren Tätigkeit für die taz und den Deutschlandfunk. 1983 bereiste er zum ersten Mal die damalige Sowjetrepublik. 1992 lebte er mehrere Monate bei einer Familie in Kiew (31). Er ist keineswegs Gegner einer unabhängigen Ukraine. So schilderte er wie er die Geschenke für seine Freunde dort in blaugelbem Papier – den Nationalfarben des Landes - verpackte.  

Ulrich Heyden veröffentlichte 2015 im PapyRossa Verlag das Buch „Der Krieg der Oligarchen – Das Tauziehen um die Ukraine“. Von 2001 bis 2014 war er Moskau-Korrespondent für die Sächsische Zeitung, anschließend für die Wochenzeitschrift Der Freitag, bis er dort unter skandalösen Umständen im März 2022 kaltgestellt wurde. Seine kritische Sicht auf die Politik der Ukraine passte offensichtlich nicht mehr ins Bild. Sogar seine Akkreditierung als Korrespondent in Moskau entzog ihm der Freitag, der für sich selbst euphemistisch als „Wochenzeitung mit Haltung“ wirbt. Zum Glück traten die Nachdenkseiten an dessen Stelle und sicherten damit Heydens Akkreditierung.      

Mit dem Buch „Der längste Krieg in Europa seit 1945“ hat Heyden jetzt eine Auswahl seiner seit 2014 entstandenen Reportagen, Interviews und Kommentare über den Donbass vorgelegt. Erschienen sind sie im Neuen Deutschland, auf den Nachdenkseiten, bei Telepolis und Rubikon, in Krass und Konkret sowie im Freitag. Es ist eine Dokumentation der Ereignisse, die einen Einblick in die politischen und militärischen Auseinandersetzungen erlaubt, und so die westliche Mär widerlegt, das in diesem Krieg Separatisten im Auftrage Moskaus mit russischen Waffen kämpften, unterstützt von regulären russischen Soldaten, um der Ukraine den Donbass zu entreißen.

Heyden beschreibt die unzähligen falschen Darstellungen der Situation: „Von den deutschen Medien wird konsequent verschwiegen, dass die Ukraine ein multinationaler Staat ist. Bei der Volkszählung 2001 nannten 67 Prozent Ukrainisch und 29 Prozent der Befragten Russisch als ihre Muttersprache. Verschwiegen wird auch die Zwangsukrainisierung der russischen Bevölkerung in der Ukraine nach 2014. Seit dem 16. Januar 2021 wurde Ukrainisch zur einzigen offiziellen Sprache erhoben.“ (119) „Seitdem darf nur noch Ukrainisch im öffentlichen Raum gesprochen werden. Russisch-Unterricht gibt es nur noch bis zur vierten Klasse.“ (23) Anders verhält sich die Volksrepublik Lugansk (LNR): „Obwohl 90 Prozent der Bewohner in der LNR Russisch sprechen, ist die ukrainische Sprache dort ausdrücklich als offizielle Sprache verankert.“ Dies geschah „mit Blick auf einen Kompromiss mit der Ukraine.“ (60) Entsprechend ist es in der Volksrepublik Donezk.

Es ist aber nicht allein die Diskriminierung der russischen Sprache, die zum Widerstand der Menschen im Donbass gegen Kiew führte: „Den Großteil der Bevölkerung in der Ostukraine treibt die Sorge um, dass das Zerbrechen der engen Wirtschaftsbeziehungen mit Russland ökonomisch das Ende der Region bedeutet. Das ist auch der Grund, warum sich viele Bergarbeiter der etwa 20.000 Mann starken Donbass-Armee der Aufständischen angeschlossen haben.“ (280) Die Kumpels und auch die Stahlkocher wissen eben sehr genau, dass sie von einer Ukraine in der Europäischen Union nichts zu erwarten haben. Kohle soll unionsweit bald überhaupt nicht mehr gefördert werden und an Stahl gibt es in der EU bereits jetzt einen großen Überschuss. Für den Donbass würde das De-Industrialisierung bedeuten. Und für die Menschen dort bliebe nur die düstere Perspektive, sich als Lastwagenfahrer, Hilfsarbeiter, Erntehelfer und Reinigungskräfte oder als Pflegehelfer in den reicheren Unionsländern verdingen zu müssen. Der Bürgerkrieg in der Ukraine hat also auch soziale Ursachen. Es war daher als andere als zufällig, dass er sich an der Frage der Assoziierung des Landes mit der EU entzündete, wobei der Kiewer Maidan als Hauptkampfplatz zum „Euromaidan“ wurde.                         

Der Autor erinnert daran, dass es erst in Reaktion auf die Entrechtung der russischsprachigen Bevölkerung durch die Kiewer Putschregierung im Frühjahr 2014 zu Protesten und Besetzungen von öffentlichen Gebäuden im Osten und Süden der Ukraine kam – nicht nur im Donbass, auch in Charkow, in Saporischschja sowie in Odessa. Überall gab es dabei Tote. Bei einem am 2. Mai 2014 von Rechtsradikalen verübten Brandanschlag auf das Gewerkschaftshaus in Odessa starben nach offiziellen Angaben 46, wahrscheinlich aber mehr als hundert Menschen, darunter waren auch Kinder. Bei einem Besuch in der Ukraine hatte Außenminister Frank-Walter Steinmeier ursprünglich geplant, am Gewerkschaftshaus Blumen abzulegen. Er ließ es dann aber doch sein.     

Vor allem die Interviews in dem von Heyden vorgelegten Band geben Einblick in das Denken und Handeln der Menschen dort. So erklärt ein Gesprächspartner: „Es mag paradox klingen, aber in den Teilen des Donbass, in denen sich Lugansk und Donezk befinden, verteidigt man die sogenannten allgemein anerkannten, demokratischen, europäischen Werte. Das ist das Wahlrecht, das Recht über den verfassungsrechtlichen Weg, über Wahlen, Entscheidungen treffen zu können, nicht mit einem Militärputsch, verstehen Sie?“ (82) Bezug genommen wurde dabei auf den Maidan-Putsch bei dem Präsident Viktor Janukowitsch unter Bruch der ukrainischen Verfassung – die erforderliche Mehrheit zur Absetzung des Präsidenten wurde nicht erreicht – gestürzt und von einer rechtsradikalen Meute außer Landes gejagt wurde. In Teilen des Donbass fand daraufhin im Mai 2014 ein Referendum über die Ausrufung der beiden Volksrepubliken statt, das aber von der Ukraine, der EU sowie den USA nicht anerkannt wurde: „Die Beteiligung an dem Referendum lag nach Aussagen der Zentralen Wahlkommission im Gebiet Donezk bei 71 Prozent und im Gebiet Lugansk (…) bei 80 Prozent.“ (142)

Die russische Führung hatte vergeblich für eine Verschiebung der Abstimmung plädiert, um Verhandlungen mit Kiew möglich zu machen. (140) Die Ergebnisse der Referenden wurde von Moskau lediglich respektiert. Die völkerrechtliche Anerkennung von Donezk und Lugansk als eigenständige Staaten durch Russland erfolgte erst acht Jahre später im Februar 2022, nachdem man dort keine Möglichkeit mehr für eine Umsetzung der Abkommen von Minsk und damit für eine Verhandlungslösung gesehen hatte. Nach Heyden waren die Separatisten alles andere als glücklich mit den über ihre Köpfe hinweg geschlossenen Vereinbarungen von Minsk zwischen Russland und der Ukraine: „Die Abkommen von Minsk nahmen den Aufständischen den Wind aus den Segeln. Denn Russland, das die Volksrepubliken propagandistisch und finanziell unterstützte, orientierte seit Minsk-2 auf die konsequente Umsetzung des Abkommens. Viele Freiwillige aus Russland, die im Donbass kämpften, kehrten in ihre Heimatorte zurück.“ (95)

Die Verantwortung für das Scheitern der Abkommen sieht der Autor bei der Führung in Kiew: „Folgt man der deutschen Medienberichterstattung, dann liegt die Schuld dafür, dass Minsk-2 nicht umgesetzt wurde, vor allem auf russischer Seite. Immer wieder wird – ohne Belege – behauptet, Russland verletze das Minsker Abkommen, weil es die Separatisten militärisch unterstütze und angeblich selbst mit Truppen im Donbass präsent sei. Dass die Ukraine das Abkommen von Minsk nicht einhält, dass sie Wahlen in den Volksrepubliken unter OSZE-Aufsicht nicht zulässt und das Kiew sogar eine Neufassung des Abkommens fordert, wird nur von Politikern der Partei DIE LINKE und der AfD angesprochen.“ (99)                  

Der Autor weist nicht nur die westlichen Behauptungen von der Anwesenheit russischer Truppen im Donbass zurück, er stellt auch heraus, dass es keine Beweise für militärisches Gerät der russischen Armee auf dem Boden des Donbass gebe. Ein Großteil der Waffen der Aufständischen stamme vielmehr aus erbeuteten Ausrüstungen der ukrainischen Armee. In seinem in Telepolis veröffentlichten Artikel vom 30. August 2014 schrieb Heyden: „Für eine offizielle Beteiligung der russischen Streitkräfte hat Kiew bisher keine Beweise vorgelegt. (…) Zudem wird in der Berichterstattung westlicher Medien häufig die Tatsache übergangen, dass die Aufständischen fast täglich Waffen der ukrainischen Seite erbeuteten.“ (203) Die Feldkommandanten der Freiwilligenbataillone stammten meist aus dem Donbass selbst oder kamen als Freiwillige aus Süd-Ossetien bzw. Abchasien, Gebiete die sich zuvor in Bürgerkriegen von Georgien losgesagt hatten.

Heyden geht auch auf Konflikte zwischen den Separatisten und der russischen Führung ein. Die hatte es immer wieder gegeben. Moskau ging es dabei vor allem darum, Hitzköpfe in der politischen und militärischen Führung der Separatisten abzukühlen, die nach den Erfolgen gegen die ukrainische Armee gleich bis Kiew weiterziehen wollten. Es ging Moskau aber auch darum, sozialrevolutionären Bestrebungen entgegenzutreten, die darauf zielten Kohleschächte und Stahlwerke auf Kosten der Oligarchen zu nationalisieren. So vermutet der Autor, dass hinter dem erzwungenen Rücktritt des beliebten Militärchefs von Donezk, Igor Strelkow, konservative Kreise in Moskau mit Verbindungen zu Oligarchen standen. (200)

Heyden berichtet über die Folgen des nicht endenden Beschusses von Städten und Dörfern in Lugansk und Donezk durch ukrainisches Militär, das seine Attacken vor der Weltöffentlichkeit als „antiterroristische Maßnahmen“ tarnte. In Interviews schildern die Menschen all ihr Leid, die Zerstörungen, den Tod und die Verletzungen so vieler Menschen, darunter auch viele Kinder. In Lugansk wurde den von der ukrainischen Armee getöteten Kindern sogar ein eigenes Denkmal errichtet. Es zeigt Kinder, die in den Himmel fliegen. Anschaulich gemacht wird dieses Leid durch Bilder von zerstörten Schulen, notdürftig eingerichteten Bunkern, zerbombten Häusern und ausgebrannten Wohnungen. Und auch in diesen Tagen hält der Beschuss der Separatistengebiete durch ukrainische Truppen an. So meldete die ARD-Tagesschau am 13. Juni 2022: „Bei einem ukrainischen Artillerie-Angriff auf einen Markt in der von pro-russischen Separatisten gehaltenen Region Donezk sind nach einem Bericht der dortigen Nachrichtenagentur mindestens drei Menschen getötet und vier weitere verletzt worden.“ Und wieder war ein Kind unter den Opfern.

Es muss erstaunen wie wenig Interesse und Empathie den Opfern dieses Bürgerkrieges in Deutschland in all den Jahren entgegengebracht wurde – im Unterschied zu den unzähligen Initiativen, die gegenwärtig ukrainischen Kriegsopfern Hilfe anbieten. Eine Ausnahme stellt das in Thüringen ansässige „Aktionsbündnis Zukunft Donbass“ dar, das über all die Jahre vor allem in Krankenhäusern dringend benötigtes Material lieferte. (70) Beschämend ist, dass die Partei DIE LINKE bis auf wenige Ausnahmen zu dem Bürgerkrieg schwieg. Zu diesen Ausnahmen zählen Andrej Hunko und Diether Dehm, die jeweils Vorworte zu dem Buch von Heyden schrieben. Zu nennen sind auch Wolfgang Gehrcke und Andreas Maurer, die ihre Partei immer wieder mahnten, den Konflikt im Donbass nicht zu vergessen.

Als Zusammenfassung von den seit 2014 veröffentlichten Reportagen, Interviews und Kommentaren kann das Buch keine geschlossene Analyse der Vorgänge liefern. Es ist eine Dokumentation von Augenzeugenberichten. Angefügt ist eine informative Chronologie der wichtigsten Daten der Geschichte der Ukraine zwischen 1917 und 2022. Das Buch ließe sich sehr viel leichter zu lesen, hätte der Autor darauf verzichtet, die Beiträge jeweils Kapiteln zuzuordnen, deren thematische Abgrenzung oft schwer nachvollziehbar ist. Eine strikt chronologische Abfolge hätte sich hier angeboten. Bei vielen Artikeln fehlen zudem Angaben, wann und wo diese erschienen sind. Auch finden sich in dem im Selbstverlag herausgegebenen Band zahlreiche Satzfehler. Für eine genaue Durchsicht fehlten offensichtlich die Mittel bzw. die Zeit.        

Das Buch ist eine unentbehrliche Quelle für alle, die sich darüber informieren wollen was im Donbass seit 2014 passiert ist. Ulrich Heyden hat die Eskalation des Bürgerkriegs vorausgesehen: „Seit dem Frühjahr 2021 hat sich der Konflikt im Donbass gefährlich zugespitzt. Die ukrainische Armee verstärkte die Beschießungen an der Kontaktlinie.“ (164) Man hätte daher wissen können, dass der große Krieg schon lange vor seinem Ausbruch in der Luft lag.

 

[1] Ulrich Heyden, Der längste Krieg in Europa seit 1945 – Augenzeugenberichte aus dem Donbass, Hamburg 2022, 338 Seiten. Druck und Distribution im Auftrag des Autors. Erschienen in der tredition GmbH,
Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, ISBN Hardcover 978-3-347-59285-8.
Preise: Gebunden 24,90 Euro, Taschenbuch 19,90 Euro, E-Book bei Kindle 7,99 Euro    


Die Rezension erschien am 20.06.2022 bei Telepolis

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