Nach SPD-Parteitag: Wie zu Gerhard Schröders Zeiten
Was Olaf Scholz als Kanzler und Lars Klingbeil als Parteivorsitzender für die SPD bedeuten
Die Wahl von Lars Klingbeil zum SPD-Vorsitzenden ist ein Signal: Die Sozialdemokraten sind wieder bei Gerhard Schröder zurück. Und mit Olaf Scholz als Kanzler ist garantiert, dass sich daran in absehbarer Zeit nichts ändert. Dass mit Saskia Esken als weitere Vorsitzende und Kevin Kühnert als Generalsekretär auch zwei Vertreter der Parteilinken gewählt wurden, spielt dabei keine Rolle. Esken ist seit ihrer Wahl als Parteivorsitzende vor zwei Jahren ohne Einfluss geblieben, und Kühnert hat bereits mehrfach seine Wendigkeit unter Beweis gestellt - auch jetzt wird er mit der Mehrheit gehen. Die rechtssozialdemokratische Welt ist wieder in Ordnung. Die Riege, die mit und unter Gerhard Schröder in der SPD groß wurde, besetzt heute alle Schlüsselfunktionen in der Partei.
Vor zwei Jahren sah es noch ganz anders aus. Als Ende November 2019 im Willy-Brandt-Haus das Ergebnis der Mitgliederabstimmung über den Vorsitz bekanntgegeben wurde, setzte kaum noch jemand auf Scholz: „Auf das Duo Saskia Esken/Norbert Walter-Borjans war 53,1 Prozent der Stimmen entfallen. Das favorisierte Team Klara Geywitz/Olaf Scholz erhielt hingegen nur 45,3 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 54 Prozent. Insgesamt waren 216.721 gültige Stimmen abgegeben worden.“ [1]
Die Entscheidung stand am Ende einer monatelangen Kandidatenkür auf 23 Vorstellungsrunden quer durchs Land, an der sieben Teams teilnahmen. Im ersten Wahlgang hatten Esken/Walter-Borjans noch hinter Geywitz und Scholz gelegen. Im zweiten Durchgang, in dem nur noch die beiden erfolgreichsten Teams antreten konnten, siegten sie klar. Rund 85 Prozent der SPD-Mitglieder lehnten Scholz als Parteivorsitzenden ab.
In einer Analyse schrieb ich damals: „Das alte Partei-Establishment war abgewählt worden. Die mehr als 110.000 Parteimitglieder, die sich für Esken/Walter-Borjans entschieden hatten, dürften allerdings in ihrer Mehrheit nicht für die beiden weitgehend unbekannten Politiker, sondern gegen Olaf Scholz als den Vertreter des alten, noch aus der Zeit Gerhard Schröders stammenden SPD-Machtzentrums gestimmt haben. Verloren hatten jene, die von einer Abkehr von Hartz IV und einer Rot-Rot-Grünen-Zusammenarbeit bis heute nichts wissen wollen. Ihnen sprach die Mitgliedschaft der Partei das Misstrauen aus.“ [2]
Die Entscheidung für Esken und für Walter-Borjans war Ausdruck der in der Parteibasis weit verbreiteten Forderung, wonach die SPD einen selbstbewussteren und eigenständigeren Kurs einschlagen solle. Den beiden überraschend Gewählten stand nun dafür der Weg offen. Sie hätten das Votum der Mitglieder nutzen können, um ein Nein zur Fortsetzung der großen Koalition zu erzwingen. Zumindest hätten sie den offenen Konflikt mit dem alten Machtzentrum darüber wagen müssen. Diese Chance hatten sie aber bereits auf dem Wahlparteitag am 6. Dezember 2019 vertan.
In dem dort mit großer Mehrheit angenommenen Beschluss „Aufbruch in die neue Zeit“ hieß es: „Weder der Verbleib in einer Koalition noch der Austritt sind ein Selbstzweck. (…) Entscheidend ist, dass wir jetzt die uns wichtigen, noch offenen Punkte aus dem Koalitionsvertrag zügig umsetzen und mit CDU und CSU die Weichen für eine gute und gerechte Zukunft unseres Landes und Europas richtig stellen.“ [3]
Damit war klar: Die SPD sollte bis zur Bundestagswahl im Herbst 2021 Teil der Regierung bleiben. Und so kam es denn auch. Mein Resümee direkt nach dem Parteitag: „Da war also über Wochen über das bevorstehende Ende der Schwarz-Roten-Bundesregierung spekuliert worden, sollte das von den Jungsozialisten unterstützte Team Esken/Walter-Borjans als Sieger vom Platz gehen. Da hatten Jusos bereits frohgemut skandiert: Nikolaus ist GroKo aus! Und nun das. Es dürfte in den letzten Jahren kaum eine ähnlich schnelle Selbstdemontage von Politikern gegeben haben wie die von Esken und Walter-Borjans in den Tagen nach Bekanntgabe des Ausgangs der Mitgliederbefragung und ihrer Wahl auf dem Parteitag eine Woche später.“ [4]
Entscheidung über die Kanzlerkandidatur im Hinterzimmer
Die beiden Parteivorsitzenden hatten auch danach nicht den Anspruch, die SPD inhaltlich wie personell auf ein neues Gleis stellen zu wollen. Das galt ebenso für ihren Mentor Kevin Kühnert, der sich blitzschnell aus einem aktiven Gegner der großen Koalition zu ihrem Befürworter wandelte.
So kam es, dass die unterlegene Parteirechte wieder die Initiative übernehmen konnte. Die Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz wurde im August 2020 - ohne die Einbeziehung von Kühnert - im kleinsten Kreis beschlossen. Einer Handvoll von Spitzenpolitikern war es also in einer Hinterzimmerabsprache gelungen, das nicht einmal ein Jahr zurückliegende Votum der Mitgliedschaft gegen Scholz in das Gegenteil zu verkehren.
Die mit so viel Hoffnung ins Amt gekommene neue Parteiführung hatte hingegen nicht einmal den Versuch gemacht, einen eigenen Vorschlag für die Kanzlerschaft zu unterbreiten. Geeignete Spitzenkandidaten, vor allem aber Spitzenkandidatinnen hätte es aber durchaus gegeben. Und mit dem Abgang von Angela Merkel als Bundeskanzlerin sowie der Nominierung eines solch schwachen Kandidaten der CDU/CSU wie Armin Laschet lag für die SPD die Macht auf der Straße. Das galt erst recht, nachdem sich die anfänglich hohen Umfragewerte für die Grünen als Luftnummer erwiesen hatten und deren Spitzenkandidatin von einem Fehltritt zum nächsten stolperte.
Es ist daher eine von rechten Sozialdemokraten verbreitete Mär, dass der Erfolg der SPD bei den Bundestagswahlen am 26. September nur mit dem Kandidaten Olaf Scholz möglich war. Mit einer attraktiven, offensiv auftretenden und klar sozialdemokratische Ziele propagierenden Kandidatur wäre deutlich mehr drin gewesen als die unter Scholz erreichten mageren 25,7 Prozent. Das war übrigens exakt das schlechte Ergebnis, das die SPD 2013 mit ihrem Kandidaten Peer Steinbrück bekommen hatte und das zu Recht als desaströs angesehen wurde. Die jetzt erneut erzielten 25,7 Prozent erscheinen lediglich vor dem Hintergrund des Absturzes bei den Wahlen von 2017 auf 20,5 Prozent als Erfolg.
Der Hoffnungsträger Lars Klingbeil
Mit Schrecken erinnert sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), oft als Zentralorgan der deutschen Kapitalistenklasse bezeichnet, an diese Zeit: „Als Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans am Nikolaustag vor zwei Jahren zu Parteivorsitzenden der SPD gewählt wurden, da war das Entsetzen unter den pragmatisch orientierten Sozialdemokraten groß. Die letzte schwache Hoffnung, dass es doch nicht so schlimm werde mit einem Linkskurs in der Partei, wurde verknüpft mit Lars Klingbeil. Der Mann aus Niedersachsen war zwei Jahre zuvor vom damaligen Parteivorsitzenden Martin Schulz zum Generalsekretär der Partei befördert worden. Nun galt er als der letzte Vertreter einer SPD-Riege, für die Namen wie Schröder, Müntefering, Steinmeier, Gabriel oder eben Schulz standen.“ [5]
Die FAZ weiß auch zu berichten, weshalb Klingbeil so hervorragend als Parteivorsitzender geeignet ist: Er „bringt für diese Rolle gute Voraussetzungen mit. Er gehört zur pragmatisch orientierten niedersächsischen SPD. Dass er nach dem Studium im Wahlkreisbüro von Gerhard Schröder arbeitete, war kein Zufall. Zugleich ist er jung genug, um nicht als reiner Vertreter der alten Schröder-Gabriel-SPD zu gelten. Er ist zwar Mitglied im konservativen Seeheimer Kreis der SPD-Fraktion, gehörte aber nach seinem Einzug in den Bundestag 2009 für einige Jahre der Parlamentarischen Linken an. Er wuchs in der Familie eines Bundeswehrsoldaten auf, hat aber selbst Zivildienst geleistet – seinen Frieden mit der Bundeswehr und der Notwendigkeit militärischen Handelns machte er nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. In seiner Jugend war Klingbeil in der Antifa aktiv.“ [6]
Die FAZ weiß aber noch mehr Positives über ihn zu berichten: Er ist „wohl der Einzige in der Führungsspitze, der bei laufendem Band positiv über den früheren Kanzler Gerhard Schröder spricht. Gegen dessen Politik hatte der Niedersachse Klingbeil einst demonstriert, dann arbeitete er für ihn. Schon damals zeigte sich Klingbeils erstaunliche Anpassungsfähigkeit. Ist das Beliebigkeit? Wohl eher die notwendige Flexibilität, die es braucht, um weit oben in der Politik zu überleben.“ Erwartet wird jetzt von ihm auch, dass er die Parteilinke ruhigstellt: „Er wird Esken die Freiräume an der Parteispitze geben, die sie braucht, damit die Basis, die Esken noch immer als ihre Vertreterin ansieht, weitgehend zufrieden ist.“ [7]
Für bewaffnete Drohnen und nukleare Teilhabe
Klingbeil, der geläuterte Sohn eines Soldaten, dessen Wahlkreis den bedeutenden Bundeswehrstandort Munster umfasst und der auch immer wieder als möglicher Verteidigungsminister genannt wurde, dürfte bei den Koalitionsverhandlungen entscheidend dafür gesorgt haben, dass der bisherige Vorbehalt der SPD gegenüber bewaffneten Drohnen unter den Tisch fiel: Bewaffneten Drohnen „können zum Schutz der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz beitragen“ heißt es in jetzt der Koalitionsvereinbarung. [8] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf
Auch in der Frage der „nuklearen Teilhabe“, das heißt der deutschen Teilnahme an einem möglichen Einsatz von US-amerikanischen Atomwaffen von deutschem Boden aus, wurden frühere Bedenken der SPD nun in den Koalitionsgesprächen abgeräumt. In der Vereinbarung heißt es: „Wir werden zu Beginn der 20. Legislaturperiode ein Nachfolgesystem für das Kampfflugzeug Tornado beschaffen. Den Beschaffungs- und Zertifizierungsprozess mit Blick auf die nukleare Teilhabe Deutschlands werden wir sachlich und gewissenhaft begleiten.“ [9]
Die FAZ freute sich denn auch sogleich über die „zwei Stellen, an denen die SPD scharf umgesteuert hat: die Beschaffung von bewaffneten Drohnen und das Festhalten an der nuklearen Teilhabe, inklusive des Kaufs neuer Jagdbomber.“ [10] Der in den letzten Jahren unternommene Versuch des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich in den Fragen der bewaffneten Drohnen sowie der nuklearen Teilhabe Deutschlands eigene, abweichende Akzente einer sozialdemokratischen Verteidigungspolitik zu setzen, gehören damit der Vergangenheit an.
Aufgabe weiterer sozialdemokratischer Positionen in den Koalitionsvereinbarungen
Der Kapitulation in der Sicherheitspolitik entsprach die Hingabe weiterer zentraler Forderungen mit denen die SPD in den Wahlkampf gezogen war. So wird es keine Einkommensteuerreform geben, die die unteren Schichten entlastet - von der Einführung einer Vermögenssteuer ganz zu schweigen. Der Mietendeckel wird nicht verstärkt, und von der geforderten Eingliederung der privaten Krankenversicherung in eine Bürgerversicherung ist keine Rede mehr. Auch die Schuldenbremse soll wieder in Kraft gesetzt werden, sobald die Corona-Pandemie überwunden ist. Die Hartz IV-Regelungen werden lediglich angepasst und die Grundsicherung das schöne Wort „Bürgergeld“ erhalten. Die Ampelkoalition geht dabei, wie zuvor schon die große Koalition, sowohl vom Prinzip des "aktivierenden Sozialstaates" als auch von der falschen Ursachenanalyse aus, dass Arbeitslosigkeit von den Betroffenen selbst verschuldet wird. Auf eine konkrete Erhöhung des heute bei lächerlich geringen 446 Euro Hartz-IV-Satzes legt sich die „Fortschrittskoalition“. Kritiker wie Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, werfen den Ampel-Parteien daher einen „Etikettenschwindel“ vor, weil die Reform außer einem neuen Namen kaum substanzielle Verbesserungen für Arbeitslose bringe. Viel Lob erhielt hingegen die „Bürgerversicherung“ von der Kapitalpartei FDP. Allein die Heraufsetzung des Mindestlohns auf 12 Euro kann als einer der wenigen Erfolge der SPD bei den Koalitionsverhandlungen gewertet werden.
Für all diese uneingelösten SPD-Wahlkampfversprechen wird die Stärke der FDP in den Koalitionsverhandlungen verantwortlich gemacht. Das ist aber allenfalls die halbe Wahrheit. Tatsächlich eignen sich die Liberalen für Kanzler Scholz auch ideal dafür, sich hinter ihnen verstecken zu können. So kann er verdecken, dass er, der als Generalsekretär Schröders - des "Genossen der Bosse" -, in der Partei aufstieg, heute alles unternimmt, um sich ja nicht mit den Wirtschaftsinteressen der Herrschenden in diesem Lande anlegen zu müssen.
Scholz und mit ihm die gesamte Riege der Parteirechten sind denn auch in Wirklichkeit froh darüber, dass die Partei DIE LINKE so schlecht bei den Bundestagswahlen abschnitt, so dass es selbst für eine rechnerische Mehrheit nicht gereicht hätte. Das ersparte ihm zu begründen, warum für ihn eine solche Zusammenarbeit tatsächlich niemals in Frage gekommen wäre. Das sieht die FAZ ganz richtig: „Schwer auszudenken, was Scholz geblüht hätte, wäre eine Links-Koalition rechnerisch möglich gewesen. Das Wahlergebnis war ein Segen für Scholz. Und die Union hatte ihm mit ihrer Last-Minute-Kampagne gegen die Linke dabei noch geholfen.“ [11]
Eine marginalisierte Parteilinke
Eine traurige Rolle in der Rückwende der SPD spielt die verbliebene, längst marginalisierte Parteilinke. Die langjährige Vorsitzende der Demokratischen Linken - D 21 hatte 2019 und Kritikerin der Nominierung von Scholz, Hilde Mattheis hatte es auf dem Parteitag 2019 nicht einmal mehr als Beisitzerin in den Parteivorstand geschafft.
Uwe Kremer, einer der Herausgeber der linksozialdemokratischen Zeitschrift Sozialistische Politik und Wirtschaft (spw) sah in der Nominierung von Olaf Scholz sogar "die Chance eines gemeinsamen Lernprozesses, da es schließlich für alle Beteiligten um reformpolitisches Neuland geht.“ [12]
Selbst die einst so radikalen Jusos sind längst zahm geworden. Über ihren Bundeskongress vom 26. bis 28. November 2021 konnte die FAZ vermelden: „Die Mitglieder folgen mehrheitlich ihrem Kurs (der SPD, A.W.), dürfen rhetorisch aber ein bisschen Dampf ablassen. Das Ampel-Bündnis infrage gestellt hat aber niemand an diesem Wochenende. Es wird grundsätzlich als Chance gesehen, nicht mehr mit der Union regieren zu müssen. Es gab noch nicht einmal die Forderung, dass alle Mitglieder über den Koalitionsvertrag abstimmen sollen.“[13]
[1] Andreas Wehr, Der Gewinner ist der Verlierer - Die Nominierung von Olaf Scholz zeigt, dass die Linkswende der SPD eine Schimäre ist vom 20.08.2020
[2] Ebenda
[3] SPD-Parteitag 6.-8. Dezember 2019, Beschluss Nr.1, „Aufbruch in eine neue Zeit“, S. 17
[4] Andreas Wehr, Viel Lärm um Nichts. Die SPD nach ihrem Bundesparteitag, 08.12.2019
[5] Ein ungleiches Duo für die SPD. Die Parteilinke Saskia Esken und der Pragmatiker Lars Klingbeil treten als Doppelspitze an – das hilft Olaf Scholz, in: FAZ vom 09.11.2021
[6] Ebenda
[7] Machtmaschine SPD, in: FAZ vom 09.11.2021
[8] Vgl. die Koalitionsvereinbarung von SPD, Grünen und FDP „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“, S. 149
[9] Ebenda
[10] Späte Einsicht in: FAZ vom 26.11.2021
[11] Der Herr der Dinge, in: FAZ 06.12.2021
[12] Uwe Kremer, Kurzum, in: spw 4 /2020 (Heft 239) S. 4
[13] Der Rebell lebt noch, in: FAZ vom 29.11.2021
Der Artikel erschien am 12.12.2021 auf Telepolis
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