Die Schimäre Kommunismus (1)

Die Defizite, die schließlich zum Untergang der Gesellschaften des realen Sozialismus führten, sind vor allem in ihrem theoretischen und ideologischen Selbstverständnis zu suchen: „Was fehlte, war das (absolut notwendige) radikale Überdenken der Theorie des Sozialismus und des Kommunismus, der post-kapitalistischen Gesellschaft insgesamt,“ [2] schrieb Losurdo in einem Artikel aus dem Jahr 1994, also nur kurze Zeit nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Europa. Die ungelösten ideologischen Probleme betrafen sowohl die Frage der Menschrechte als auch das Verhältnis von formeller und substanzieller Freiheit. Unklar blieb auch die Bedeutung des Staates, der doch nach der Marxschen Lehre im Sozialismus bzw. Kommunismus „absterben“ sollte.

Stattdessen hielt man stur an einer schematischen Aufteilung der Geschichte der postkapitalistischen Gesellschaften fest. Entsprechend der Aussage von Karl Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms sollte im Anschluss an die revolutionäre Umwälzung der Produktionsverhältnisse eine „kommunistische Gesellschaft“ entstehen, allerdings „nicht wie sie sich auf ihrer eigenen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den alten Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt.“ [3] Marx unterschied „diese erste Phase der kommunistischen Gesellschaft“ von einer ihr folgenden „höheren Phase“. In diese höhere, bald auf die erste folgend, sollte die Gesellschaft eintreten, „nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden, nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Eigentums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ [4]

In der Praxis hatte sich für die Beschreibung der „niederen Phase des Kommunismus“ bald der Begriff Sozialismus etabliert. Dementsprechend erklärte Lenin in einer seiner ersten Ansprachen nach der Übernahme der Macht durch die Bolschewiki im Oktober 1917, dass man nun daran gehe den Sozialismus aufzubauen. Aber bereits zwei Jahre später beurteilte er in einem am 7. November 1919 in der Prawda erschienenen Artikel die Lage sehr viel nüchterner. Nun hob er hervor, dass der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus „unbedingt Merkmale oder Eigenschaften dieser beiden sozial-ökonomischen Formationen in sich vereinen muss“ und eine „ganze historische Epoche“ umfassen werde. [5]

Interessant zu sehen ist, welchen Bedeutungswandel die Begriffe Sozialismus bzw. Kommunismus in der DDR und in der Sowjetunion durchliefen: Auf der zweiten Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) im Juli 1952 verkündete Walter Ulbricht den Beschluss des Politbüros, dass „der Sozialismus planmäßig aufgebaut“ werden solle. [6] Es blieb aber unklar wie lange diese „niedere Phase des Kommunismus“ d.h. die Phase des Sozialismus andauern sollte und wann und unter welchen Umständen darauf die „höhere Phase“, der eigentliche Kommunismus, folgen werde.

Die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) entschied auf ihrem 22. Parteitag im Oktober 1961 hingegen, dass es nun bald genug sei mit dem Sozialismus und man bis zum Jahr 1980 „die materiell-technische Basis des Kommunismus“ errichten wolle und dann „in der UdSSR die kommunistische Gesellschaft im Wesentlichen aufgebaut“ sein werde. Wörtlich: „Dann wird die UdSSR über beispiellos mächtige Produktivkräfte verfügen und in Bezug auf die Pro-Kopf-Produktion an die erste Stelle der Welt vorrücken.“ [7] Bekanntlich wurde daraus nichts. Weder war der Kommunismus 1980 „im Wesentlichen aufgebaut“, noch war die Sowjetunion in der Pro-Kopf-Produktion an die erste Stelle der Welt vorgerückt. Diese illusionäre Zielsetzung zeigte, dass die führenden Politiker der UdSSR keine realistische Vorstellung mehr davon hatten, in welcher Lage sich das Land befand. Dieses utopische Versprechen war daher mit dafür verantwortlich, dass die herrschende Staatsdoktrin des Marxismus-Leninismus erheblich an Glaubwürdigkeit verlor. Die eigentlichen Leistungen und Errungenschaften der Sowjetunion wurden von dieser voluntaristischen Phrase verdeckt.          

Die Einschätzung der SED unterschied sich von jener der KPdSU. 1967 sprach Walter Ulbricht auf einer Veranstaltung zum 100. Jahrestag des Erscheinens des Marxschen Kapital davon, dass der Sozialismus nicht mehr – wie bei Marx oder Lenin – eine kurze Übergangsphase zum Kommunismus, zur 'klassenlosen Gesellschaft', sondern „eine relativ selbständige sozialökonomische Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab“ [8] sei.  Keine Rede also mehr von einem schnellen Übergang zum Kommunismus. Ulbricht zeigte mit dieser neuen Etappenbestimmung mehr Realismus als seine Genossen in Moskau. Wenig später begann man in der DDR damit, das Adjektiv „realer“ vor Sozialismus zu setzen, um so noch deutlicher zu machen, dass es noch lange hin sein werde bis die „Aufhebung der Teilung der Arbeit“ und die „allseitige Entwicklung der Individuen“ im Kommunismus Realität sein werde. Aber auch diese Relativierung des erreichten Entwicklungsstands half nicht im Alltag der Gesellschaft des nun realen Sozialismus. Immer häufiger wurde gefragt: Der in vielen Bereichen des täglichen Lebens herrschende Mangel und die zu Recht als Willkürherrschaft empfundenen Defizite an demokratischer Mitsprache – sollte das der Sozialismus sein?      

Für Domenico Losurdo stand daher fest: „Je mehr die Erreichung des Kommunismus in eine ferne und unwahrscheinliche Zukunft entrückte, desto klarer wurde es, dass dem 'realen Sozialismus' jede mögliche Legitimation fehlte. Als die der Philosophie der Geschichte wegfiel, die auf das Entstehen einer völlig im Einklang lebenden Gesellschaft Bezug nahm, konnte eine Nomenklatura, die nach und nach immer autokratischer und korrupter wurde, gewiss nicht die nunmehr universale Legitimation unserer Zeit erhalten, eine Legitimation, die auf Demokratie und Volksouveränität beruht. (…) Wenn es in Osteuropa einen Kollaps gegeben hat, dann ist er viel eher ideologischer als wirtschaftlicher Art.“ [9]

In seinem Buch Der westliche Marxismus – Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte wies Losurdo darauf hin, dass Marx und Engels „zwei unterschiedliche Definitionen von 'Kommunismus' vorgelegt“ haben: „Die erste verweist auf die ferne Zukunft

(manchmal gar als utopische aufgefasst) einer Gesellschaft, die die Spaltung und den Antagonismus der Klassen und die 'Vorgeschichte' als solche hinter sich gelassen hat. Ganz anders sind die Vision und die Zeitlichkeit, die aus einigen Zeilen der Deutschen Ideologie hervorgehen: 'Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt' (MEW 3, S. 35). Oder aus dem Schluss des Manifests: 'Die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände' (MEW 4, S. 493). [10]

Die erste Definition rechnet Losurdo dem westlichen Kommunismus zu, der einer Atmosphäre des „Messianismus“ verhaftet ist, der „in der jüdisch-christlichen Tradition wurzelt und seinerzeit durch das Erschrecken über das Gemetzel des Ersten Weltkriegs entstand (…)“. Er führt „zu einer Konzentration vor allem auf die ferne und die utopische Zukunft“. [11] In diesem Sinne wird der Kommunismus zu einer Schimäre. Im Gegensatz dazu orientiert sich der östliche Marxismus – etwa Chinas und Vietnams - sehr viel stärker an der „wirklichen Bewegung“ im Sinne der Deutschen Ideologie. Im Unterschied zu den utopischen Voraussagen von einem baldigen Erreichen des Ziels Kommunismus, vermeidet daher das heutige China solche Festlegungen. Die Kommunisten dort begnügen sich mit der Feststellung, dass ihr Land inzwischen für die Menschen einen „bescheidenen Wohlstand“ erreicht habe. Das Ziel Sozialismus will man erst 2049 zum 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik erreichen.

         

[1] Dieser Beitrag ist der vierte Teil eines Projekts, in dem die Zusammenhänge der Gedanken Domenico Losurdos dargestellt werden. Der erste Teil hatte seine Sicht auf China zum Thema und erschien am 8. Februar 2023 auf dieser Seite unter der Überschrift „China – eine Macht, die die Machtverhältnisse grundlegend verändert“. Der zweite Teil behandelte die Gründe für die Niederlage des europäischen Sozialismus. Er wurde am 13. März 2023 auf dieser Seite unter der Überschrift „Scheitern oder Niederlage?“ veröffentlicht. Der dritte erschien als „Niederlage im kalten Krieg – spontaner Kollaps oder Verrat?"  am 19. April 2023

[2] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration? in: Topos – Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Heft 3, Bonn 1994, S. 80

[3] Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in:  Marx-Engels Werke (MEW), Band 19, Berlin 1982, S. 20

[4] Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, a.a.O., S. 21

[5] W.I. Lenin, Ökonomik und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats, in: Lenin-Werke (LW), Berlin 1961, Band 31, S. 91

[6] Protokoll der Verhandlungen der 2. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1952, S. 58

[7] Programm und Statut der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, angenommen auf dem 22. Parteitag der KPdSU 1961 22. Parteitag der KPdSU, Berlin 1961

[8] Walter Ulbricht, Die Bedeutung und die Lebenskraft der Lehre von Karl Marx für unsere Zeit, Berlin 1968, S. 39

[9] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration? a.a.O., S. 80 f.

[10] Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus – Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte, Köln 2021, S. 247

[11] Ebenda

Zurück

Mein Newsletter

Abonnieren Sie den Newsletter von Andreas Wehr. Der Newsletter informiert unregelmäßig (10 bis 12 mal im Jahr) über Publikationen, Meinungen und Bucherscheinungen und wird über den Newsletter-Anbieter Rapidmail versendet.