Zum Gedenken an Kurt Neumann

Kurt Neumann liebte die Menschen. Er wollte mithelfen, für sie eine bessere Welt zu erschaffen. Es sollte eine Welt ohne Kriege sein. Er, der nur wenige Wochen nach der Befreiung in Sachsen geboren worden war, erlebte in seiner Kindheit die Folgen dieses Infernos. Kurt Neumann wollte eine Welt ohne Diskriminierung und Ausbeutung. Dies waren die großen Ziele seit seiner Jugend, deshalb wurde er politisch, deshalb wurde er Sozialist.

Als junger Student der Rechtswissenschaft schloss er sich an der Freien Universität dem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) an. Er ging damit nicht – wie so viele andere – den Weg zum vermeintlich radikaleren Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) unter Rudi Dutschke. Anders als der SDS wollte er nicht einer „neuen Linken“ angehören, die sich an der Frankfurter Schule, an Adorno, Horkheimer, Mitscherlich und Marcuse orientierte. Denn er glaubte nicht daran, dass man eine bessere Welt allein durch eine kritische Geisteshaltung, etwa durch Konsumkritik, erreichen könne.

Kurt Neumann rechnete sich vielmehr der „alten Linken“ zu – jener Linken, die sich der Arbeiterbewegung verbunden fühlte. Seine Vorbilder waren Wolfgang Abendroth und Gewerkschaftsführer wie Willi Bleicher – Genossinnen und Genossen, die bereits in der Weimarer Republik gekämpft hatten, im Faschismus Zuchthaus und Lager durchlitten, und die auch in der Restauration der fünfziger Jahre nicht aufgaben. In seinem Anwaltsbüro hing deshalb ein Porträt von August Bebel. Er verehrte ihn sehr.

1966 trat er als 21-jähriger der SPD bei. Und fast wäre er– wie er später immer wieder erzählte - gleich wieder ausgetreten, denn er war alles andere als einverstanden mit dem Gang der SPD in die große Koalition mit der CDU/CSU. Er blieb, denn ihm war klar, dass nicht eine Studentenbewegung die Welt grundlegend verändern könne, sondern es dazu einer Bewegung bedarf, die unter der Masse der Entrechteten und Lohnabhängigen verankert ist. Ihm war auch klar, dass es nichts bringt, nur einfach nach der Revolution zu rufen. Notwendig ist es vielmehr, an die gegebenen Verhältnisse anzuknüpfen. Das Grundgesetz als Klassenkompromiss ist dabei ernst zu nehmen. Zu nutzen sind die Möglichkeiten, die es bietet, um eine andere Wirtschaftsordnung möglich zu machen, um schließlich die Macht der Monopolunternehmen zu brechen.

Diese Überzeugungen hatte er früh für sich gewonnen, sie sollten sein ganzes politisches Leben prägen.

Kurt half mit, dass sich die Jungsozialisten 1969 nach links bewegten. Um der neuen Mehrheit dort eine Orientierung zu geben, formulierten er und andere den Berliner Strategiebeschluss. Bei der Annahme des Papiers am 5. Dezember 1971 bin ich ihm übrigens zum ersten Mal begegnet, das war vor fast genau 50 Jahren. Von diesem Tag an waren wir befreundet.

Aus dem Strategiebeschluss und einem vergleichbaren aus Hamburg entstanden Ende der achtziger Jahre die „Herforder Thesen – Zur Arbeit von Marxisten in der SPD“. Auch dabei spielte Kurt Neumann eine führende Rolle – neben Detlef Albers, Kurt Wand und Heinrich Lienker. Die Herforder Thesen erschienen in einer Gesamtauflage von nicht weniger als 10.000 Exemplaren und waren für Jahre das Schulungspapier des marxistischen Flügels bei den Jungsozialisten und in der SPD. Und noch heute lohnt ein Blick in diese Thesen. Denn wie soll die gegenwärtig so oft beschworene „ökosoziale Wende“ überhaupt gelingen, wenn man dafür nicht die Herrschaft der Monopolunternehmen zumindest einschränkt? Freiwillig werden sie jedenfalls nichts hergeben.

Und glaubt wirklich jemand, dass er auch die Macht im Staat hat, wenn er die Regierung anführt?

Die „Herforder“ organisierten sich bundesweit im Hannoveraner Kreis. Unzählige Jungsozialisten sind über die Jahre hinweg durch diese Schule gegangen. Noch heute lese immer wieder Namen von Oberbürgermeistern, Landtags,- Bundestags- und Europaabgeordneten, führenden Gewerkschaftern und Wissenschaftlern, die sich auch in den Anwesenheitslisten des Hannoveraner Kreises finden. Darunter ist auch der Name des wohl künftigen Kanzlers dieses Landes. Er gehörte als Hamburger Juso-Vorsitzender sogar zum engsten Kreis der Marxisten in der SPD.

Sie alle haben von der theoretischen Festigkeit, politischen Klarheit und dem strategischen Talent Kurt Neumanns profitiert.

1977 organisierte Kurt die Kandidatur seines Freundes Klaus-Uwe Benneter zum Juso-Bundesvorsitzenden. Nach Benneters Ausschluss aus der SPD war es vor allem er, der Gerhard Schröder drängte, als Nachfolger von Benneter zum Bundesvorsitz zu kandidieren. Ich selbst war bei diesem Gespräch in Hannover dabei. Womöglich wäre die Geschichte der SPD und die der Bundesrepublik anders verlaufen, wäre seinerzeit Schröder nicht davon überzeugt worden. Übrigens dankte uns Schröder das nie. Er fand bald andere, mächtigere Freunde. Klaus-Peter Wolf war, als einer seiner Stellvertreter, einer der Leidtragenden dieser Wende.

Kurt Neumann engagierte sich nun auch immer stärker in der SPD. Legendär wurden die Kämpfe um den Vorsitz der Abteilung 2 in Steglitz. Er setzte sich dabei als Vorsitzender durch, wurde Mitglied des Kreisvorstandes Steglitz und bald auch des Vorstandes der Berliner SPD. Auf Landesparteitagen führte er als Chef der Antragskommission die Delegierten mit Hilfe seines ganzen juristischen Könnens gekonnt und elegant durch schwierigste Beratungen.  

Als Vertreter für den Bezirk Steglitz war er in den achtziger Jahren für zwei Legislaturperioden Mitglied des Abgeordnetenhauses. Dort engagierte er sich im Frauenausschuss. Er hatte eben ein sehr feines Gespür für jegliche Diskriminierungen! Auch setzte er sich früh für die Quotierung der Funktionen zwischen Frauen und Männer ein.

Als die SPD beschloss, das Godesberger Programm von 1959 durch ein neues zu ersetzen, sah Kurt die Chance gekommen, die Partei programmatisch auf antikapitalistische Positionen festzulegen. Für den Berliner Landesverband wurde er Mitglied der Programmkommission. Zusammen mit Detlef Albers und Heinrich Lienker gelang es ihm, die Forderung nach Investitionslenkung in das Programm zu schreiben. Das bedeutete nichts anderes als dass die SPD die private Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel zur Disposition stellte. Bei der Verabschiedung des Programms auf dem Berliner Bundesparteitag im Dezember 1989 erstattete Kurt für die Kommission Bericht. Dies sollte der Höhepunkt seines Einflusses in der Partei sein. Übrigens: Die antikapitalistischen Forderungen fehlten dann in dem überarbeiteten Programm, das 2007 in Hamburg beschlossen wurde.

1994 kandidierte Kurt als Direktkandidat des Wahlkreises Kreuzberg/Schöneberg für den Bundestag. Dank eines enormen Einsatzes konnte das Mandat knapp gewonnen werden. Der Triumph am Wahlabend, am 16. Oktober 1994, sollte aber nur kurz sein. Denn kaum war das Ergebnis bekannt, wurde von erheblichen Unregelmäßigkeiten in seiner Tätigkeit als Anwalt berichtet. Die Rede war von Steuerhinterziehung, Veruntreuung von Mandantengeldern und nicht gezahlten Geldbußen. Kurt gab dazu keine Erklärung ab, sondern verschwand aus der Öffentlichkeit und ließ eine ratlose Partei zurück. Er war fest davon überzeugt, dass sich alles aufklären ließe, gäbe man ihm nur die dafür nötige Zeit.

Doch die von den Medien getriebene Partei gab ihm diese Zeit nicht. Er wurde ausgeschlossen - erst aus der Fraktion, dann aus der Partei – nach 30 Jahren Mitgliedschaft! Natürlich wurden dabei auch politische Rechnungen beglichen. Am lautesten forderte übrigens die Frau, die direkt nach ihm auf der Landesliste stand und daher als Nachrückerin zum Zuge gekommen wäre, Kurt zum Verzicht auf das Mandat auf. Da Kurt nicht verzichtete, verließ sie die SPD und wechselte zur CDU - heute ist sie bei der AfD. Es kam aber auch zum Bruch mit guten Freunden, die ihm sein damaliges Verhalten nie verzeihen sollten.

Ulrike und seine Schwester Gisela standen in diesen Tagen fest zu ihm. Auch Diether Dehm half viel.

Jahre später sollte Kurt selbstkritisch über sein Verhalten urteilen. „Ich habe mich selbst verbrannt“, sagte er.

Wie auch immer man zu diesen deprimierenden Vorgängen heute steht, sollte man doch drei Dinge nicht übersehen:

Erstens: Wenn so furchtbar viel in seiner Anwaltspraxis liegen blieb, wenn so manche Steuerklärung nicht abgegeben wurde, so geschah dies regelmäßig, weil er stattdessen für die Partei arbeitete. Etwas sehr Zeitaufwändiges kam damals hinzu. Er gehörte zu den wenigen Anwälten, die sich intensiv um die vielen Opfer der Gauck-Behörde kümmerten und sie vor dem schlimmsten bewahrten. Wenn es wieder einmal galt, jemanden aus deren Fänge zu befreien, ließ er wortwörtlich alles stehen und liegen. Ich kenne einige, die ihm ihre bürgerliche Existenz verdanken.

Zweitens: Durch keine der Verfehlungen hat sich Kurt Neumann jemals bereichert. Im Gegenteil: Er ist durch sie verarmt. Allein die horrenden, geschätzten Steuerzahlungen für nie getätigte Umsätze gingen in die Zehntausende Euro und haben ihn über Jahre belastet. Das Finanzamt hat am Ende gut an ihm verdient.

Drittens: Auch andere Politiker haben in ihrem Beruf gefehlt. Nicht wenige davon bereicherten sich dabei. Wenn ihnen überhaupt etwas passierte, so waren sie meist nach einer kurzen Schamfrist wieder in der Politik zurück. Gegenüber Kurt gab es aber keine Nachsicht.

Ist es nicht endlich an der Zeit zu fordern: Gerechtigkeit für Kurt Neumann?

Nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag näherte er sich der PDS an. Er machte dabei eine Erfahrung, die zuvor schon Diether Dehm und ich gemacht hatten: Die aus der DDR gekommenen Genossinnen und Genossen hatten nicht unbedingt auf marxistische Sozialdemokraten gewartet, die auch noch an der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus festhielten. Und so fanden wir uns drei auch in der neuen Partei ganz schnell auf dem linken Flügel wieder.

Seine politischen und juristischen Fähigkeiten konnte Kurt als Referent der Bundestagsfraktion der PDS/ DIE LINKE einbringen. Dort war er für Europafragen zuständig. Er war Mitarbeiter der Europaabgeordneten Sahra Wagenknecht. Kurt half mit, die Partei - zumindest für einige Zeit - auf einem grundsätzlich kritischen Kurs gegenüber der Europäischen Union zu halten. Er war Mitglied im Bezirksverband Tempelhof-Schöneberg. Dort fand er nicht nur neue Mitstreiter, sondern auch Freunde.

Zu seiner eigentlichen neuen Heimat wurde aber die Bildungseinrichtung Helle Panke der Rosa Luxemburg-Stiftung. Hier konnte er endlich wieder zeigen, was er alles konnte. Zwischen der Geschäftsführerin der Hellen Panke, Birgit Pomorin, und ihm entstand ein enges Vertrauensverhältnis.

Kurt Neumann wusste das Leben zu genießen. Er brauchte dafür kein luxuriöses Apartment oder Ferienhaus. Die Familie besaß nur ein die Jahre gekommenen Kleinwagen. Er bereiste nicht die Welt. Es waren einfache Dinge, die ihm Freude bereiteten: Die Zeitung, die Lieder der Arbeiterbewegung, das neue Buch, die Gedichte von Bertolt Brecht, das gut gezapfte kühle Bier, der trockene Rotwein, das saftige Stück Fleisch, die Currywurst von Krasselts, lange Abende mit Freunden - mal beim Lieblingsgriechen, mal beim Lieblingsitaliener, gelegentliche Urlaubsreisen nach Griechenland, Fahrradausflüge mit Ulrike in die Umgebung Berlins. Alles nicht spektakulär.

Kurt besaß Humor und er konnte sogar sentimental sein – wenn er mir etwa gestand, was für ein Glück es für ihn bedeutete, mit seiner Tochter Lena doch noch Vater geworden zu sein.

Und stolz war er nicht etwa auf sich, sondern auf Ulrike. Mit leuchtenden Augen erzählte er dann, wie sie es immer wieder geschafft hatte, das Mandat für das Abgeordnetenhaus zu erobern.

Er kämpfte für eine bessere Welt, für den Sozialismus, um ein besseres Leben für die Unterdrückten und Diskriminierten.

Wenn wir die Augen schließen, können wir ihn sehen.

 

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