Klassen im Entwurf für ein Grundsatzprogramm für die Partei DIE LINKE
Der Begriff der Klasse findet sich genau dreimal im Entwurf des Grundsatzprogramms:
Zunächst auf Seite 3 in der Präambel. Dort wird von „Zwei-Klassen-Medizin“ gesprochen. Der Klassenbegriff taucht dann ein weiters Mal im Zusammenhang mit den Ungerechtigkeiten im Bildungssystem auf. Dazu heißt es auf Seite 8: „In kaum einem Industrieland bestimmt die soziale Herkunft so sehr über den Bildungserfolg wie hierzulande. Das Bildungssystem mit seiner mehrgliedrigen Struktur von höherer und niederer Bildung verstärkt die soziale Auslese und zementiert die Bildungsprivilegien der oberen Klassen. Wir wollen das Grundrecht auf Bildung für alle durchsetzen und Bildungsbarrieren abschaffen.“
Schließlich wird auch in einem Abschnitt, in dem es um die ökonomische Analyse geht, ebenfalls auf Seite 8, von Klasse gesprochen: „Zugleich verschärfen die Abkoppelung der Löhne von der Entwicklung der Produktivität und sinkende Sozialeinkommen das Problem industrieller Überkapazitäten und entmutigen reale Investitionen. Eine Ökonomie der Enteignung macht Mehrheiten ärmer, um die Reichen reicher zu machen. Dass wir in einer Klassengesellschaft leben, lässt sich an der zunehmend ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen ablesen.“
Im Übrigen wird über Klassen und über Klassengesellschaft geschwiegen. Wo der Klassenbegriff im Zusammenhang mit dem Gesundheits- bzw. Bildungswesen steht, wird darauf verwiesen, dass es eine herrschende bzw. eine „obere Klasse“ gibt.
Nur in einem, im dritten Zitat klingt an, dass es auch eine Klasse der Lohnabhängigen gibt. Hier noch einmal der Kern dieser Aussage: „Dass wir in einer Klassengesellschaft leben, lässt sich an der zunehmend ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen ablesen.“ Die Existenz der Klasse der Lohnabhängigen wird hier demnach nicht aus ihrer Stellung im Prozess der kapitalistischen Akkumulation abgeleitet, wie es Marx und Engels taten und wie es seitdem Marxisten zu tun pflegen. Die Existenz der Klassengesellschaft wird lediglich aus der Reproduktion, aus der – wie es heißt - „ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen“ hergeleitet. Das entspricht offiziellem sozialdemokratischem und gewerkschaftlichem Denken.
Was ist nach dem Programmentwurf das Subjekt der Veränderung?
Doch wer ist der soziale Träger jener Politik, die im Programmentwurf gefordert wird? An wen appelliert DIE LINKE mit ihren Forderungen? Was ist das Subjekt, das die gesellschaftlichen Veränderungen durchsetzen kann?[nbsp
In der Präambel des Entwurfs heißt es: „Gemeinsam mit gewerkschaftlichen Kräften, sozialen Bewegungen, mit anderen linken Parteien, mit Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland, Europa und weltweit sind wir auf der Suche nach einer gesellschaftlichen Alternative.“ (S.3) In „Europa und weltweit mit Bürgerinnen und Bürgern auf der Suche“ - sehr präzise ist das nicht gerade.
Gehen wir weiter zum Abschnitt I, wo es unter der Überschrift „Woher wir kommen, wer wir sind“ gleich im ersten Satz heißt: „DIE LINKE knüpft an linksdemokratische Positionen und Traditionen aus der sozialistischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung und aus anderen emanzipatorischen Bewegungen an.“ (S.5) Einige Absätze später werden diese „anderen emanzipatorischen Bewegungen“ näher bestimmt. Es handelt sich danach um die „neue Frauenbewegung“, die „Umweltbewegung“, um „internationalistische Gruppen“ und um die „Friedensbewegung“. Wir begegnen hier also wieder den uns aus den 70er und 80er Jahren der alten Bundesrepublik so vertrauten „neuen sozialen Bewegungen“. So bezeichneten sie sich damals selbst, um sich von der „alten“ sozialen Bewegung, der Arbeiterbewegung, abzusetzen, von der die Intellektuellen seinerzeit so enttäuscht waren, war sie doch so wenig revolutionär und kämpferisch.
Es fehlt hier an der Zeit, um auf diesen alten Streit um neue und alte soziale Bewegungen einzugehen. Nur so viel hier: Ein solcher Gegensatz war immer schon zu einem guten Teil konstruiert: Sowohl die Fragen der Emanzipation der Frau als auch des Internationalismus als auch der Kampf um Frieden und gegen den Krieg waren stets Elemente des Wirkens der Arbeiterbewegung bzw. sollten es jedenfalls sein. Es macht daher keinen Sinn, sie als eigenständige Bewegungen gegen die Arbeiterbewegung zu stellen. Ich halte daher auch die Formulierung „DIE LINKE versteht sich als Partei mit sozialistischem und feministischen Anspruch“ (S.17) für ausgesprochen verunglückt. Rosa Luxemburg oder Clara Zetkin wäre eine solche Formulierung mit Sicherheit nicht eingefallen. Und was schließlich die Fragen des Schutzes der Umwelt angeht, so können auch sie nur wirklich beantwortet werden, wenn man über den grenzenlosen Trieb des Kapitals zu seiner Selbstverwertung auf immer höherer Stufenleiter und damit über die Verwertungslogik als Basis der Untergrabung aller menschlichen Existenz spricht. Bei den Fragen des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen handelt es sich daher ebenso um Klassenfragen, wenn auch im weitesten Sinne.
Der Programmentwurf unterlässt es leider, diese Fragen im Zusammenhang zu denken. Das Subjekt der Veränderung verbleibt danach auf verschiedenste Bewegungen verteilt und damit unbestimmt. Es bleibt im Dunkeln, wer die Handelnden sind, ohne die eine grundlegende Veränderung, eine Revolutionierung der Verhältnisse nicht vorstellbar ist.
Der Entwurf appelliert vielmehr abstrakt an „die Bevölkerung“ und an „die Menschen“, die sich als Betroffene wehren sollen. Hierzu einige Zitate: „Zu den Erfahrungen der Menschen in der Bundesrepublik gehörten zunehmender gesellschaftlicher Wohlstand....“ (S.5). „Angst vor sozialem Absturz prägt das Leben großer Teile der Bevölkerung...“ (S.9) Es sollen die „Bedürfnisse und Interessen der Bevölkerung in den Mittelpunkt gestellt werden.“ (S.14) Besonders lyrisch ist die folgende Formulierung: „Die Menschen sind von Klimaerwärmung und sozialer Kälte bedroht.“ (S.10) An anderer Stelle heißt es: „Wir streben eine sozialistische Gesellschaft an, in der jeder Mensch in Freiheit sein Leben selbst bestimmen kann und dabei solidarisch mit anderen zusammenwirkt.“ (S.11) Dann heißt es wieder: „Alle Menschen sollen am Reichtum teilhaben können. Der sozial gleiche Zugang jedes Menschen zu den Bedingungen eines freien Lebens und die Demokratisierung aller Lebensbereiche gehören zusammen.“ (S.11) Ein wenig später kann man lesen: „Heute besteht die Möglichkeit, jedem Menschen ein Leben in sozialer Sicherheit und Würde zu gewährleisten. (...) Wir wollen, dass alle Menschen nach ihren Fähigkeiten und Neigungen am gesellschaftlich organisierten Arbeitsprozess teilnehmen können.“(S.11) Im Entwurf wird von der „Grundversorgung der Menschen“ und von ihrem „Bedarf“ gesprochen. (S. 12). „DIE LINKE will, dass jeder Mensch ein selbstbestimmtes Leben in Würde und sozialer Sicherheit führen kann...“ (S.14) „Wir wollen Menschen ermutigen, sich gegen Politik zur Wehr zu setzen, die ihren Interessen widerspricht.“ (S.23) Und schließlich: „Immer mehr Menschen lehnen den ungehemmten Kapitalismus ab...“ (S.25) Es wird schließlich noch allgemeiner: „Jede und jeder braucht soziale Sicherheit, um selbstbestimmt leben und das Recht auf demokratische Mitgestaltung umfassend wahrnehmen zu können.“ (S.16) Da fragt man sich doch beim aufmerksamen Lesen: Wenn jeder soziale Sicherheit bracht, so denn auch Josef Ackermann. Dem Menschen begegnet man bei der weiteren Lektüre des Textes noch mehrfach. In Abwandlung einer allseits bekannten und berüchtigten Aussage könnte man sagen: DIE LINKE kennt keine Klassen mehr, sie kennt nur noch Menschen. Oder: Der Mensch steht im Mittelpunkt, wie es immer so schien in der DDR hieß.
Nur an wenigen Stellen wird im Entwurf von „Beschäftigten“ bzw. „Erwerbstätigen“ gesprochen. Etwa auf Seite 12: „Die Beschäftigten müssen realen Einfluss auf die betrieblichen Entscheidungen bekommen.“ An anderer Stelle heiß es: „Standortkonkurrenz und der Kampf um knappe Ressourcen liefern ganze Kontinente und große Teile der erwerbstätigen Bevölkerung einem hemmungslosen Unterbietungswettbewerb, dem Sozialabbau und der Ausplünderung aus.“ (S.9) Und: „Die Enteignung der Beschäftigten muss gestoppt werden.“ (S.14) Dann ist wieder von den „Finanzschwachen und den „ärmeren Haushalten“ die Rede. (S.12)
Wird die Klasse der Lohnabhängigen, der Ausgebeuteten, im Programmentwurf nicht bei ihrem Namen genannt, so wird auch über die Klasse der Ausbeuter, über die Kapitalisten, meist geschwiegen. Und dort, wo von ihr doch einmal die Rede ist, finden sich für sie die unterschiedlichsten Bezeichnungen. Mal spricht man flapsig von den „oberen Zehntausend“ (S.14), mal von „Finanzinvestoren“ (S.20), dann wieder von "Konzernchefs" (S.3) und von "globalen Herrschaftseliten" (S.9) und auch mal von "mächtigen Fraktionen der Machteliten" (S.10). Nur gelegentlich nähert man sich der Wirklichkeit an, wenn von „Konzernen“ (S.20) bzw. „Energiekonzernen“ (S.21) die Rede ist. Nur an zwei Stellen wird von der "herrschenden Klasse" (S.7) bzw. der "oberen Klasse" (S.19) gesprochen.
Es ist ganz offensichtlich, dass man in dem Programmentwurf von Klassen und auch von Klassenkampf nicht viel wissen will. Eine andere Politik wird von der LINKEN abstrakt im Interesse „der Menschen“ bzw. der „Bevölkerung“ vorgeschlagen. Bevölkerung ist dabei aber nur eine Umschreibung von Volk. Und damit bin ich bei meiner Schlussfolgerung aus all dem eben Gesagten. DIE LINKE will sich mit diesem Entwurf als Volkspartei präsentieren. Ihre Vorschläge für eine andere Politik sind nicht interessengeleitete. Sie präsentieren sich vielmehr als schlicht vernünftige Forderungen. Dies ähnelt den Positionen der Kathedersozialisten, über die sich Friedrich Engels im 19. Jahrhundert mokierte. Man kann dieses Denken aber auch in die Tradition von Kant stellen. In der Sozialdemokratie gab es Anfang des 20. Jahrhunderts die sogenannte neokantianische Schule, die die Notwendigkeit des Sozialismus aus dem Kantschen Vernunftprinzip zu erklären versuchte. Wie auch immer. Mit Marx und Engels, die die Geschichte bekanntlich als Geschichte von Klassenkämpfen interpretierten und die vom antagonistischen Gegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital ausgingen, hat das alles nichts zu tun. Von einer materialistischen Geschichtsauffassung findet sich im Programmentwurfs nichts. Er folgt vielmehr der bürgerlichen Sichtweise vom „Abschied vom Proletariat“, wie ein André Gorz bereits 1980 verkündete. Präsentiert wird ein "Kapitalismus ohne Klassen", wie es der Soziologe Ulrich Beck formulierte. Es ist die soziologische Sichtweise, ein Denken in Begrifflichkeiten von Schichten und sozialen Lagen, die den Programmentwurf beherrscht.
Die zentrale Bedeutung der Arbeiterklasse
Weshalb aber ist eine sozialistische Programmatik ohne das Insistieren auf der zentralen Bedeutung der Arbeiterklasse nicht vorstellbar? Es ist die von Karl Marx und Friedrich Engels hervorgehobene besondere Rolle der Lohnabhängigen auf die es ankommt. Genauer gesagt: Es ist der Doppelcharakter ihrer Stellung im Produktionsprozess – zum einen Objekt der Ausbeutung und Abhängigkeit, zum anderen Hauptproduktivkraft zu sein -, die die Lohnabhängigen zu einer potentiell revolutionären Kraft macht, und sie damit als einzige Klasse in der Lage versetzt, dem Kapital die Herrschaft zu entreißen.
Zur Erläuterung was damit gemeint ist, will ich hier aus einer programmatischen Erklärung zitieren, die 1980 – also vor 30 Jahren - beschlossen wurde. Es handelt sich um die Herforder Thesen zur Arbeit von Marxisten in der SPD. An ihrer Ausarbeitung war ich seinerzeit als Jungsozialist beteiligt. In These 23 heißt es dort:
„Die Arbeiterklasse ist im Kapitalismus zum einen Objekt kapitalistischer Herrschaft und Ausbeutung. Über die Ausbeutung und Abhängigkeit im Produktionsprozess erfährt sie tagtäglich ihre gesellschaftliche Stellung und zugleich die Notwendigkeit, sich kollektiv gegen die Ausbeutung zur Wehr zu setzen. Zugleich aber ist die Arbeiterklasse der entscheidende Träger der vergesellschafteten Produktion, ist sie die Hauptproduktivkraft. Aufgrund dieser gesellschaftlichen Stellung ist sie das gesellschaftliche Subjekt, das allein in der Lage ist, den Kampf gegen die Ausbeutung mit einer sozialistischen Gesamtperspektive und der Umgestaltung der Gesellschaft zu verbinden. Politische Veränderungen mit sozialistischer Perspektive sind nur möglich, wenn die Arbeiterklasse sich ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihrer objektiven Interessen, soweit sie über die kapitalistische Gesellschaftsformation hinausreichen, in weiten Teilen bewusst wird und entsprechend handelt.“[1]
Die hier in der These 23 gleich am Anfang benannte „gesellschaftliche Stellung“ der Lohnabhängigen im Produktionsprozess ist eine „der Unsicherheit der Lebensstellung“. Erst diese „Unsicherheit“ macht sie nach Friedrich Engels „zu Proletariern.“ (vgl. MEW 2, S. 344)
Marx beschreibt im ersten Band des Kapitals den unauflösbaren Zusammenhang zwischen immer größerem gesellschaftlichen Reichtum und gleichzeitig wachsender Verelendung: „Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe der Arbeiterbevölkerung und die Produktivkraft ihrer Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. (...) Je größer endlich die Lazarusschicht der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Das ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation.“ (MEW 23, S. 673 f.) Man beachte: Marx sieht in dieser Entwicklung „das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation.“
Für Marx ergibt sich die zentrale Beutung des Proletariats demnach aus dem Gesamtzusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft. Im Proletariat sieht er auch „keine mechanisch unter der Last der Gesellschaft gebeugte Menschenmasse, sondern eine Masse, die in deren scharfer Zersetzung (der bürgerlichen Gesellschaft, A.W.) ihren Ursprung genommen hat.“[2] Es ist dies die besondere Eigenschaft des Proletariats, dass es nicht aus einer bloßen Idee heraus oder aufgrund eines abstrakten Willens heraus entsteht, sondern permanent von der kapitalistischen Produktionsweise neu hervorgebracht wird. Und auch erst mit dieser Produktionsweise wird es wieder verschwinden. Dieses "zum Verschwinden bringen" bezeichnet Marx philosophisch als die "historische Mission des Proletariats". Dies ist ein heute kaum noch gebrauchter Begriff, und wenn, dann wird er meist nicht verstanden und deshalb gern karikiert, so als sei es etwa die Aufgabe des Proletariats, für andere – etwa für die linken Intellektuellen - deren Geschäfte zu besorgen. Tatsächlich beschrieb Marx mit diesem Bild von der „Mission des Proletariats“ aber nur seine zu den Kapitalisten antagonistische Stellung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft.
Und da es heute um den Entwurf eines Programms für eine linke Partei geht, will ich hier aus einem anderen, älteren Programm zu zitieren. Im Manifest der Kommunistischen Partei heißt es: „Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt.“
Wie der Programmentwurf verändert werden sollte
Nur an einer Stelle enthält der Programmentwurf einen Hinweis auf die zentrale Bedeutung der Arbeiterklasse bzw. der Gewerkschaften. Auf Seite 23 heißt es: "Besonders wichtig sind dabei starke, aktive, kämpferische und politisch eigenständig handelnde Gewerkschaften. Sie unterscheiden sich von allen anderen sozialen Kräften und Bewegungen dadurch, dass sie nicht nur in der Zivilgesellschaft agieren, sondern ihre Verankerung in der Arbeitswelt haben. Dies verleiht den gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten eine gesellschaftliche Machtposition, die andere soziale Gruppen nicht haben und die von zentraler Bedeutung für die Durchsetzung sozialer und sozialistischer Umgestaltungen ist." Ich frage mich nur, weshalb diese zutreffende Aussage im Kapitel über Bündnispolitik steht. Hier gehört sie mit Sicherheit nicht hin. An diese hier zu Recht angesprochene „zentrale Bedeutung“ der „gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten“ sollte angeknüpft werden, diese Aussage sollte ausgebaut werden, vor allem aber sollte sie einen anderen systematischen Platz im Entwurf enthalten.
Für jeden von uns ist leicht erkennbar, dass es um die Arbeiterbewegung und ihre Organisationen, zumindest in Deutschland, heute nicht gut steht. Die Gewerkschaften sind schwach und kaum in der Lage, die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten. Die Zahl ihrer Mitglieder ist rückläufig. Ihre Führungen sind mehrheitlich auf den sozialdemokratischen Kurs des Klassenkompromisses festgelegt. Die „Klasse für sich“ ist kaum „eine Klasse an sich“. Ihr fehlt weitgehend das Bewusstsein ihrer eigenen möglichen Stärke. Sie traut sich heute selbst wenig zu. Und doch ist sie immer wieder zu enormen Mobilisierungen fähig. Man denke hier nur an den andauernden und hartnäckigen Widerstand der griechischen Arbeiterklasse gegen das Diktat zu Sozial- und Lohnabbau, formuliert von Europäischer Union, Internationalem Währungsfonds und griechischer Regierung. Sollte am Ende der Plan zur Sanierung der Banken auf Kosten der griechischen Lohnabhängigen, Rentner und sozial Schwachen nicht aufgehen, so liegt dies vor allem an dem heutigen Widerstand der kommunistisch geführten Gewerkschaften dort. Oder wer hätte den jüngsten, enormen Aufschwung der Klassenkämpfe in Frankreich gegen die Rentenpläne der Sarkozy-Regierung für möglich gehalten. Die Streiks dort haben das Land dort an den Rand der Lähmung gebracht.
Die aktuellen Entwicklung in Frankreich sind denn auch eine Lektion für uns, die Bedeutung des Generalstreiks als Instrument des Klassenkampfs herauszustellen und dieses scharfe Schwert auch bei uns einsetzbar zu machen. Oskar Lafontaine wird nicht müde, dies zu tun. Zum Glück befindet sich die Forderung nach dem Generalstreik im Programmentwurf, und das gleich an drei Stellen. So heißt es auf Seite 18: "Wir setzen uns dafür ein, neue Formen einer Politik von unten zu entwickeln. Dazu gehören auch der politische Streik und der Generalstreik." Nur die Arbeiterbewegung hat mit den Mitteln des Streiks die Fähigkeit, der Bourgeoisie empfindliche Schläge zu erteilen.
Anstatt, wie im Programmentwurf geschehen, die Arbeiterbewegung fast ganz links zu lassen, sollten im Entwurf besser die deutschen Besonderheiten herausgearbeitet werden, die hier bei uns einem Aufstieg der Klassenkämpfe entgegenstehen. Zu nennen sind hier die Hegemonie sozialdemokratischen, klassenpartnerschaftlichem Denkens, traditionelle Staats- und Obrigkeitshörigkeit, Stellvertretermentalität sowie verbreitetes Versicherungsdenken. Besonders hinderlich ist die weit verbreitete Identifizierung der Lohnabhängigen mit den Interessen der eigenen Ausbeuter. So sind selbst nicht wenige Betriebsräte stolz darauf, an den Erfolgen des „Exportweltmeisters Deutschland“ aktiv mitwirken zu können.
Auch Marx und Engels waren zu ihren Lebzeiten beständig mit einer Arbeiterbewegung konfrontiert, deren Anhänger per se wenig Einsicht in die Notwendigkeit der Aufhebung des allgemeinen Ausbeutungsverhältnisses zeigten, schon gar nicht gab es dafür in der englischen Arbeiterbewegung Sympathien. In seiner Schrift Lohn, Preis und Profit schrieb Marx 1865: „Gleichzeitig, und ganz unabhängig von der allgemeinen Fron, die das Lohnsystem einschließt, sollte die Arbeiterklasse die endgültige Wirksamkeit dieser tagtäglichen Kämpfe nicht überschätzen. Sie sollte nicht vergessen, dass sie gegen Wirkungen kämpft, nicht aber gegen die Ursachen dieser Wirkungen; dass sie zwar die Abwärtsbewegung verlangsamt, nicht aber ihre Richtung ändert; dass sie Palliativmittel anwendet, die das Übel nicht kurieren. Sie sollte daher nicht ausschließlich in diesem unvermeidlichen Kleinkrieg aufgehen, der aus den nie enden wollenden Gewalttaten des Kapitals oder aus den Marktschwankungen unaufhörlich hervorgeht. Sie sollte begreifen, dass das gegenwärtige System bei all dem Elend, das es über sie verhängt, zugleich schwanger geht mit den materiellen Bedingungen und den gesellschaftlichen Formen, die für eine ökonomische Umgestaltung der Gesellschaft notwendig sind. Statt des konservativen Mottos: ′Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagwerk!′, sollte sie auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: ′Nieder mit dem Lohnsystem!′“ Das war eine schon fast flehentliche Bitte, sich nicht allein mit den täglichen Sorgen zu befassen, sondern die geschichtliche Dimension des revolutionären Kampfes im Blick zu behalten.
Im Programmentwurf finden sich, wenn auch verstreut eine Reihe von wichtigen und richtigen Aussagen über die jetzt schon seit vielen Jahren anhaltende Massenarbeitslosigkeit, über die Entstehung eines riesigen Niedriglohnsektors, die Ausbreitung von Hartz IV und über die Möglichkeit, eine neu entstandenes Prekariat zu nicht entlohnter, entwürdigender Arbeit zu zwingen, etwa durch 1-Euro Jobs. All dies demonstriert heute zur Genüge die Gültigkeit der Engelsschen Aussage von der andauernden „Unsicherheit der Lebensstellung“ der Lohnabhängigen. Was Marx industrielle Reservearmee nannte, das Heer der Arbeitslosen, ist heute eine permanente Erscheinung. Immer mehr Menschen werden zu "Überflüssigen" abgestempelt.
Die Lohnabhängigkeit hat sich in den letzten Jahrzehnten weiter verbreitet. Heute sind in Deutschland, nach kontinuierlichem Schrumpfen des Mittelstands und der freien Bauernschaft, so viele Menschen abhängig beschäftigt, wie nie zuvor. Mit der Privatisierung weiter Bereiche der öffentlichen Infrastruktur und der staatlichen Daseinsvorsorge sind aus unzähligen, einstmals von sozialer Not und Arbeitsplatzunsicherheit verschonten Angestellten des Staates Lohnabhängige in kapitalistischen Unternehmen geworden. Und betrachtet man nur die wachsende Masse der nur von ihrem Lohn lebenden Menschen weltweit, so steigt sie jährlich um eine zweistellige Millionenzahl.
Es gibt daher guten Anlass, im Programm einer Partei, die ja immerhin angibt, den Kapitalismus überwinden zu wollen, auf der Bedeutung der Arbeiterklasse als die entscheidende Kraft für jede grundlegende Veränderung der Gesellschaft zu bestehen. Daraus hat zu folgen, dass sich die Partei DIE LINKE sowohl in ihrer Programmatik als auch in ihrer Politik so auszurichten hat, dass sie aktiv dazu beitragen kann, dass diese „Klasse an sich“ auch zur „Klasse für sich“ wird. Klassenbewusstsein bildet sich am ehesten über die direkte Teilnahme an den Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit heraus. Dies sind in erster Linie gewerkschaftliche Kämpfe. Deren Unterstützung muss Anliegen der gesamten Partei werden. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Betrieb & Gewerkschaften, als die jetzt schon größte Arbeitsgemeinschaft der Partei, ist zu stärken. Die AG muss in ihrem Bemühen vor allem dabei unterstützt werden, Betriebsgruppen der Partei zu gründen. Sie kann nicht länger nur eine Arbeitsgemeinschaft unter 24 weiteren Zusammenschlüssen sein. Die Sozialistische Linke, die sich selbst als gewerkschaftlich orientierte Strömung in der Partei versteht, sollte sich in der Debatte über den Programmentwurf zu einer vernehmbaren Fürsprecherin der Ausrichtung der Partei auf die Interessen der Lohnabhängigen machen
[1] Herforder Thesen. Zur Arbeit von Marxisten in der SPD, Sonderheft 2 der Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft -spw, Berlin 1980 unter: www.andreas-wehr/buecher.html
[2] Michail Lifschitz, Karl Marx und die Ästhetik, Dresden 1957, S.113
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