Vom Verfassungs- zum Reformvertrag - wohin geht die EU?

"Der Vertrag über die Europäische Union und der Vertrag über die Arbeitsweise der Union werden keinen Verfassungscharakter haben. (...): Der Ausdruck 'Verfassung' wird nicht verwendet (...)." So steht es im Entwurf des Mandats für die Regierungskonferenz, beschlossen auf dem Europäischen Rat am 21./22. Juni 2007 in Brüssel. In der Regierungskonferenz soll stattdessen ein "Reformvertrag" zur Änderung der bestehenden Verträge ausgearbeitet werden und zwar in nichtöffentlichen Sitzungen hinter verschlossenen Türen. Da war nun über Jahre für eine europäische Verfassung in allen Medien getrommelt, ja das Stagnieren oder gar das Auseinanderfallen der EU bei ihrem Scheitern vorausgesagt worden, und nun wurde die Fahne "Verfassung" quasi über Nacht still und heimlich wieder eingerollt. Keiner Zeitung war dies auch nur einen Kommentar wert. Spätestens jetzt ist klar, dass das ganze Gerede von einer Verfassung nur ein Hebel war, um mittels einer mobilisierten Öffentlichkeit den Widerstand einiger Regierungen gegen den angestrebten institutionellen Umbau der Union auszuschalten.

 

Dieser Umbau der Institutionen der EU steht seit nunmehr zehn Jahren auf der Tagesordnung der Union. Seitdem geht es darum, die "drei Left-overs" der Amsterdamer Vertragsreform von 1997 aufzulösen.[1] Übrig geblieben waren damals die Entscheidungen über die zukünftige Größe der Europäischen Kommission, über die Stimmengewichtung im Rat und über die inhaltlichen Bereiche, in denen der Rat mit qualifizierten Mehrheiten abstimmen kann. Dieser Umbau der EU wird zu einer Zentralisierung ihrer Entscheidungsstrukturen und zur Stärkung ihrer großen Mitgliedsländer führen. Vor allem die Bundesrepublik Deutschland wird nun ihre mit der Vereinigung deutlich gewachsene Bevölkerung in die Waagschale legen können. Deshalb bestanden die deutschen Regierungen immer auch so hartnäckig auf die Anwendung des demografischen Prinzips.

 

In Nizza war 2000 der erhoffte Durchbruch in diesen drei Fragen noch ausgeblieben. Eine Verständigung über sie gelang erst im Europäischen Konvent. Die 2003 im Konventsentwurf für eine Verfassung unterbreiteten Vorschläge bilden - mit einigen Veränderungen - auch die Grundstruktur des jetzt auszuhandelnden Reformvertrags. Die Union soll danach eine andere werden. Die Mitgliedstaaten verlieren weiter an Souveränität, die großen Länder werden auf Kosten der kleinen gestärkt und die Zentralisierung ihrer Entscheidungsstrukturen wird die EU noch undemokratischer machen. Sie droht ihren Charakter als Aushandlungsgemeinschaft zu verlieren und eine feste Hegemonialordnung von Metropole und Peripherie zu werden.

 

 

Nicht alle Rechnungen gingen auf

 

Ein Sieg demnach auf ganzer Linie für die europäischen Eliten und den hinter ihnen stehenden Monopolbourgeoisien der großen Kernstaaten? Sieht man sich das Mandat für die Regierungskonferenz genauer an, so erkennt man, dass längst nicht alle ihrer Forderungen erfüllt wurden. Im jahrelangen Ringen um die neue vertragliche Grundlage waren sogar einige Rückschläge hinzunehmen. Dies gilt selbst für die schließlich durchgesetzte Umstellung des Abstimmungsverfahrens auf die Bevölkerungsgröße. Da es erst ab 2014 gilt, wird die für 2008 anstehende grundlegende Reform der Agrar- und Regionalpolitik der EU, bei der es um sehr viel Geld gehen wird, noch auf Grundlage des alten, in Nizza vereinbarten Abstimmungsmodus entschieden. Polens Chancen für seine Bauern dabei einiges mehr herauszuholen sind damit deutlich gestiegen.

 

Im Verhandlungsmandat stößt man auf eine ganze Reihe von Bestimmungen in denen die Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten gegenüber dem Machtanspruch Brüssels verteidigt bzw. sogar gestärkt werden. So wird die den nationalen Parlamenten eingeräumte Frist für Subsidiaritätskontrollen geringfügig erhöht. Sie werden stärker in die politische Kontrolle von Europol und in die Bewertung der Tätigkeit von Eurojust einbezogen. Es wird ein neues Protokoll über Dienste von allgemeinem Interesse geben, in dem "die wichtige Rolle und der weite Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden" hervorgehoben werden. Erstmals wird geregelt, dass "die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeiten wieder wahrnehmen, sofern und soweit die Union entschieden hat, ihre Zuständigkeiten nicht mehr auszuüben". Die Flexibilitätsklausel wird präzisiert, indem herausgestellt wird, dass "sie nicht als Grundlage für die Verwirklichung von Zielen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik dienen" kann. Im Artikel über die Beziehungen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten wird der Satz angefügt: "Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten." Zur Stärkung der mitgliedstaatlichen Souveränitäten zählt auch, dass bei den Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen der Union - etwa in den Bereichen Kultur, Gesundheitswesen oder Verbraucherschutz - zukünftig hervorgehoben wird, dass "die Union die Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten durchführt". Und erstmals wird eindeutig festgehalten, dass die Verträge mit dem Ziel geändert werden können, die der Union übertragenen Zuständigkeiten auch "zu verringern".

 

Einige ursprünglich angestrebten Integrationsschritte konnten zudem nur unter dem Preis der Gewährung einer "Opting out " Regel bzw. durch die Gestattung eines schnelleren Voranschreitens integrationswilliger Staaten gerettet werden. So die Charta der Grundrechte, die wohl nicht mehr Bestandteil der Verträge aber dennoch rechtsverbindlich sein soll. Dem entsprechenden Protokoll hat sich Großbritannien nicht angeschlossen. Zwei weitere Staaten prüfen noch, ob sie sich ebenso verhalten werden. Bei der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und bei der polizeilichen Zusammenarbeit wird zukünftig gestattet, dass "Mitgliedstaaten bei einem Thema voranschreiten und andere sich nicht beteiligen".

 

 

Es bleibt bei Neoliberalismus und Militarisierung

 

Weniger Gewicht als die Verteidiger der Souveränitäten der Mitgliedstaaten hatten jene Kräfte, die den Verfassungs- bzw. Reformvertrag ablehnen, weil mit ihm die neoliberale Ordnung des Binnenmarktes gemäß den Vereinbarungen von Maastricht 1992 festgeschrieben wird. Im französischen Referendum dürften diese Argumente für das Non ausschlaggebend gewesen sein. An diesen neoliberalen Inhalten wird weiterhin unverändert festgehalten. Keine Rede ist mehr von der ursprünglichen Idee Merkels, dem Vertrag ein Zusatzprotokoll über die soziale Dimension der EU anzufügen. Lediglich an einer einzigen Stelle sah man Anlass, zumindest eine kosmetische Veränderung vorzunehmen. Aufgrund einer gemeinsam von Nicolas Sarkozy und der Europäischen Kommission eingebrachten Formulierung wird bei den Zielen der Union auf die Forderung nach "einem freien und unverfälschten Wettbewerb" verzichtet. Offiziell wird dies damit begründet, dass es sich bei dem freien und unverfälschten Wettbewerb lediglich um ein Mittel und nicht um ein Ziel handele, daher gehöre diese Formulierung auch in den praktischen, politischen Teil. Dort findet sich ja bereits gleich mehrfach das Prinzip "einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb". Die deutsche Ratspräsidentschaft beeilte sich denn auch sogleich zu erklären, dass "es in den EU-Verträgen ein Dutzend Passagen gebe, die als Grundlage für die auf das Jahr 1957 zurückgehende Wettbewerbspolitik dienten".[2] Und damit ja keine Zweifel daran aufkommen, dass es sich bei dieser Abänderung der Ziele wirklich nur darum handelt, den antiliberalen Kritikern Sand in die Augen zu streuen, wurde ein "Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb" formuliert, in dem es unmissverständlich heißt, "dass zu dem Binnenmarkt, (...) ein System gehört, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt (...)". Doch Schutz vor Wettbewerbsverfälschung ist in der Gesetzgebung der EU als auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs regelmäßig ein Hauptargument, um gegen nichttarifäre Handelshemmnisse - zu denen regelmäßig auch ökologische, soziale und gegen Diskriminierung gerichtete Standards gehören - vorgehen zu können. Viele Klagen der Kommission gegen die Vergabepraxis der Kommunen, werden denn auch mit dem Vorwurf der Wettbewerbsverfälschung begründet.

 

Ganz und gar unbeachtet bleibt die Kritik an der Militarisierung der Union, wie sie sich in der Verpflichtung zur Aufrüstung, der Verknüpfung der EU mit der NATO sowie in der Ermöglichung von Kampfeinsätzen im Verfassungsvertrag findet. All diese Aussagen sollen unverändert in den Reformvertrag übernommen werden.

 

 

Wohin geht die Europäische Union?

 

1. Die gegenüber dem Verfassungsvertrag geäußerte Kritik ist auch gegenüber dem konzipierten Reformvertrag anzubringen, von dem ja selbst die Vertreter der deutschen Bundesregierung behaupten, dass er zu gut 90 Prozent identisch mit dem Verfassungsvertrag sein wird. Entsprechend konsequent haben die Kritiker des Verfassungsvertrags bereits die Ablehnung auch des Reformvertrags angekündigt. Dies betrifft sowohl Nichtregierungsorganisationen wie Attac als auch die linken Parteien in Europa, wie sie in der Europäischen Linkspartei als auch in der Fraktion der Vereinten Linken im Europäischen Parlament zusammengeschlossen sind.

 

2. Mit dem Entwurf des Mandats für die Regierungskonferenz werden die ablehnenden Voten der französischen und der niederländischen Bevölkerungen vom 29. Mai und vom 1. Juni 2005 weitgehend missachtet. Die Staats- und Regierungschefs vertrauen vielmehr darauf, dass weder die niederländische Regierung noch der französische Staatspräsident Sarkozy erneut Volksabstimmungen zulassen werden. Mandat und Zeitplan für die Regierungskonferenz sind zudem so eng gefasst, dass keine Zeit für eine ausreichende parlamentarische Beratung in den Mitgliedstaaten bleibt. Vorgesehen ist, dass der Europäische Rat bereits am 17./18. Oktober 2007 über den Reformvertrag beschließt. Es ist offenkundig, dass die europäischen Eliten alles daran setzen, um kritische Debatten, vor allem aber Volksabstimmungen über den Reformvertrag und damit eine erneute Verzögerung oder gar das endgültige Scheitern des Projekts zu verhindern. In dieser Angst vor dem Willen der Völker drückt sich zugleich der Hegemonieverlust der europäischen Eliten über die öffentliche Wahrnehmung der EU aus. Die Vertrauenskrise der Europäischen Union dauert an.

 

3. Auf dem Junigipfel konnte erst nach langem Ringen eine Einigung über die institutionellen Reformen erreicht werden. Der Preis dafür war allerdings hoch. Zwischen der deutschen und der polnischen Regierung kam es im Vorfeld und auf dem Gipfel selbst zu einem ernsthaften Zerwürfnis über den Abstimmungsmodus im Rat. Für jeden sichtbar wurde, dass es in dieser Frage nicht - wie immer wieder behauptet - um den Erhalt der Handlungsfähigkeit der Union oder gar um ihre Demokratisierung geht. Erkennbar wurde stattdessen, dass hier ein Kampf um die Macht in der EU ausgetragen wird, und dass die schließlich erzwungene Umstellung auf das demografische Prinzip vor allem Deutschland nützt.

 

4. Auch wenn in der Frage der Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten mit dem Reformvertrag nur wenige Änderungen gegenüber dem alten Verfassungsvertrag vorgesehen sind und damit die allgemeine Tendenz der Entmachtung der mitgliedstaatlichen Parlamente keineswegs gestoppt ist, so musste man doch in dem einen oder anderen Punkt Besorgnisse der Bevölkerungen einiger Mitgliedsländer um den Erhalt der einzelstaatlichen Souveränitäten und der demokratischen Rechte berücksichtigen. Dies gilt etwa für die traditionell integrationsskeptischen Öffentlichkeiten Großbritanniens und Dänemarks, für die einiger neuer Mitgliedstaaten aber auch für die in den Niederlanden. Dort hatte eine Mehrheit den Verfassungsvertrag vor allem deshalb abgelehnt, weil sie in ihm eine unzumutbare Einschränkung der Souveränitätsrechte des Landes sah. Auf solche Stimmen wird nun stärker als bisher Rücksicht genommen, da neue Referenden und Niederlagen dabei unbedingt vermieden werden müssen.

 

5. Unter den 27 Mitgliedstaaten der EU besteht wohl noch Einigkeit über den Erhalt und den weiteren Ausbau des unter neoliberalen Vorzeichen stehenden Binnenmarkts als auch über den Kurs der Militarisierung der Union. Keine Einigkeit besteht jedoch über die weiteren Integrationsschritte in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik als auch in der Innen- und Rechtspolitik. Was die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik angeht, so hat sich der bereits in den Verhandlungen des Konvents zu spürende Widerstand einzelner Länder gegen eine weitere Integration verstärkt. Ausdruck findet dies nun in dem Verzicht auf den Titel "Außenminister". In der Innen- und Rechtspolitik bleiben die 1997 Großbritannien und Irland gewährten Ausnahmebestimmungen in den Bereichen Visa, Asyl, Einwanderung und freier Reiseverkehr erhalten und werden um Fragen der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und polizeiliche Zusammenarbeit sogar noch erweitert.

 

6. Die EU bietet mehr und mehr das Bild einer Gemeinschaft unterschiedlicher Geschwindigkeiten bzw. eines "Europas á la carte". Neben der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Innen- und Rechtspolitik zeigt auch die Wirtschafts- und Währungsunion ein uneinheitliches Bild. Nur gut die Hälfte der Mitgliedstaaten (gegenwärtig 13 von 27 Ländern) hat den Euro bisher als Zahlungsmittel eingeführt. Und von der Schaffung einer auch politischen Union ist man weiter als noch vor zehn Jahren entfernt. Der nun beschlossene Verzicht auf die Bezeichnung der Verträge als Verfassung bzw. Grundlagenvertrag legt davon ebenso Zeugnis ab wie die Aufgabe der Absicht, die Symbole der Union (Flagge, Hymne, Leitspruch und Europatag) vertraglich zu fixieren. Auch werden im Reformvertrag die eigentlich nur Staaten zukommenden Bezeichnungen "Gesetz" bzw. "Rahmengesetz" für die Rechtssetzungsakte fallengelassen.

 

7. Nach der Einigung über die Grundlagen für den Reformvertrag sind viele Illusionen über "eine immer engere Union" zerstoben. Die EU kann nun klarer als das wahrgenommen werden, was sie im Kern vor allem ist: Eine Union, der die auf Gewinnmaximierung gerichteten Gesetze des Marktes heilig sind. Kann angesichts der Krise bei den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht mehr von einer erfolgreichen Fortsetzung des Erweiterungsprozesses der EU gesprochen werden, so trifft dies angesichts des jetzt erteilten Mandats für die Regierungskonferenz auch für die Vertiefung der Integration zu. Es stellt sich nicht mehr die alte Frage: Erweiterung der EU oder Vertiefung der Integration? Mittlerweile findet beides nicht mehr statt.

 



[1] Vgl. dazu Andreas Wehr, Das Publikum verlässt den Saal, Nach dem Verfassungsvertrag: Die EU in der Krise, Köln, 2006, S. 53 ff.

[2] Neues Bekenntnis zum freien Wettbewerb, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.06.2007 

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