Über den steinigen Weg hin zu einer Partei links von der SPD

Der Ausgang des Münsteraner Parteitags hat erneut Zweifel an den Möglichkeiten einer Ausdehnung der PDS nach Westen aufkommen lassen. Doch im Unterschied zu vielen Kommentaren, die in dem Beschluss zu UN-Militäreinsätzen einen "Rückfall in dogmatische Positionen" sehen, wird hier die These aufgestellt, dass die Haupthindernisse für die Etablierung einer erfolgreichen gesamtdeutschen sozialistischen Partei eher in dem fehlenden Verständnis der ostdeutschen Parteieliten für die Probleme der bundesdeutschen Klassengesellschaft und in einer bedenklichen "Vergrünung" der Aussagen der Partei zu suchen sind.

Seit der Wende 1989/90 ist kaum noch etwas, wie es war. Das gilt für den Osten aber auch für den Westen, und hier nicht zuletzt für das über lange Zeit wie einzementiert scheinende Parteiensystem. Die Schockwellen des Umbruchs vor einem Jahrzehnt haben inzwischen auch in ihnen hier Risse entstehen lassen.

Hauptursache für die anhaltenden Erschütterungen ist die erstaunliche Tatsache der Stabilisierung der PDS, die seit den Kommunalwahlen in Brandenburg im Herbst 1993 bei allen Wahlen zulegen konnte und der es zur Überraschung vieler bei den letzten Bundestags- und Europawahlen sogar gelang, die Fünfprozent-Hürden zu überspringen. Inzwischen haben sich die Demokratischen Sozialisten in Ostdeutschland als Volkspartei in einem stabilen Dreiparteiensystem etabliert und übernahmen in Sachsen-Anhalt indirekt und in Mecklenburg-Vorpommern erstmals direkt Regierungsverantwortung. Doch trotz der spektakulären Erfolge bei den letzten Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, als es gelang, die SPD zum Teil weit hinter sich zu lassen, konnte die PDS den Sozialdemokraten den zweiten Platz in Ostdeutschland nicht nehmen. Weder bei gesamtdeutschen Wahlen noch bei Meinungsumfragen lag die PDS, bezogen auf das Gebiet der ehemaligen DDR, vor der SPD. Das unterscheidet denn auch die Situation dort von der etwa in Polen oder Ungarn, wo den postkommunistischen Parteien bei Fehlen einer ernsthaften sozialdemokratischen Alternative quasi automatisch dieser Platz im neuen Parteiengefüge zustand. Die Situation in Ostdeutschland ist eher vergleichbar mit der in Tschechien, wo sich die ehemals regierende kommunistische Partei, sogar unter Beibehaltung ihres Parteinamens, links von der sozialdemokratischen Partei einordnete.

Ohne Zweifel hätte auch die PDS aufgrund ihrer Verankerung, ihrer Machtorientierung und mittels ihres intellektuellen Potenzials das Zeug dazu gehabt, im Osten die sozialdemokratische Partei zu werden. Dass es nicht dazu kam, lag weniger an einer selbstgewählten kapitalismuskritischen sozialistischen Haltung als an der Tatsache, dass die SPD-Führung am Beginn des Jahres 1990 die Weichen dauerhaft anders stellte, indem sie damals allein auf die damalige SDP setzte, die sie mit massiver materieller und personeller Unterstützung aus dem Westen erst zu einer Partei aufpäppelte. Was die PDS anging, so setzten die Strategen in der Baracke auf den Fortgang der Erosion von Mitglieder- und Wählerbasis, der man durch die Diskreditierung einiger führender Mitglieder mittels der Gauck-Behörde gelegentlich nachzuhelfen gedachte. Doch die Rechnung ging bekanntlich nicht auf, und dass auch noch heute eine ernstzunehmende Partei links von ihr existiert, hat die SPD sich selbst zuzuschreiben.

Nicht ganz so spektakulär aber nicht weniger gravierend wirkte sich der Untergang des versuchten Sozialismus auf die sozialdemokratische Partei der alten Bundesrepublik selbst aus. Obgleich sich die SPD in ihrem Selbstverständnis wie kaum eine andere europäische Sozialdemokratie in Abgrenzung zur kommunistischen Partei im anderen Teil Deutschlands definierte, führte das Scheitern der ungeliebten Schwester auch bei ihr zu einer Krise des eigenen Selbstverständnisses als einer Kraft, die - wenn auch nur noch schemenhaft programmatisch - bislang von der Zentralität staatlicher Tätigkeit bei der Herstellung sozialer Gerechtigkeit und der Steuerbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen ausging. Die Ereignisse von 1989/90 beschleunigten den in der SPD schon vor Jahrzehnten eingeleiteten langen Abschied vom Sozialismus. Spätestens wenn das neue Grundsatzprogramm vorliegt, wird sich zeigen, wie tiefgreifend der Wandel ist.

Und selbst die konservativen Kräfte werden nun von den Erschütterungen erreicht, die ihren Ursprung in den Umwälzungen des vergangenen Jahrzehnts haben. Wie oft ist aus Anlass ihrer gegenwärtigen Spendenaffäre von einer Identitätskrise der CDU die Rede gewesen, in die sie erst durch den Wegfall ihres eigentlichen Widerparts, der kommunistischen Herausforderung, geraten sei? Durchaus zu Recht wurde ja bereits der Niedergang der italienischen Christdemokraten am Beginn der neunziger Jahre in einen engen Zusammenhang mit dem Fall der Berliner Mauer gebracht. Und so ist es nicht auszuschließen, dass auch in Deutschland die zur „Neuen Mitte" mutierte Sozialdemokratie die von den Konservativen aufzugebende traditionelle Rolle der hegemonialen Kraft im Zentrum des parteipolitischen Geschehens bald einnehmen wird und sich als Kraft der Linken verabschieden wird. Jedenfalls hat das rotgrüne Projekt - der einst so lang erwartete und mit so viel Vorschusslorbeeren bedachte Aufbruch - längst jegliche Attraktivität verloren. An die Stelle des erhofften Umbauprojekts ist nach innen sozialpolitische Kälte und nach außen kriegerischer Moralismus getreten.

Die äußeren Bedingungen für die Herausbildung eines veränderten Parteiensystems mit einer sich dauerhaft etablierenden Partei links von der SPD, und zwar in Gesamtdeutschland und nicht nur auf dem Territorium der ehemaligen DDR, wären damit gegeben. Doch die seit zehn Jahren nur sehr geringen Fortschritte bei der Gewinnung von Mitgliedern und der Werbung von Wählern in der alten Bundesrepublik zeigen, dass es bis dahin noch ein langer Weg ist. Und vom Gelingen dieser Westausdehnung hängt die Perspektive der gesamten Partei ab, denn als eine Regionalpartei hat die PDS keine Zukunft.

Über die Ursachen dieser Schwierigkeiten, eine gesamtdeutsche Partei zu werden, ist bereits viel gesagt und geschrieben worden. Im Zentrum standen dabei regelmäßig Darstellungen der kulturellen Barrieren zwischen den beiden ehemaligen Deutschlands und hier insbesondere die mit genauem Kalkül am Leben erhaltene antikommunistische Tradition des alten Westens.

Tatsächlich dürfte diese weiterhin fortwirkende Entfremdung zumindest in den ersten Jahren der Einheit der entscheidende Grund für die Erfolglosigkeit der PDS im Westen gewesen sein, doch damit alleine lassen sich die Schwierigkeiten nicht erklären. Hinzu tritt der Umstand, dass die Bedingungen für den Erfolg der PDS im Osten noch lange nicht solche für jenen im Westen sind, ja dass so manches im Osten mit Gewinn angewandte Rezept im Westen geradezu das Gegenteil provoziert. Wie ist das zu erklären? Wie bereits angesprochen, handelt es sich bei dem Kern der Partei um einen nicht unerheblichen Teil der alten Elite der DDR, die - bis auf wenige Ausnahmen - bereits im alten System nicht zum Zuge kam und dann erleben musste, wie statt ihrer Gruppen selbsternannter Bürgerrechtler und neu bekehrter Sozialdemokraten vorgezogen wurden. Anders als ihre einstigen Genossinnen und Genossen in Polen oder in Ungarn blieben sie bei dem Aufbau der neuen Gesellschaft vor der Tür. Ist es da verwunderlich, wenn es nun das Bedürfnis gibt, diese Stellung des allseits geächteten outlaw´s ablegen und in der Bundesrepublik endlich „ankommen" zu dürfen?

Dieses tiefe und durchaus gerechtfertigte Bedürfnis nach Anerkennung und Würdigung der eigenen Lebensleistungen steht denn auch im Hintergrund so mancher theoretischer Konstruktion, sowohl einer Zivilgesellschaft als auch eines Konzepts der „Moderne", mit denen man sich den vorgefundenen realen Kapitalismus in der neuen Bundesrepublik schön zeichnet. Sie alle haben den Zweck, die eigene Weltsicht mit der vorgefundenen Realität irgendwie kompatibel zu machen und sich auf diesem Wege mit ihr zu versöhnen. Doch für diejenigen, die seit Jahrzehnten mit den politischen und sozialen Kämpfen der alten Bundesrepublik vertraut sind, erscheinen solche Konstruktionen fremd und künstlich. Sie vermitteln den Eindruck, dass hier Menschen über Dinge reden, die sie nicht wirklich kennen.

Etwas zweites tritt hinzu: Bewegt sich die PDS auf ihrem angestammten Terrain kenntnisreich und erfahren, da sie hier im Osten die Interessenvertretung einer ziemlich genau abgrenzbaren sozialen Schicht ist, so fehlt ihr im Westen ein vergleichbares Potenzial. Die Folge ist, dass sie, in dem Bemühen möglichst viele unzufriedene Wähler anzusprechen, die unterschiedlichsten Milieus zu bedienen sucht. Dabei entsteht vor allem in den gesamtdeutschen Aussagen weniger ein klares Profil als vielmehr ein bunter Flickenteppich verschiedenster Positionen, die teilweise völlig unterschiedlichen politischen Traditionen der alten Bundesrepublik entnommen sind. Vertritt die Partei etwa in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik klassische gewerkschaftliche Positionen, so kultiviert sie hingegen in der Innen- und Rechtspolitik, bei der Vertretung von Minderheiten aber auch in der Menschenrechtspolitik gegenüber dem Ausland eindeutig grüne bzw. liberale Positionen. Auch in Fragen der Organisation der eigenen Partei stand, neben der fast zwanghaften Abgrenzung gegenüber der einstigen Praxis der SED, die Bewegung der Grünen Pate, etwa bei der Begrenzung der Amtszeiten von Mandatsträgern und bei der Organisation von Bundesparteitagen, die nicht selten so chaotisch wie in den Anfangsjahren der Grünen verlaufen.

Es ist noch nicht auszumachen, ob die PDS als gesamtdeutsche Partei zur Erbin einer von der Sozialdemokratie aufgegebenen Interessenvertretung der kleinen Leute wird oder vielmehr zur zweiten grünen Bürgerrechtspartei. Manches deutet darauf hin, dass sich allmählich die Gewichte zugunsten der sogenannten "neuen Themen" und zu Lasten der klassischen sozialen Fragen verschieben. Dafür spricht etwa die bisherige Schwerpunktsetzung bei der Programmdiskussion, die insgesamt randständige Verankerung gewerkschaftlicher Positionen in der Partei, aber auch die konkrete Politik vor Ort, wenn etwa in Sachsen-Anhalt die Verschärfung des Polizeigesetzes und nicht etwa der Abbau von Kindergartenplätzen zum hinreichenden Grund dafür genommen wird, über die Aufkündigung der Tolerierung nachzudenken. Der spektakuläre Beschluss von Münster zu UN-Militäreinsätzen passt in dieses Bild: Die in ihm zum Ausdruck kommende prinzipielle pazifistische Haltung eines "mit uns nicht", prägte ja bereits über Jahre die friedenspolitische Programmatik grüner Parteitage, bis schließlich dieser moralische Rigorismus dort von einem vermeintlich übergeordneten der Bewahrung von Menschenrechten im ehemaligen Jugoslawien beiseite geschoben wurde. Möglich war diese verhängnisvolle Entwicklung aber nur, weil sich die Bündnisgrünen in diesen Fragen von Beginn an hinter eine nicht diskutier- und überprüfbare Position der prinzipiellen Gewaltfreiheit in internationalen Beziehungen verbarrikadiert hatten. Als diese Barrikade schließlich zusammenbrach, gab es denn auch keine Möglichkeit mehr, das eigene Handeln mit Hilfe erarbeiteter und etablierter Maßstäbe bemessen und bewerten zu können. Das traurige Ergebnis ist bekannt. Ein moralischer Rigorismus wurde von dem anderen abgelöst. Der Gestus blieb dabei der gleiche. Auch der Kriegseinsatz wurde nun als einzig moralisch vertretbare Handlung dargestellt.

Die Gefahr für die weitere Entwicklung der PDS liegt denn auch nicht in ihrer Blockierung durch angeblich dogmatische Kräfte, sondern in der "Vergrünung" ihrer Positionen. Dies würde sowohl zu einer Entfremdung von der eigenen Wähler- und Mitgliederbasis als auch zur Unfähigkeit führen, enttäuschte, von Marginalisierung bedrohte Menschen überhaupt erst für sich gewinnen zu können. Dabei handelt es sich oft um ehemalige SPD-Wähler, die auf der Suche nach neuen Vertretern ihrer Interessen sind. Eine offensive linkspopuläre Ansprache dieser Wähler durch die PDS könnte erreichen, dass viele von ihnen überhaupt erst einmal wieder wählen gehen bzw. würde sie vor einem Abgleiten nach Rechtsaußen bewahren. Genaue Analysen zeigen, dass die PDS bei Wahlen in sozialen Brennpunkten von Innenstadtquartieren durchaus erfolgreich ist, so lagen ihre Ergebnisse in klassischen Arbeiterbezirken auch im alten Bundesgebiet oft über denen der Grünen oder der FDP. Eine Strategie, die auf die Gewinnung dieser wachsenden Wählerschaft setzt, verlangt jedoch eine Konzentration auf Themen wie Abwehr von Privatisierungen öffentlicher Dienstleistungen, Erhalt bezahlbarer Mieten, Widerstand gegen Rentenkürzungen, Eindämmung der Konkurrenz durch Billiglohnkräfte von außen, Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit, Erhalt des Rechts auf Bildung, Schutz vor einer sozialen Gefährdung durch Globalisierung und vor einer Europäischen Union, die zu einer bloßen Freihandelszone ohne Sozial- und Beschäftigungsunion zu werden droht. Das hier zu gewinnende Potential ist allemal größer als das, was vom linken Rand der Grünen abbröckeln könnte.

Wenn die Zukunft der PDS nur eine gesamtdeutsche sein kann, dann wird ihre Entwicklung in einem sehr viel stärkeren Maße von den Traditionen und den Lebensumständen der alten Bundesrepublik bestimmt sein. Dies heißt mit anderen Worten, dass die Zukunft der PDS bisher kaum begonnen hat, und der Ausgang des Projektes einer gesamtdeutschen sozialistischen Partei weiterhin offen ist. Er wird im wesentlichen von denen bestimmt, die dies als Chance für einen Neubeginn sozialistischer Politik in Deutschland begreifen. Das große historische Verdienst der aus der DDR kommenden Aktiven besteht darin, diese Option unter widrigsten Bedingungen überhaupt offen gehalten zu haben. Nur aufgrund dieser Leistung kann die versprengte und teilweise demoralisierte Linke der alten Bundesrepublik heute an eine Partei anknüpfen, die in einem Teil Deutschlands kommunalpolitisch stark verankert ist, in sechs Landtagen arbeitet und die es geschafft hat, in Fraktionsstärke in den Bundestag einzuziehen und Abgeordnete in das Europäische Parlament zu entsenden. Würde die Linke diese in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Chance leichtfertig verspielen, weil sie stattdessen die in der PDS ohne Zweifel ebenfalls vorhandenen Halbheiten, Unklarheiten und Irrtümer in den Mittelpunkt ihrer Bewertung stellt, wäre es auch um ihre eigene Zukunft als eine in die Politik eingriffsfähige Kraft geschehen. Sie könnte dann allerdings von politischen Kämpfen ungestört auf ihre ideale Partei warten und sich derweil in dem Gefühl sonnen, der ewige, unverstandene Verlierer zu sein.

 

 

 

 

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