Staat und Nation

Mit dem Ende des europäischen Realsozialismus ist offenbar geworden, dass die den kommunistischen Parteien eigene traditionelle Geringschätzung der Menschenrechte, bürgerlicher Freiheiten und demokratischer Spielregeln und damit allgemein der Mangel an Demokratie entscheidend für die Niederlage des Versuchs der Etablierung einer nichtkapitalistischen Gesellschaftsordnung in Europa war. Die Erfahrung mit einem überdimensionierten und nur in sehr bescheidenen Ansätzen rechtsstaatlich kontrollierbaren repressiven Staatsapparat führte bei vielen Beobachtern darüber hinaus zu dem Schluss, dass es sich bei diesen Gesellschaften um "staatssozialistische"[2] bzw. um ein Modell des "sowjetischen Staatssozialismus" gehandelt habe. Bestärkt wurde dieser Eindruck durch die Erkenntnis, dass die Produktionsmittel in jenen Gesellschaften oft nur formal gesellschaftliches Eigentum darstellten, tatsächlich aber von Staatsbediensteten bürokratisch verwaltet wurden.

 

Aus diesen Einschätzungen folgt die Kritik an einer "Staatsorientierung". Indem man in diese Kritik zugleich auch die Sozialdemokratie mit einbezieht, wurde daraus eine generelle Abrechnung mit der gesamten Geschichte der europäischen sozialistischen Bewegung. Wenden wir uns zur Illustration eines solchen Denkens dem Entwurf für ein neues Programm der PDS zu, das diese Einschätzung beispielhaft zum Ausdruck bringt. Ein Ansatz übrigens, wie er sich in vielen Diskussionsbeiträgen jener kommunistischen Parteien findet, die dabei sind, die traumatische Erfahrung des Untergangs des Realsozialismus zu verarbeiten. Dort heißt es: "Doch die verabsolutierte Staatsorientierung der früheren kommunistischen, der sozialdemokratischen Bewegungen und die Verachtung libertärer und zivilgesellschaftlicher Sozialismuskonzepte hat sich als falsch erwiesen. Unsere Vorstellungen erneuerter sozialistischer Politik schließen die Erfahrung ein, dass ein demokratischer Sozialismus nicht möglich ist, wenn er nicht von seinem ersten Schritt an emanzipatorische Befreiung bedeutet." [3] Und: "Wenn wir Sozialismus heute als die Freiheit und die Gleichheit einer und eines jeden beim Zugang zu den entscheidenden Lebensbedingungen und Gütern der Gesellschaft verstehen, so ist klar, dass der Staatssozialismus nicht fähig war, diesen Anspruch zu verwirklichen". Der hier und an verschiedenen anderen Stellen des Programmentwurfs anklingenden Bezugnahme auf die berühmte Aussage des Manifests der Kommunistischen Partei, wonach die "freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist", soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden.[4] Was uns vielmehr interessieren soll, ist der unterstellte Gegensatz zwischen einer "verabsolutierten Staatsorientierung" und einem "zivilgesellschaftlichen Sozialismusmodell". Davon ausgehend, soll anschließend allgemein die Bewertung des Staates in der Geschichte der sozialistischen Bewegung untersucht werden. Dies alles geschieht in der Absicht, die Bedeutung dieser Fragen für jeden möglichen neuen Ansatz sozialistischer Entwicklung herauszuarbeiten.

 

Wie schon in meinem Beitrag über die Bedeutung der "Menschenrechte, bürgerlicher Freiheiten und demokratischer Spielregeln"[5] geschehen, sollen auch diese Gedanken anhand der Arbeiten Domenico Losurdos entwickelt werden. Losurdo, Professor für Philosophie an der italienischen Universität Urbino und Präsident der Internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie Societas Hegelina, gehört ohne Zweifel nicht nur zu den gegenwärtig wichtigsten marxistischen Philosophen, sondern ist als Mitglied der nationalen Leitung der italienischen Partei Rifondazione Communista selbst politisch eingreifend aktiv. Für die Darstellung seiner Gedanken werden im Folgenden verschiedene Veröffentlichungen in der von ihm zusammen mit Hans Heinz Holz seit 1993 herausgegebenen Zeitschrift Topos - Internationale Beiträge zur dialektischen Philosophie , einzelne Broschüren, vor allem aber sein 2000 erschienenes Buch Der Marxismus des Antonio Gramscis - Von der Utopie zum 'kritischen Kommunismus'[6] herangezogen. 

 

 

"Verabsolutierte Staatsorientierung" versus "zivilgesellschaftliches Sozialismusmodell"?

 

Ist dies wirklich der entscheidende Gegensatz? Im Ergebnis der epochalen Wende 1989-91 entstand in der verbliebenen Linken ein weitverbreitetes Missverständnis über die Bedeutung des Begriffs der Zivilgesellschaft. Beeinflusst durch die vor allem in den USA geführte Diskussion über Kommunitarismus verbreitete sich die Überzeugung, dass Staat und Zivilgesellschaft in einem Gegensatz zueinander stünden, ja dass die Herausbildung der Zivilgesellschaft zu einem Verschwinden des Staates bzw. zu seiner Zurücknahme in die Gesellschaft führen werde. Doch bereits Antonio Gramsci, auf dessen Arbeiten die Definition der Zivilgesellschaft zurückgeht, warnte vor " 'einem theoretischen Irrtum, dessen praktischer Ursprung unschwer zu erkennen ist'; er beruhe 'nämlich auf der Unterscheidung von politischer Gesellschaft und Zivilgesellschaft, die aus einer methodischen Unterscheidung zu einer organischen gemacht und als solche dargestellt wird", wobei vergessen werde, dass 'in der Wirklichkeit der Tatsachen Zivilgesellschaft und Staat ein und dasselbe ist.' " (Losurdo 2000, S. 102). Allerdings dürfen auch die spezifischen Unterschiede zwischen Staat und Zivilgesellschaft im Denken Gramscis nicht verwischt werden: "Man könnte die 'Organizität' der verschiedenen intellektuellenschichten, ihre mehr oder weniger enge Verbindung mit einer grundlegenden Gesellschaftsgruppe messen, indem man eine Abstufung der Funktionen und der Superstrukturen von unten nach oben (von der strukturellen Basis nach oben) festlegt. Vorläufig lassen sich zwei große superstrukturelle Ebenen festzulegen, diejenige, die man die Ebene der Zivilgesellschaft nennen kann, d.h. des Ensembles der gemeinhin privat genannten Organismen, und diejenige der politischen Gesellschaft oder des Staates-, die der Funktion der Hegemonie, welche die herrschende Gruppe in der gesamten Gesellschaft ausübt, und der Funktion der direkten Herrschaft oder des Kommandos, welche sich im Staat und in der formellen Regierung  ausdrückt, entsprechen. Diese Funktionen sind eben organisierend und verbindend" (Gf, 1991, Bd. 7, S. 1502).

 

Der "Irrtum" einer Entgegensetzung von Zivilgesellschaft und Staat hat allerdings durchaus nachvollziehbare Gründe, wurde doch die Herausbildung der Zivilgesellschaft von Gramsci ausdrücklich als ein wichtiger historischer Fortschritt gewertet, der höher entwickelte Gesellschaften auszeichne: "Das Element Staat-Zwang kann man sich in dem Maße als erlöschend vorstellen, wie sich immer beträchtlichere Elemente von regulierter Gesellschaft (oder sittlichem Staat oder Zivilgesellschaft) durchsetzen" (Gf, 1991, Bd. 4, S. 783). Von dieser Allgemeingültigkeit der Zivilgesellschaft als Ausdruck einer höheren gesellschaftlichen Entwicklung leitet sich auch die positive Konnotation her, die der Begriff Zivilgesellschaft in der mit vielen Hoffnungen begleiteten Phase unmittelbar vor dem Ende des Realsozialismus erhielt, in einem geschichtlichen Moment, in dem die kurzfristige Etablierung zivilgesellschaftlicher Elemente, wie etwa die Vereinigungs- und die Koalitionsfreiheit als unabdingbar betrachtet wurde, um die in eine Existenzkrise geratenen realsozialistischen Gesellschaften in "moderne Zivilgesellschaften" (Kebir 1991, S. 11) umzuwandeln. Ausgangspunkt war seinerzeit die Überzeugung, dass "die noch nicht abgeschlossenen osteuropäischen Entwicklungen deutlich gemacht haben, dass die Existenz eines großen Sektors öffentlichen Eigentums an Produktionsmitteln ohne zivilgesellschaftliche Organisation keine neue historische Ära der Vergesellschaftung einleiten konnte." (Kebir 1991, S. 13)      

 

Dass dagegen die entwickeltere Form der Gesellschaft mit ihrem privaten Hegemonieapparat der Zivilgesellschaft keineswegs "ziviler" im ungangssprachlichen Sinne sei, hat Losurdo mit Bezug auf Gramsci herausgearbeitet: "In den Gefängnisheften wird (...) hervorgehoben, dass auch die Zivilgesellschaft in gewisser Hinsicht Staat ist, nämlich in dem Sinne, dass in ihr furchtbare Formen der Vorherrschaft und Unterdrückung ausgeübt werden können (der Despotismus der kapitalistischen Fabrik und sogar der Sklaverei), gegen die die politischen - und dabei selbst die bürgerlichen - Institutionen ein Gegengewicht oder ein Kampfinstrument darstellen können" (Losurdo 2000, S. 108). So wurde etwa die Ausrottung der Indianer zweifelsohne von privaten Hegemonieapparaten organisiert und auch das Unwesen des Ku-Klux-Klan im Süden der USA mit seiner praktizierten Lynchjustiz gehört ohne Zweifel zur Zivilgesellschaft.

 

Der unterstellte Gegensatz: hier Staat, dort Zivilgesellschaft ist daher in dem behaupteten Sinne gar keiner. So führt auch der Versuch nicht weiter, die Diskussion über die Rolle des Staates in einer sozialistischen Strategie zu umgehen, indem man einer vermeintlich "absoluten Staatsfixierung" alternative "zivilgesellschaftliche Sozialismuskonzepte" entgegenstellt. Eine solche Entgegensetzung spielt vielmehr der aktuell herrschenden neoliberalen Rhetorik einer " Stärkung der Bürgergesellschaft" und von "Nachbarschaftshilfe" als Alternative zu einer staatlichen Sicherung in die Hände, die an alte liberale Vorstellungen von Eigenverantwortlichkeit der Betroffenen appelliert und dazu dient, dem real stattfindenden Abbau von Sozialstaatlichkeit einen fortschrittlichen, da "zivilgesellschaftlichen" Anstrich zu verpassen.  

 

 

Zwei Revolutionstheorien bei Marx und Engels?

 

Doch an welche Elemente einer marxistischen Staatstheorie kann die Linke heute noch anknüpfen? Ist es die im Kommunistischen Manifest enthaltene Forderung, nach der das "Proletariat seine politische Herrschaft dazu benutzen (wird), der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren" (MEW Bd. 4, S. 481)? Ist es die in der Kritik des Gothaer Programms entwickelte Perspektive nach der "zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft eine Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere (liegt)? Dieser entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats (MEW Bd. 19, S.28). Oder bietet die berühmte Parole vom "Absterben der Staates", die von den kommunistischen Parteien im realen Sozialismus trotz der von ihnen in extenso betriebenen Vergötzung des Staates, zumindest in der Theorie in Ehren gehalten wurde, einen heute noch brauchbaren Ansatzpunkt?

 

Wenden wir uns auf der Suche nach einer Antwort den Überlegungen Losurdos zu. Er geht zunächst vom Vorhandensein von "zumindest zwei verschiedenen, ja entgegengesetzten Versionen der Revolutionstheorien" (Losurdo, 2000, S. 39) bei Marx aus. Die eine finde sich im ersten Band des Kapitals, wo es heißt: "Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateure werden expropriiert" (MEW Bd. 23, S.791). Für Losurdo das Beispiel einer "stark mechanistischen Version" (Losurdo 2000, S. 39), da Marx hier "die sozialistische Revolution als die unmittelbare und automatische Folge des kapitalistischen Akkumulationsprozesses ansieht". Die sozialdemokratische Zweite Internationale hat sich bei ihrer Verurteilung der Oktoberrevolution als einer verfrühten, da den unterentwickelten Produktionsverhältnissen Russlands nicht entsprechenden Umwälzung, denn auch stets auf diese Passagen berufen. Dabei blieb allerdings unbeachtet, dass Marx hier nur sehr allgemein über sich tendenziell herausbildende Widersprüche zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften sprach. Nicht von ungefähr lautete die Überschrift des Kapitels, in dem er diese Sätze schrieb: „Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation.“ 

 

Eine andere, politische Revolutionstheorie finde sich nach Losurdo im Manifest der Kommunistischen Partei, in den Klassenkämpfen in Frankreich 1848 - 1850 und in über die Jahre verstreuten Briefen und kürzeren Artikeln von Marx und Engels. So heißt es etwa in Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 - 1850 über die Lage im damaligen Europa: "Wenn daher die Krisen zuerst auf dem Kontinent Revolutionen erzeugen, so ist der Grund derselben stets in England gelegt. In den Extremitäten des bürgerlichen Körpers muss es natürlich eher zu gewaltsamen Ausbrüchen kommen als in seinem Herzen, da hier die Möglichkeit der Ausgleichung größer ist als dort" (MEW Bd. 7, S. 97). Eine Formulierung, an die Lenin später unmittelbar mit seinem Bild von der Kette, die an ihrem "schwächsten Glied bricht" anknüpfen sollte. Obwohl Marx und Engels in der Unterdrückung Irlands durch England sehr wohl ein koloniales Abhängigkeitsverhältnis sahen, blickten sie über Europa noch nicht hinaus. Die Entwicklung in den europäischen Kolonien wurde von ihnen ausschließlich in Abhängigkeit von einer erfolgreichen kapitalistischen Expansion der Metropolen gedacht. Erst Lenin und dann Gramsci werden später den Widerspruch zwischen Metropolen und Kolonien als revolutionäre Triebfeder thematisieren.             

 

Auch die berühmte Aussage im Manifest der Kommunistischen Partei über die historische Rolle des deutschen Proletariats gehört zu der politischen Version einer Revolutionstheorie: "Auf Deutschland richten die Kommunisten ihre Hauptaufmerksamkeit, weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht und weil es diese Umwälzung unter fortgeschritteneren Bedingungen der europäischen Zivilisation überhaupt und mit einem viel weiter entwickelten Proletariat vollbringt als England im 17. und Frankreich im 18. Jahrhundert, die deutsche Revolution also nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann" (MEW Bd. 4, S. 493).

 

Losurdo lässt keinen Zweifel daran, welche der beiden Revolutionstheorien er für fruchtbarer in der bisherigen Geschichte der sozialistischen Bewegung als auch für kommende Auseinandersetzungen ansieht. Zustimmend zitiert er deshalb Gramscis Aussage zugunsten der russischen Revolution, die – nach Gramsci – ja "gegen Das Kapital", d.h. entgegen der in dem Marxschen Hauptwerk dargestellten ökonomischen Voraussetzungen, ausgebrochen war, da es in Russland an "jener ökonomischen Reife mangelte, die nach Marx die notwendige Bedingung des Kollektivismus ist".

 

 

Marx, Engels, die "ideologische Dekadenz" und das "Absterben des Staates 

 

Anknüpfend an die politische Variante der Revolutionstheorie, sieht Losurdo gravierende theoretische Irrtümer und geschichtliche Fehleinschätzungen bei den Klassikern der Arbeiterbewegung hinsichtlich ihrer Staatseinschätzung, die einen fatalen Einfluss auf die ganze weitere theoretische Geschichte des Sozialismus gehabt hätte. Er bezieht sich insbesondere auf die theoretische Bewältigung der revolutionären Krisen des 19. Jahrhunderts, auf die 48er Revolution und den Aufstand der Commune 1870/71 in den Marxschen Schriften Klassenkämpfe in Frankreich 1848 - 1850  und Bürgerkrieg in Frankreich. Sowohl Marx als auch Engels hätten in diesen Krisen der Bourgeoisie und damit dem Kapitalismus als Produktionsweise vorschnell das Totenglöcklein geläutet, obwohl sich doch diese Gesellschaftsformation zu dieser Zeit noch in ihrem Aufstieg befand und das französische Bürgertum erst nach 1871, und damit gut ein Jahrhundert nach der Revolution, in der Republik ihr Gleichgewicht fand. "Die These von der ideologischen Dekadenz (bei Marx und Engels - A.W.) war eindeutig von der Überzeugung dominiert, dass der historische Zyklus der Bourgeoisie abgeschlossen wäre, so dass nun die proletarische Revolution auf der Tagesordnung stünde" (Losurdo 2000, S. 50). Für Engels sei die Bourgeoisie nach Abschluss ihres revolutionären Zyklus "nunmehr nicht nur auf politischem Gebiet konservativ oder reaktionär geworden, sondern auch auf kultureller und ideologischer Ebene dekadent, ja im gewissen Sinne absterbend" (Losurdo 2000, S. 48).

 

Obwohl diese Einschätzungen von Marx und Engels tatsächlich mit den sozialen und politischen Krisen der kapitalistischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts zusammenfielen, leitet sich ihre Sichtweise nach Losurdo nicht aus "einer konkreten historischen Analyse, sondern unmittelbar von einer theoretischen Voraussetzung (ab), über deren Gültigkeit nachzudenken sich lohnt" (Losurdo 2000, S. 61). Er bezieht sich hier auf die folgende Aussage in der Deutschen Ideologie: "Je mehr die normale Verkehrsform der Gesellschaft und damit die Bedingungen der herrschenden Klasse ihren Gegensatz gegen die fortgeschrittenen Produktivkräfte entwickeln ..., desto unwahrer wird natürlich das Bewusstsein" (MEW Bd. 3, S. 274). Losurdo folgert daraus: " 'Wenn die Empörung der modernen Produktivkräfte' gegen die bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse schon begonnen hätte, wie auch im Manifest der Kommunistischen Partei  betont wird, dann hätte das tatsächlich zur Folge gehabt, dass auch die politische und ideologische Dekadenz der Bourgeoisie begonnen hätte" (Losurdo 2000, S. 61). Und: "Ihrer (Marx' und Engels' - A.W.) Meinung war die unzähmbare Rebellion der neuen Produktivkräfte bereits vor der Existenz einer kritischen Theorie der bürgerlichen Gesellschaft bewiesen." Um dann zu dem harten Urteil zu kommen: "Auf diese Weise wurde im Endeffekt ein mechanistisches Verhältnis zwischen Ökonomie und Ideologie konstruiert" (Losurdo 2000, S. 62). Und noch zugespitzter: "Das mechanistische Denken verband sich mit der revolutionären Ungeduld" (Losurdo 2000, S. 64).

 

Marx und Engels demnach als geistige Ahnherren einer eschatologischen Sicht auf die Geschichte und eines mechanistischen Verständnisses von Ökonomie und Gesellschaft, in deren Folge der Staat als Überbaufunktion nach der Revolution nur als absterbend gesehen werden kann? Hier ist Vorsicht angesagt. Zunächst einmal sind kritische Fragen hinsichtlich des philologisch exakten Umgangs mit den Texten von Marx und Engels in dem Buch Der Marxismus des Antonio Gramscis zu stellen. Das betrifft etwa die den beiden zugeschobene Bezeichnung "ideologische" bzw. "politische Dekadenz" der Bourgeoisie. Ein Hinweis, wo diese Bezeichnungen von Marx und Engels und in welchem Zusammenhang gebraucht wurden, findet sich leider nicht. Und dieser Mangel ist keine Kleinigkeit, wird doch an nicht weniger als 25 Stellen mit diesen Worten die Position von Marx und Engels beschrieben. Womöglich ist diese Nachlässigkeit der Übertragung aus dem Italienischen in die gekürzte deutsche Fassung geschuldet.

 

Überdies korrigiert Losurdo später sein anfängliches Urteil über die beiden Klassiker: "Vorweg ist zu sagen, dass die Staatstheorie bei Marx und Engels weit problematischer und komplexer war als die Formel auf die sie häufig reduziert wird: auf ein finales Absterben des Staates in der kommunistischen Gesellschaft (Losurdo 2000, S. 89). Er zitiert dann deren beider Schrift Rezensionen aus der Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue, in der sie den bürgerlichen Staat als die "wechselseitige Assekuranz der Bourgeoisklasse gegen ihre einzelnen Mitglieder wie gegen ihre exploitierte Klasse" (MEW Bd. 7, S. 288) bezeichnen.[7] Als Beispiele für diese notwendige Schutzfunktion des Staates für die Ausgebeuteten geht er anschließend auf Engels' frühe Schrift Die Lage der arbeitenden Klasse in England ein, in der bekanntlich von der Einschränkung der freien Konkurrenz durch Staatsaufsicht gesprochen wird. Auch entsprechende Aussagen aus dem Kapital werden von ihm zitiert.

 

Losurdo hätte vor allem auch die Stelle aus der Kritik des Gothaer Programms anführen können, in der sich Marx vorsichtig zur zukünftigen Rolle des Staates äußert, ohne ihn dabei etwa des Absterbens zu überantworten: "Es fragt sich, welche Umwandlung wird das Staatswesen in einer kommunistischen Gesellschaft untergehn (erleiden-A.W.)? In anderen Worten, welche gesellschaftliche Funktion bleibt dort übrig, die jetzigen Staatsfunktionen analog sind? Diese Frage ist nur wissenschaftlich zu beantworten, und man kommt dem Problem durch tausendfache Zusammensetzung des Wortes Volk und Staat keinen Flohsprung weiter" (MEW Bd. 19, S. 28).

 

Die kleine Schrift Kritik des Gothaer Programms ist aber auch aus einem anderen Grund hier von Interesse. Bekanntlich zirkuliert der Text 1875 nur unter wenigen ausgewählten Vertrauten. Erst 1891 macht sie Engels bekannt. Er begründet dies in seinem Vorwort mit den damals heftigen Fraktionskämpfen um die junge Partei, sowohl mit den Anhängern Lassalles, der selbst von einem Ausgleich mit dem preußisch dominierten deutschen Obrigkeitsstaat träumte, als auch mit den Anhängern Bakunins: "Zweitens aber lagen wir damals, kaum zwei Jahre nach dem Haager Kongress der Internationale, in heftigstem Kampf mit Bakunin und seinen Anarchisten, die uns damals für alles verantwortlich machten, was damals in Deutschland geschah; wir mussten also erwarten, dass man uns die geheime Vaterschaft dieses Programms zuschob" (MEW Bd. 19, S. 521).

 

Eine solche Rücksichtnahme auf damals in der europäischen Arbeiterbewegung - insbesondere in ihren unterentwickelteren süd- und osteuropäischen Teilen - weit verbreitete anarchistische Vorstellungen stellt wohl auch Engels Aussage über die Rolle des Staates in Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft dar: "Indem er (der Staat - A.W.) endlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. (...) Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergreifung der Produktionsmittel - ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht 'abgeschafft', er stirbt ab" (MEW Bd. 20, S.261f.). Eine fatale Einschätzung, die noch große Folgen für die sozialistische Bewegung haben sollte. [8] 

 

Auch für Losurdo steht außer Zweifel, dass taktische Rücksichtnahmen für diese "Schwankungen und Widersprüche" (Losurdo 1999, S. 187) in den Aussagen der beiden Klassiker zum Staat verantwortlich sind: "Während Neoliberale und Bourgeois die sozialistische und Arbeiterbewegung als 'etatistisch' verurteilten, befand sich der marxistisch orientierte Teil dieser Bewegung in gewisser Hinsicht in Verlegenheit. Für eine mehr oder weniger ferne Zukunft lancierte sie die Parole vom 'Absterben des Staates', womit sie mit dem Anarchismus in Einklang stand; was hingegen die konkrete und tagtägliche Agitation betraf, musste die marxistisch ausgerichtete Arbeiterbewegung das Eingreifen der Staatsgewalt in die ökonomische Sphäre fordern, was den unvermeidlichen Zusammenstoß mit den halb-anarchistischen Parolen der konstituierten Interessen zur Folge hatte" (Losurdo 2000, S. 91). Und in einer anderen Schrift kommt er zu folgendem Resümee: "Obgleich von ihrer historischen und psychologischen Genese her zu verstehen, mündete die These vom Absterben des Staates in der eschatologischen Vision einer konfliktfreien Gesellschaft, die folglich auch keine juridischen Normen brauchte, um Konflikte zu begrenzen und zu regeln" (Losurdo 2000a, S. 49).

 

Lenin und das Erbe des Kommunismus

 

Mit der Revolution in Russland sollte das bisher rein theoretisch behandelte Problem des Umgangs der Sozialisten mit dem Staat in einer nachkapitalistischen Gesellschaft praktisch werden. Durch das verhängnisvolle Anknüpfen an die These vom absterbenden Staat macht es sich die junge Sowjetrepublik ungeheuer schwer, ihren Weg zu finden. "Auf jeden Fall macht das Warten auf das Verschwinden jeden Konflikts und das Absterben des Staates und der politischen Gewalt überhaupt es unmöglich, das Problem der Transformation des aus der sozialistischen Revolution hervorgegangenen Staates zu lösen; diese Erwartung begünstigt das Entstehen bzw. das Fortdauern eines banalen und unergiebigen 'Umstürzlertums', einer Haltung, die unfähig ist, der Emanzipation der subalternen Klassen Konkretheit und Stabilität zu verleihen. Nach der Oktoberrevolution gab es exponierte revolutionäre Sozialisten, die verkündeten, dass 'die Idee der Verfassung eine bürgerliche Idee' sei; auf einer solchen Grundlage ist es nicht nur leicht, jedwede terroristische Maßnahme gegen eine Notlage zu rechtfertigen; es wird auch höchst schwierig oder unmöglich der Übergang zu einer konstitutionellen Normalität, die schon im Vorfeld als 'bürgerlich' abgestempelt ist. So lanciert schließlich der Ausnahmezustand die Utopie, und diese wiederum verschärft den Ausnahmezustand" (Losurdo 2000a, S. 49). Natürlich konnten Marx und Engels die konkrete Situation, in der sich Russland 1917 befand, mitten in einem mörderischen Krieg, nicht vorausahnen. "Und dennoch wäre es falsch, über die Grenzen ihrer Theorie hinwegzusehen, denn sie könnten den Degenerationsprozess in der damaligen Sowjetunion begünstigt haben. Die Erwartung der Auslöschung des Staates nach einer kurzen Zeitspanne des sozialistischen Übergangs hat die Ausarbeitung einer Theorie des Staates und des Rechtsstaats erschwert und verhindert" (Losurdo 1993, S. 67). 

 

An dieser Stelle muss natürlich Lenins Werk Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus genannt werden, in dem er mit seiner endzeitlichen These von der "Fäulnis des Imperialismus" die bürgerliche Entwicklung endgültig an ihrem politischen Ende wähnt. In Staat und Revolution greift er die These vom Absterben des Staates mit der Formulierung, wonach das siegreiche Proletariat "nur einen absterbenden Staat braucht" wieder auf und prägt das Wort von der "räuberischen Staatsmacht", die mit dem "Verschlingen aller Kräfte der Gesellschaft" (droht) (LW Bd. 25, S. 403). Auch Marx ging bereits 1848 mit Blick auf die Niedermetzelung der Pariser Arbeiter von der in Zukunft unmöglichen Durchsetzung sozialistischer Forderungen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft aus. In Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850 schrieb er : "Erst seine Niederlage (des Pariser Proletariats - A.W.) überzeugte es von der Wahrheit, dass die geringste Verbesserung seiner Lage eine Utopie bleibt innerhalb der bürgerlichen Republik, eine Utopie, die zum Verbrechen wird, sobald sie sich verwirklichen will. An die Stelle seiner, der Form nach überschwänglichen, dem Inhalte nach kleinlichen und selbst noch bürgerlichen Forderungen, deren Konzession es der Februarrevolution abringen wollte, trat die kühne revolutionäre Kampfparole: Sturz der Bourgeoisie! Diktatur der Arbeiterklasse" (MEW Bd. 7, S. 32f.).

 

Konfrontiert mit der ungeheuren Menschenschlächterei des ersten Weltkriegs geht es nun Lenin 1917 wie Marx und Engels in den großen revolutionären Krisen des 19. Jahrhunderts 1848 und 1870/71: "Die anfechtbaren Überlegungen von Marx und Engels über den Staat lassen sich weniger mit ideologischen Beeinflussungen erklären als mit der realen historischen Erfahrung, das heißt mit der Erfahrung der radikalen Umwandlung des repräsentativen Regimes in eine Militärdiktatur, einer Umwandlung, die vom bestehenden Staatsapparat und zuweilen mit der Unterstützung und der Billigung der liberalen Kreise betrieben wurde, die ihrerseits nicht müde wurden, die Unverletzlichkeit der Spielregeln zu proklamieren" (Losurdo 2000, S. 95).    

 

Doch mit der erfolgreichen Oktoberrevolution änderte sich bekanntlich die Einstellung Lenins und der Bolschewiki zum Staat schlagartig. Die objektiv gegebenen Notwendigkeiten des Aufbaus des Sozialismus in einem Land zwangen dazu. Jegliche anarchistischen Vorstellungen von einem Absterben des Staates wurden quasi über Nacht abgeworfen. 1923 spricht Lenin in dem berühmten Aufsatz Lieber weniger, aber besser, von "unserem Staatsapparat", und dass es um den "Aufbau eines wirklich neuen Apparats (gehe), der wirklich den Namen eines sozialistischen, eines sowjetischen usw. verdient" (LW 33, S. 480). Auch hielt er es für unbedingt notwendig, von den "besten westeuropäischen Vorbildern" zu lernen (LW 33, S. 475). Gemeint waren damit Deutschland, England, Amerika oder Kanada. Doch da sich diese abrupte Kehrtwendung auf dem Boden einer unveränderten Theorie eines quasi anarchischen "Antiautoritarismus" vollzog, brachte die nun von heute auf morgen notwendig auszuübende Staatsgewalt nach Losurdo nichts anderes als einen "Kasernenkommunismus"[9] (MEW Bd. 18, S. 665) hervor. "Eben dies war die Dialektik, die sich nach der Oktoberrevolution entwickelte" (Losurdo 2000, S. 113). Ein mit Sicherheit diskussionswürdiger Ansatz zur Erklärung des Stalinismus, der den herkömmlichen Deutungsmuster, jenen die in erster Linie die Unterentwickeltheit Russlands bzw. die Persönlichkeitsstruktur Stalins als Gründe heranziehen, zumindest an die Seite zu stellen ist.     

 

In der von der Kommunistischen Internationale nach 1920 kanonisierten Bewertung des kapitalistischen Staates blieb es bei der These seines Absterbens nach der Revolution und dem Leninschen Verdikt von der Fäulnis des Imperialismus. Eine Sichtweise, die sich unverändert bis zum bitteren Ende 1989/91 hielt. Mehr noch: "Die ökonomische Instabilität der Nachkriegszeit und der Ausbruch der großen Krise von 1929, der Vormarsch des Faschismus und die fortschreitende Verschärfung der internationalen Widersprüche, die dann zu einem weiteren katastrophalen weltweiten Konflikt führen sollten, all dies schien die These von der politischen und kulturellen Agonie eines ganzen Gesellschaftssystems zu bestätigen (Losurdo 2000, S. 73). In diesen Kontext bezieht Losurdo auch die fatale These des Sozialfaschismus mit ein.

 

 

Gramsci, der Staat und die nationale Frage

 

Im Gegensatz dazu stehen die Gedanken Antonio Gramscis, des Führers der italienischen Kommunisten, der nach dem Sieg des Faschismus 1922 die Gründe für das Scheitern der Revolution im Westen untersucht. "Mit der deutlichen Distanzierung von jeder Form von Eschatologie finden wir bei Gramsci von Anfang an die Ablehnung oder die mehr oder weniger radikale Einschränkung der These vom Absterben des Staates" (Losurdo 2000, S. 89). Und: "Im Marxismus des 20. Jahrhunderts und in der marxistischen Tradition ganz allgemein war Gramsci der Autor, der sich am kritischsten gegenüber den anarchistischen und eschatologischen Tendenzen äußerte" (Losurdo 2000, S. 100). Gramsci kritisierte vehement das in der Kommunistischen Internationale vorherrschende Denken, nach dem ökonomische Krisen direkt zu revolutionären Umbrüchen führen. "Ausgeschlossen kann werden, dass die unmittelbaren Wirtschaftskrisen von sich aus fundamentale Ereignisse hervorbringen" (Gf, Bd. 7, S. 1563). Worauf es Gramsci ankommt, beschreibt Losurdo wie folgt: "Er versuchte die Marxsche Theorie zu beleben, wobei er jede Art von mechanistischem Denken zurückwies und betonte, dass das Proletariat in der Lage sein müsse, das Erbe der kulturellen und politischen Erkenntnisse der vorhergehenden Jahrhunderte anzutreten; es müsse dabei zwischen dem, was an der bürgerlichen Revolution 'hinfällig' sei, und dem, was dagegen eine permanente Errungenschaft für die ganze Menschheit darstelle, unterschieden werden" (Losurdo 2000, S. 114).

 

Zu jenen Errungenschaften zählte für Gramsci, wenigstens für eine noch nicht absehbare Zeit der menschlichen Geschichte, den Staat in seiner Form als moderner Nationalstaat. Als Aufgabe des Sozialismus bezeichnete er in der Zeitschrift L'Ordine Nuovo ausdrücklich die Schaffung des "Sozialstaats der Arbeit und der Solidarität" (zitiert nach Losurdo 2000, S. 100). Dabei ging Gramsci von der Voraussetzung aus, dass "auch in der kapitalistischen Entwicklungsphase der Gesellschaft nicht nur der Staat, sondern eine Vielzahl von Nationalstaaten bestehen bleiben werden" (Losurdo 2000, S. 116).

 

Mit dem Selbstbewusstsein eines italienischen Kommunisten, dessen Partei schon in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf Distanz zu einem von der Sowjetunion dirigierten Internationalismus gegangen war, der in seinem Machtbereich die Probleme der nationalen Souveränität nicht lösen konnte,[10] formuliert Losurdo ein vernichtendes Urteil über die "Missachtung der nationalen Frage, die eine so verheerende Rolle in der Geschichte der UdSSR und des 'sozialistischen Lagers' gespielt hat und entscheidend zu deren Auflösung beigetragen hat. Der Zusammenbruch des 'sozialistischen Lagers' ist die Tragödie und Farce eines Universalismus, der zunehmend aggressiver werdend, immer neue Widersprüche und immer neue Feinde gebiert, um schließlich im Debakel zu enden" (Losurdo 2000c, S. 137). Dem entspricht auch seine Einschätzung, dass letztendlich in der Außenpolitik der UdSSR die eigentlichen Gründe für deren Absturz zu suchen sind: „Den Gnadenstoß hat vielleicht das progressive Hervortreten der Großmacht-Arroganz und der hegemonischen Bestrebungen des Großen Bruders gegeben. Es ist kein Zufall, dass die von Reagan und Johannes Paul II. vereinbarte Operation in erster Linie Polen zum Ziel hat, das Land, das vielleicht schmerzlicher als alle anderen das Gewicht der von der UdSSR auferlegten Unterdrückung und nationalen Demütigung verspürte“ (Losurdo 1994, S. 79).[11]

 

 

Die Linke und ihr Verhältnis zum Staat

 

Kehren wir nun zu unseren Ausgangsfragen zurück. Es ging zunächst um den vermeintlichen Gegensatz zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Im Anschluss daran wurde aufgrund der sowohl der kommunistischen als auch der sozialdemokratischen Bewegung unterstellten "verabsolutierten Staatsorientierung" die Einschätzung des Staates in der Geschichte der sozialistischen Bewegung untersucht. Die anhand der Aussagen Losurdos dargestellte schwankende, da von aktuellen Ereignissen geprägte Handhabung dieses heiklen Themas durch die Klassiker, hat eine konsolidierte marxistische Theorie des Staates nicht entstehen lassen. Die Staatstheorie wurde zum „schwächsten Punkt der Marxschen Theorie und der marxistischen Tradition" ( "Losurdo 1995, S. 115) „Losurdo unternimmt nicht mehr und nicht weniger, als die in den Alltagsverstand gelangte Formel vom 'Absterben des Staates' zu entmystifizieren" (Kebir, 2001). Tatsächlich gab es wohl keinen anderen Bereich in den realsozialistischen Ländern, in dem Theorie und Praxis - hier die Theorie des "Absterben des Staates", dort die Praxis der Staatsverherrlichung - in einem solch offenkundigen Widerspruch zueinander standen. Und doch wirkte die theoretisch begründete Verachtung der Theorie der Staaten nachhaltig auf die Praxis ein. In all den Jahrzehnten seit der Oktoberrevolution gelang es weder in der Sowjetunion noch in den teilweise auf eine zivilgesellschaftliche Tradition aufbauenden übrigen Staaten des europäischen realen Sozialismus, einen funktionierenden Rechtsstaat zu errichten. Die Gewaltenteilung blieb kümmerlich entwickelt und Partei- und Staatsfunktionen wurden nicht klar funktional voneinander getrennt, in einigen Aspekten bot sich gar das Bild von vormundschaftlich feudalen Verhältnissen.[12] So liegt der nur auf den ersten Blick absurde Schluss nahe, dass es in den Ländern des realen Sozialismus, trotz der überreichlich vorhandenen äußeren Attribute von demonstrativer Staatlichkeit und der Präsenz einer weitverzweigten repressiven staatlichen Gewalt, eher ein zuwenig an Staat, genauer gesagt an Rechtsstaat, gab!     

 

Als Folge der theoretisch unsicheren Handhabung der Staatsfrage kam es in der Geschichte der sozialistischen Bewegung immer wieder zu den angesprochenen jähen Kehrtwendungen. Es spricht einiges dafür, dass wir es heute bei der Klage über eine "verabsolutierte Staatsorientierung" mit einer neuerlichen, theoretisch nicht näher begründeten abrupten Umkehr zu tun haben. Diesmal allerdings in Richtung eines Linksliberalismus, da ja als Alternative ausdrücklich "libertäre und zivilgesellschaftliche" Sozialismuskonzepte genannt werden. Dies hätte zur Folge, dass der Staat vornehmlich in seiner Funktion als Garant der Gewährleistung individueller Freiheits- und Schutzrechte, d.h. der "negativen Freiheiten", gesehen wird und weniger als Instrument zur Durchsetzung von sozialen Partizipations- und Schutzrechten, d.h. "positiver Freiheiten". Mit der längst überfälligen Anerkennung der Bedeutung des Rechtsstaats ginge damit zugleich die Abwertung seiner positiven Gestaltungsfunktion im Interesse der sozial Benachteiligten einher, die sich bekanntlich einen schwachen Staat nicht leisten können. Die Anerkennung des Staates als einer sittlichen Gemeinschaft, die sich in dem Maße konstituiert, indem er jeden Bürger als Träger unveräußerlicher Rechte anerkennt, würde dabei auf der Strecke bleiben. Die Wiedergewinnung des Selbstbewusstseins der Linken ist aber nur möglich, wenn sie sich der positiven Bedeutung beider Seiten des Staates bewusst wird. 

 

Literatur

Deutz-Schroeder, Monika/ Staadt, Jochen, (1994) Teurer Genosse! Briefe an Erich Honecker, Berlin

 

Kebir, Sabine (1991), Antonio Gramci's Zivilgesellschaft, Hamburg

 

dies.     (2001), Laufsteg zur Chancengleichheit, in Freitag 37 vom 7.9.2001

 

Losurdo, Domenico (1993), Marx und die Geschichte des Totalitarismus; in: Topos.      Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie 1, S. 55-75

 

ders.   (1994), Demokratische Revolution oder Restauration? Über den Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ in Osteuropa; in: Topos 3, S. 59-92

 

ders.    (1995), Nach dem Zusammenbruch: Rückkehr zu Marx? in: Topos 5, S. 95-117

 

ders.    (1999), Abstrakt/Konkret. Hegel, Nietzsche, Marx (und die marxistische Theorie); in: Topos 13/14, S.165- 196

 

ders.    (2000), Der Marxismus Antonio Gramscis. Von der Utopie zum kritischen Kommunismus, Hamburg, 174 S.

 

ders.    (2000a), Flucht aus der Geschichte, Die kommunistische Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass, Marxistische Blätter Flugschriften 01, Essen, 54 S.

 

ders.    (2000b), Hegel und die Freiheit der Modernen, Frankfurt/M

 

ders.    (2000c), Der schwierige Universalismus. Menschenrechte, sozialer Konflikt und geopolitische Kontroverse; in: Topos 15, S. 109-147

 

Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus – Entwurf, in: Pressedienst PDS, 27.04.01, S.22 

 

Wehr, Andreas (2001), Eine zeitbedingte Fehlinterpretation in:  Neues Deutschland vom 18.05.01

 

Wehr, Andreas (2002), Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten und demokratische Spielregeln, in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung Nr. 49, März 2002, S. 115 - 127    

 

Im Text werden folgende Abkürzungen benutzt:

 

Gf             Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von K.Bochmann und W.F.Haug, Hamburg 1991 ff.

 

LW           W.I.Lenin, Werke, Berlin 1955 ff.

 

MEW: K. Marx –F. Engels, Werke, Berlin, Dietz, 1955 ff.

 



[1] Der erste Teil ist unter der Überschrift Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten und demokratische Spielregeln. Über Domenico Losurdos Beitrag zur Wiedergewinnung des Selbstbewusstseins der Linken in Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung Nr. 49, S.115-127 erschienen.

[2] Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus - Entwurf, in: Pressedienst PDS, 27.04.01, S.22 

[3] Programm, a.a.O., S. 23

[4] Vollständig lautet der Satz im Manifest der Kommunistischen Partei: "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." (MEW Bd. 4, S. 482). Da dieser Satz im Manifest am Ende eines Absatzes steht, der sich mit den Klassen im Kapitalismus und ihre notwendige Aufhebung behandelt, fasst er denn auch das Gesagte in einem Ausblick zusammen: Erst die Aufhebung des Klassengegensatzes schafft die Voraussetzung, dass ein jeder die Möglichkeit zur freien Entwicklung hat, d.h. alle können nicht wirklich frei sein, wenn nicht ein jeder frei vom Druck der Klassengegensätze ist. Einer Interpretation Stefan Hermlins folgend, haben die Autoren des Programmentwurfs diese Aussage hingegen umgedreht, wenn er von ihnen, nun herausgelöst aus seinem Zusammenhang mit der Aufhebung der Klassenverhältnisse, so interpretiert wird, dass die freie Entwicklung des einzelnen zur Bedingung der Befreiung aller gemacht wird. Vgl. dazu auch A.Wehr, Eine zeitbedingte Fehlinterpretation in:  Neues Deutschland vom 18.05.01

[5] Andreas Wehr, Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten und demokratische Spielregeln a.a.O.    

[6] Domenico Losurdo, Der Marxismus des Antonio Gramscis. Von der Utopie zum "kritischen Kommunismus", Hamburg 2000, im weiteren Text zitiert als Losurdo 2000.

[7] Diese Aussage steht der Ansicht von Hegel nahe, nachdem sich der Staat als sittliche Gemeinschaft in dem Maße konstituiert, indem er jeden Bürger als Träger unveräußerlicher Rechte anerkennt, vgl. dazu Losurdo 2000b, S. 95

[8] Engels und Marx kannten natürlich die Propaganda Bakunins zur Abschaffung des Staates sehr genau. In ihrer Schrift Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiter-Assoziation. Im Auftrage des Haager Kongresses verfasster Bericht über das Treiben Bakunins und der Allianz der sozialistischen Demokratie höhnten sie: "Er (Bakunin -A.W.) dekretierte die Abschaffung des Staates. Aber der Staat, in der Form und Gestalt von zwei Kompanien Bourgeois-Nationalgarden drang ein durch einen Eingang, den man zu besetzen vergessen hatte, und schickte Bakunin eiligst auf den Weg nach Genf" (MEW 18, S.352).    

[9] So die Formulierung von Engels, mit der er in seiner Schrift "Soziales aus Russland" eine Form des russischen Bauernkommunismus beschreibt.

[10] Man denke nur an die von Breschnew ins Leben gerufenen Doktrin der begrenzten Souveränität, die lediglich eine Umschreibung des jederzeitigen Interventionsrechts der Sowjetunion in die inneren Angelegenheiten der Staaten des Warschauer Vertragssystems war.   

[11]  Bei der Bilanzierung der sowjetischen Außenpolitik darf allerdings nicht die positive Wirkung übersehen werden, die die Existenz des realsozialistischen Lagers auf das Kräfteverhältnis in der Welt hatte, was etwa die Möglichkeit der Emanzipation der Völker der Dritten Welt entscheidend begünstigte.

[12] Was in entwickelten modernen Gesellschaften in der Regel Angelegenheit von Verwaltungsgerichten ist, war etwa in der DDR ein quasi gnadenrechtlich ausgebildetes Privileg der Parteiführungen. Allein Erich Honecker erhielt in seiner Amtszeit von 1971 bis 1989 an die zwei (!) Millionen Briefe, viele davon in seiner Eigenschaft als "letzte Instanz". Vgl. Teurer Genosse! Briefe an Erich Honecker, hrg. von Monika Deutz-Schroeder und Jochen Staadt, Berlin 1994

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