„Schwächung der imperialen EU” - Brexit-Deal unter der Lupe

Knapp 1250 Seiten hat der Vertrag, auf den sich die EU und Großbritannien geeinigt haben. Doch was steht drin und wem bringt die Einigung mehr? SNA News hat darüber mit dem EU-Experten Andreas Wehr gesprochen.

- Herr Wehr, nach zähem Ringen haben sich die EU und Großbritannien auf einen Brexit - Deal geeinigt, der die zukünftigen bilateralen Beziehungen regeln soll. Die Bundesregierung bezeichnet die Einigung als „großen Erfolg“, der dazu noch „in Rekordzeit“ erzielt worden sei. Beide Seiten würden von dem Deal profitieren. Würden Sie dem zustimmen?

Tatsächlich wurde das Abkommen in nur neun Monaten ausgehandelt. Zum Vergleich: Die Verhandlungen über das vergleichbar umfangreiche Freihandelsabkommen Ceta zwischen der EU und Kanada dauerten nicht weniger als sieben Jahre. Viele Skeptiker gingen davon aus, dass die von britischer Seite festgesetzte Frist für die Verhandlungen bis Ende dieses Jahres auf keinen Fall ausreichen werde. Es ist aber anders gekommen.

Beide Seiten werden von dem Deal profitieren. Denn sowohl die EU als auch Großbritannien konnten jeweils für sie wichtige Positionen im Vertrag festschreiben: Die Waren produzierenden Unternehmen der Länder der EU erhalten die Sicherheit, ihre Produkte auch künftig ohne Zölle und in unbeschränkter Menge nach Großbritannien exportieren zu dürfen.

Für London ist entscheidend, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs künftig in Großbritannien nicht mehr gilt - das Land erhält damit ein wichtiges Element seiner Souveränität zurück. Dies ist ein großer Sieg für die britische Demokratie! Zusammenfassend kann man feststellen: Es ist ein Kompromiss erzielt worden, mit dem beide Seiten leben können.

- Der ehemalige britische Botschafter Craig Murray hat auf seinem Blog hingegen kommentiert, es sei ein „Cliff-Hanger-Drama“ von Medien und Politik über einen Deal inszeniert worden, von dem klar gewesen sei, dass er kommen werde. Wie bewerten Sie diese Einschätzung?

Ich weiß nicht, worauf er seine Sicherheit gestützt hat. Die meisten Beobachter gingen im Unterschied zu ihm davon aus, dass es in den letzten Wochen mehrfach auf Messers Schneide stand, ob überhaupt ein Abkommen zustande kommt. Man darf schließlich nicht übersehen, dass es auf beiden Seiten starke Kräfte gab, die einen Vertrag nicht wollten. So hätten es nicht wenige konservative britische Abgeordnete lieber gesehen, wäre der Deal nicht zustande gekommen.

Unter ihnen ist doch der Glaube verbreitet, Großbritannien könne am besten auf der Ebene der Welthandelsorganisation mit der EU auskommen. Das berücksichtigt aber nicht die Tatsache, dass die langjährige Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU zu einer engen Verknüpfung mit den Ländern des Kontinents geführt hat. So beträgt der Anteil der Ausfuhren des Landes allein in die EU 43 Prozent. Die gesamte EU exportierte im vergangenen Jahr 13 Prozent ihrer Waren in das Vereinigte Königreich.

Auch unter den Mitgliedern des Europäischen Parlaments gab es viele, die gar kein Abkommen wollten. Sie setzten alles daran, London auf die Knie zu zwingen. Ich erinnere nur an das Wort des EVP-Politikers Manfred Weber, der Brexit dürfe "gefühlt kein Erfolg" werden. Auch Europaabgeordnete der Sozialdemokraten und der Grünen wollten ein Exempel statuieren, um - wie es hieß - andere EU-Länder abzuschrecken, es wie die Briten zu machen und die Union zu verlassen. Zum Glück haben sich beide Positionen nicht durchgesetzt.

- Dem britischen Premier Boris Johnson schlägt im eigenen Land derzeit ja heftige Kritik entgegen. So fühlen sich die Fischer betrogen, weil er ihnen nicht – wie zuvor versprochen – die Rechte an allen Fischen in ihrer exklusiven Wirtschaftszone gesichert hat. Sie fürchten beträchtliche Einbußen. Waren die britischen Fischer ein notwendiges Bauernopfer?

Ich glaube, dass die Frage der Fischfangrechte eine übertriebene Rolle in der öffentlichen Bewertung des Abkommens spielt. Tatsächlich stehen der Fischfang und die fischverarbeitende Industrie nur für ein Prozent der britischen Wirtschaftsleistung. Die gegenwärtige Kritik kann nur mit der einstmals großen Bedeutung des Fischfangs in der Geschichte des Landes erklärt werden. Diese nostalgische Sicht findet man aber auch in anderen EU-Ländern. So hatte der französische Präsident Emmanuel Macron versprochen, dass mit dem Abkommen den französischen Fischern kein Nachteil entstehen wird. Der Brexit-Deal sieht im Ergebnis nur einen langsamen Anstieg der Fangquoten für die britischen Fischer vor. Es sieht daher ganz danach aus, dass für Boris Johnson andere Fragen wichtiger waren.

- Im Kern bezieht sich die Einigung auf eine umfassende Wirtschaftspartnerschaft mit einem Freihandelsabkommen ohne Zölle und Quoten. Fairer Wettbewerb soll auf beiden Seiten garantiert werden. Was lässt sich in puncto Wirtschaft insgesamt über die erzielte Einigung sagen? Ist sie fair und praktikabel?

Eine lang umstrittene Frage war, wie Großbritannien von der EU daran gehindert werden kann, sich zukünftig Wettbewerbsvorteile gegenüber den EU-Ländern zu verschaffen, indem es seinen Unternehmen staatliche Beihilfen gewährt, denn diese sind ja in der EU grundsätzlich verboten. In Frage stand auch, wie man Großbritannien dazu bringen kann, die Standards der EU einzuhalten.

Michel Barnier hatte als Chefunterhändler der EU lange darauf gedrängt, dass sich London hierfür weiter der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes unterwirft. Das hätte aber bedeutet, dass die britische Regierung damit einen der wichtigsten Beweggründe der Brexit-Befürworter ignoriert hätte, denn die Forderung nach Wiedererlangung der Souveränität über die eigene Rechtsprechung war und ist für viele unter ihnen das wichtigste Argument für den Austritt.

Am Ende hat man sich darauf geeinigt, dass Großbritannien die bestehenden EU-Regelungen beibehält, aber nicht mehr gezwungen ist, künftig jede einzelne Verordnung oder Richtlinie, die aus Brüssel kommt, zu übernehmen. Damit ist das Land künftig freier als die ebenfalls außerhalb der EU stehenden Länder Norwegen und die Schweiz, die aber vertraglich verpflichtet sind, alle den Binnenmarkt betreffenden Regelungen in ihre Rechtssysteme zu übernehmen. Für die britische Seite stellt das einen großen Verhandlungserfolg dar.

Es ist absehbar, dass die EU und Großbritannien das heute noch einheitlich geltende EU-Regelungswerk für ihre Ökonomien nicht mehr lange haben werden. Die Volkswirtschaften werden sich vielmehr langsam, aber sicher voneinander entfernen, da London nicht länger verpflichtet ist, alle EU-Regelungen zu übernehmen. Im Handelsverkehr können daraus natürlich Konflikte entstehen, wie das ja auch mit anderen Ländern der Fall ist, mit denen die EU Freihandelsverträge geschlossen hat: etwa mit Südkorea, Vietnam oder Japan. Deshalb ist ja in dem Vertrag mit Großbritannien auch ein Streitschlichtungsverfahren für den Fall vorgesehen, dass sich die eine oder die andere Seite ungerecht behandelt fühlt. Selbst die Verhängung wirtschaftlicher Sanktionen soll künftig zur Ahndung solch unfairer Handelspraktiken möglich sein.

- Der Vertrag soll über Wirtschaft hinaus auch Kooperationen in anderen Bereichen sichern, darunter Dienstleistungen, Berufsqualifikation, Umwelt- und Energiefragen, Verkehr, Sozialversicherung und Forschung und Entwicklung. Hier soll Großbritannien an einer Reihe von EU-Programmen beteiligt werden. Inwiefern ist das umsetzbar, wenn GB formal nicht mehr dazugehört?

Dies ist durchaus möglich. Schon jetzt nehmen an einzelnen Kooperationsprogrammen der EU auch Nichtmitgliedsländer teil, wie es etwa beim EU-Forschungsprogramm Cost der Fall ist. Natürlich wird sich Großbritannien dann auch an den Kosten des jeweiligen Programms beteiligen müssen.

Der Vertrag enthält keine Regelung bezüglich einer Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Was waren hier die strittigen Punkte, woran scheiterte es?

Die EU wollte ursprünglich ein eigenes Kapitel zur Außen- und Sicherheitspolitik in den Vertrag einfügen. Das hat aber die britische Seite mit Verweis auf die Wahrung ihrer Souveränitätsrechte von Beginn an kategorisch abgelehnt. Für die EU ist diese Weigerung ein großer Rückschlag angesichts ihrer Ambitionen, eine den USA, Russland oder China ebenbürtige Weltmacht zu werden. Ohne Großbritannien verliert die EU außen- und sicherheitspolitisch erheblich an Gewicht, schließlich ist das Land ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat, unterhält eine schlagkräftige Armee und verfügt über eine der weltweit leistungsfähigsten Rüstungsindustrien. Auf all das wird Brüssel künftig keinen Einfluss mehr haben.

Für all jene Kräfte, die weltweit auf einen friedlichen Ausgleich setzten, ist dies eine positive Nachricht, denn es wird eine imperiale EU geschwächt, die sich schon lange anmaßt, anderen Nationen vorschreiben zu wollen, was sie im eigenen Land zu tun haben und was nicht - sei es nun Russland, China, Belarus, Kuba oder Venezuela.

Der ehemalige britische Botschafter Craig Murray sieht für GB zwar keine unmittelbaren Negativfolgen, aber für die zweite Hälfte des kommenden Jahres prognostiziert er steigende Inflation und Arbeitslosenzahlen. Schließen Sie sich dieser Einschätzung an? Welche negativen/positiven Effekte sehen Sie für die nähere Zukunft voraus?

Das ist natürlich nur sehr schwer vorauszusagen. Doch möchte ich daran erinnern, dass bereits nach der Brexit-Entscheidung vor nunmehr viereinhalb Jahren ähnliche Prophezeiungen gemacht wurden. Die damals vorausgesagte Rezession, verbunden mit hoher Arbeitslosigkeit, blieb aber aus. Im Gegenteil: Die ausländischen Investitionen in Großbritannien erreichten in den letzten Jahren einen Höchststand, und auch die Zahl der Arbeitsplätze stieg an. Nicht der Brexit-Deal stellt aus meiner Sicht eine Bedrohung für die Ökonomie und die Lohnabhängigen Großbritanniens dar, sondern die bereits jetzt wahrnehmbaren fatalen Folgen der Corona-Pandemie für die Bürger wie für die Wirtschaft.

Der Vertrag muss noch durch die EU-Mitgliedsstaaten gebilligt, in GB ratifiziert und vom EU-Parlament abgesegnet werden. Rechnen Sie mit Zustimmung auf allen Seiten?

Von den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten ist er bereits gebilligt worden. Als reiner EU-Vertrag muss er von den nationalen Parlamenten nicht ratifiziert werden. Zuständig ist hier allein das Europäische Parlament. Das wird aber dem Vertrag mit Sicherheit zustimmen, denn niemand in der Kommission oder in den Mitgliedsländern wird es ihm gestatten, die so mühsam erreichte Vereinbarung noch einmal in Frage zu stellen. Es zeigt sich einmal mehr, dass das Europäische Parlament, dann, wenn es wirklich einmal drauf ankommt, übergangen wird. Seine Bedeutung im Institutionengefüge der EU ist eben gering.

Das Interview wurde am 30.12.2020 auf SNA News veröffentlicht

 

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