Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten...
Das Ende des europäischen Realsozialismus in den Jahren 1989/91 stellt die am Marxismus festhaltende Linke noch heute vor komplizierte theoretische Probleme. Die anfangs als große Chance bewertete Möglichkeit, das Gewesene endlich selbstkritisch und schonungslos aufarbeiten zu können und das Überkommene von dem Erhaltenswerten zu trennen, droht in einem Abschied von jener Perspektive zu enden, in der bekanntlich der „jetzige Zustand aufgehoben“ (MEW, Bd. 3, S.35) werden soll. Schwierigkeiten bereitet der Umstand, dass diese Neudefinition natürlich nicht in einem herrschafts- und konfliktfreien Raum stattfindet. Die „Sieger der Geschichte“ haben alles andere im Sinn als in Ruhe abzuwarten, bis sich ihre erbittert[1]sten Gegner theoretisch neue Klarheit verschafft haben und sich für neue Kämpfe gerüstet sehen. Ganz im Gegenteil: Die den Siegern gebotene historische Chance soll jetzt unter allen Umständen genutzt werden. Es gilt, die übrig gebliebenen Anhänger des Sozialismus zu harmlosen Sozialdemokraten zu bekehren und zugleich den unbelehrbaren Rest, mit dem Makel des Stalinismus versehen, ein für allemal in die gesellschaftliche Isolation zu stoßen. Die gewandelten sozialistischen Parteien sehen sich daher einem nicht nachlassenden Druck ausgesetzt, sich für die unterschiedlichsten Phasen der Geschichte des realen Sozialismus nachträglich zu rechtfertigen, sich von jeglichen Verfehlungen und Verbrechen ihrer früheren Machthaber zu distanzieren und dafür zu entschuldigen, vor allem aber einem auf die Zukunft gerichteten Anspruch auf die Überwindung des Kapitalismus endgültig abzuschwören.
In einer solchen Atmosphäre ist es nicht leicht, ernsthaft und ausdauernd an eine selbstkritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte zu gehen und dies mit der Perspektive zu tun, Totes und Lebendiges voneinander zu trennen. Groß ist die Verlockung, sich vor den Angriffen des Gegners in eine selbstgewählte Isolation der gewohnten Gewissheiten zurückzuziehen und zugleich jeglichen Korrekturvorschlägen mit altem Misstrauen zu begegnen. Noch verbreiteter ist aber die Haltung, so zu tun als habe man mit diesen historischen Abläufen überhaupt nichts zu schaffen und als könne man sowohl in der Theorie als auch in der Praxis der sozialistischen Bewegung mit der Parole „zurück zu Marx“ einfach wieder bei Null beginnen. Vor allem jüngere und in den untergegangenen Vorgängerparteien und Regimen oft nur als unauffällige Mitläufer registrierte Mitglieder glauben, damit zugleich die denkbar radikalste Position einzunehmen. „Die eigene totale Nichtbeteiligung hervorzuheben, erweist sich um so notwendiger, als es möglich erscheint, dem entstellten und verhassten Gesicht des ‚Realsozialismus‘ ein völlig anderes Gesellschaftsbild entgegenzustellen, bei dem sich der Sozialismus perfekt mit der Demokratie, die Effizienz des Systems mit der vollen Freiheit der Individuen und Gruppen und die Entwicklung der Produktivkräfte mit der Verwirklichung besonders reicher und integrierter sozialer und menschlicher Beziehungen konjugieren lässt“ (Losurdo 1995, S.101). Von einer solchen harmonischen Weltsicht werden denn auch die aktuellen programmatischen Diskussionen in jenen Parteien auffallend häufig bestimmt.
Domenico Losurdo, Professor für Philosophie an der italienischen Universität Urbino und Präsident der Internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie – Societas Hegeliana – ist hingegen jemand, der in dem „Versuch, das Kapitel der Geschichte zu liquidieren oder zu ignorieren, das mit der Oktoberrevolution begonnen hat, eine Flucht vor einer generalisierten ideologischen Offensive der Bourgeoisie [sieht], die so definitiv sein soll, dass sie jeden Neubeginn unmöglich macht“ (Losurdo 1995, S. 108). Diese Einstellung hindert ihn aber nicht an der rigorosen Abrechnung mit „den Fehlern (und den Verbrechen) der Führungsspitze der UdSSR und anderer Länder“ (ebd., S. 109). Als italienischer Marxist schöpft Losurdo dabei aus den theoretischen Arbeiten Antonio Gramscis als auch Palmiro Togliattis, des langjährigen Führers der Kommunistischen Partei Italiens. Er kommt auf diese beiden Theoretiker immer wieder zurück, um zu zeigen, wie in der Geschichte der sozialistischen Bewegung in jeder Phase Positionen entwickelt wurden, die weit über den dogmatisierten Marxismus-Leninismus hinausgingen.[2] Wie anders, da ungleich ärmer, präsentiert sich uns die marxistische Diskussion in Deutschland, wo sich aufgrund der Unmittelbarkeit des Systemgegensatzes eine differenzierte Position zwischen rechter Sozialdemokratie und SED-Dogmatismus kaum Gehör verschaffen konnte.[3]
Um so wichtiger wäre es gerade für die deutsche Linke, die oft unkonventionellen und, im Vergleich mit der nur allzu oft rückgratlos geführten deutschen Debatte, ausgesprochen selbstbewusst daherkommenden Positionen Losurdos überhaupt erst einmal zur Kenntnis zu nehmen. In den vergangenen Jahren sind glücklicherweise eine ganze Reihe seiner Aufsätze ins Deutsche übertragen worden. Veröffentlicht wurden sie in Zeitschriften wie den „Marxistischen Blättern“, „Z“, insbesondere aber in der von Losurdo und Hans Heinz Holz gemeinsam seit 1993 herausgegebenen Halbjahresschrift „Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Philosophie.“[4] Im Jahr 2000 erschien das Buch „Der Marxismus Antonio Gramscis – von der Utopie zum ‚kritischen Kommunismus‘“. Nach Sabine Kebir „unternimmt darin Losurdo nicht mehr und nicht weniger, als die in den Alltagsverstand gelangte Formel vom ‚Absterben des Staates‘ zu entmystifizieren. Sein Buch (...) ist in weiten Strecken auch eine kritische Aufarbeitung der Staatsauffassungen von Marx, Engels und Lenin sowie deren Spiegelungen in der Geschichte der Arbeiterbewegung“ (Kebir 2001). Unter den auf deutsch erschienenen Veröffentlichungen Losurdos sind auch die beiden im Neuen Impulse Verlag im Jahre 2000 veröffentlichen Broschüren „Flucht aus der Geschichte? Die kommunistische Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass“ und „Die Linke, China und der Imperialismus“ zu nennen. Auszugsweise wurde die Broschüre „Flucht aus der Geschichte?“ auch in der Tageszeitung „junge Welt“ abgedruckt. Ignoriert wurden die Arbeiten Losurdos hingegen bisher von den der PDS nahestehenden Medien.[5]
Hier soll es darum gehen, die Gedankengänge Losurdos in der für die marxistische Diskussion so wichtigen Frage der Bewertung der sogenannten abstrakten bzw. formellen bürgerlichen Freiheit darzustellen und zugleich zu prüfen, wie mit den von ihm so benannten „Verschweigungen“ umgegangen werden soll, die „in dieser für sich genommenen richtigen Formulierung [vom Wert der universellen Demokratie; A.W.] stecken“ (Losurdo 2001, S. 21). Die mindestens ebenso wichtigen, von ihm in den letzten Jahren eingebrachten Gedanken zur Rolle des Staates, zu seinem vermeintlichen Absterben im Kommunismus und zur realen Verstaatlichung der Gesellschaften des realen Sozialismus sollen in einem späteren Aufsatz behandelt werden.
Für die Darstellung der Gedankenführung Losurdos wurden in erster Linie die von ihm in den letzten Jahren in der Zeitschrift „Topos“ und in anderen Zeitschriften publizierten Aufsätze herangezogen. Unberücksichtigt blieben aber sowohl die auf Deutsch veröffentlichten früheren philosophischen Werke Losurdos[6] als auch sein umfangreiches in italienischer Sprache veröffentlichtes Werk.
Der Hegelsche Begriff von der Abstraktion als Ausgangspunkt
Wenn am Anfang der Darstellung des Denkens Losurdos auf einen Beitrag eingegangen wird, der sich unter der eher einem Arbeitstitel gleichenden Überschrift „Abstrakt/Konkret. Hegel, Nietzsche, Marx (und die marxistische Tradition)“ im Topos-Heft 13/14 (Losurdo 1999) veröffentlicht wurde, so hat das seinen Grund darin, dass es sich um einen Schlüsseltext handelt. Gleichsam keimhaft sind Losurdos Aussagen für nahezu alle hier interessierenden Themen angelegt: Sowohl seine Antworten auf das in der marxistischen Diskussion ungelöste Problem der Bedeutung der formalen Freiheit, insbesondere auf die in der Linken teilweise heuchlerisch, aber auch hilflos anbiedernd geführte Menschenrechtsdebatte, als auch auf die Frage der Bewertung von Staat und Nation im Zeitalter der Globalisierung sowie seine Analysen des gewesenen Realsozialismus finden hier ihren philosophischen Ausgangspunkt.
Losurdo stellt Hegels Begrifflichkeit der „Abstraktion“, wie er ihn insbesondere in dessen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte vorfindet, in den Mittelpunkt seiner Argumentation und verteidigt ihn sowohl gegen den „echten bzw. wahren Empirismus“ eines Schelling als auch gegenüber den Gefahren des „Universalismus“ Fichtes. Mit philologischer Genauigkeit weist er nach, wie sich im Marxschen Werk neben dem Hegelschen Ausgangspunkt viele Elemente des Feuerbachschen Denkens finden, wenn etwa das „abstrakte deutsche“ Denken gegen „französisch“ als Sprache der Politik und der „denkenden Anschauung“ (MEW Bd. 2, S.40) gestellt wird.
Die Essenz der Aussagen der Kritiker Hegels fasst Losurdo wie folgt zusammen: „Die Hegel vorgeworfene Abstraktheit einer von den ökonomisch-sozialen Verhältnissen unabhängigen politischen Sphäre ist die Abstraktheit des modernen politischen Staates, der auf der Voraussetzung beruht, dass die sozialen Verhältnisse nur ‚Unterschiede des Privatlebens (aufzeigen), welche in dem politischen Leben ohne Bedeutung sind‘: In seiner entwickelten Form beschränkt sich der Staat darauf, ‚die Augen (zuzudrücken) und erklärt wirkliche Gegensätze für unpolitische, ihn nicht genierende Gegensätze.‘“ (Losurdo 1999, S.186) Schließlich sei diese Abstraktion nicht nur ein logischer Prozess, sie hat – nach Marx – auch eine kompakte Realität, da der politische Staat auf der Trennung oder „Abstraktion von der bürgerlichen Gesellschaft“ (MEW Bd. 1, S. 321f.) bzw. auf der „Abstraktion des politischen Menschen“ (ebd, S. 370) beruhe.
Losurdo folgt dieser gängigen Kritik an Hegel nicht. Er weist zunächst darauf hin, dass sich Hegel durchaus des Umstands bewusst war, dass bei einem Fehlen der Subsistenzmittel „das Recht als solches“ notgedrungen nur eine „Abstraktion“ bleiben müsse, so dass das Recht des Hungernden, sein Leben auf irgendeine Weise zu retten, ein Recht ist, dass er „gegen das abstrakte Recht“ geltend machen kann, ja muss. Mit heutigen Worten würde man sagen, dass ein solches abstraktes Recht bei Fehlen der materiellen Lebensbedingungen faktisch leer läuft, da es schlicht seinen Sinn verliert.
Im Anschluss an diese Klarstellung greift Losurdo ein für ihn „grundlegendes Problem“ auf. Er stellt die Frage nach der Perspektive, von der aus der von Marx herausgearbeitete, sich geschichtlich entwickelnde Widerspruch der Trennung des politischen Staates von der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet werden soll. Losurdo formuliert die Frage so: „Ist die spätere historische Entwicklung dazu aufgerufen, die politische Sphäre neu zu definieren, indem sie die unbestimmten und falschen Abstraktionen überwindet, auf denen die Theorie und Wirklichkeit des modernen bürgerlichen Staates beruht, oder ist sie dazu aufgerufen, die Abstraktion als solche des politischen Staates und des politischen Menschen in die ‚Konkretheit‘ der bürgerlichen Gesellschaft wiederaufzunehmen?“ (Losurdo 1999, S.186) Die weiteren Ausführungen werden zeigen, dass es sich dabei für Losurdo um alles andere als nur um einen Streit um Worte handelt.
Bevor er auf die erheblichen praktischen Konsequenzen zu sprechen kommt, die mit diesen unterschiedlichen Sichtweisen für die marxistische Theorieentwicklung verbunden sind, gibt er einige Hinweise auf die der Abstraktion zugrunde liegende reale geschichtliche Entwicklung. Er skizziert den „Prozess progressiver Abstraktion, der der modernen Rechtsordnung zugrunde liegt“, und zieht Parallelen zur ökonomischen Sphäre. Denn „wie für das Recht ist auch für die Ökonomie das Hervorbringen der Abstraktion ein objektives Kennzeichen der gesellschaftlichen Entwicklung und der Regulierung einer komplexen Gesellschaft“ (Losurdo 1999, S.187). So tragen „nicht nur Hegels Lehre, sondern auch die Erfahrung des politischen und sozialen Kampfes (...) dazu bei, Marx von dem naiven Pathos eines Konkreten fernzuhalten, das mit dem Unmittelbaren und Individuellen identifiziert wird. Dennoch haben wir auf der anderen Seite den Einfluss Feuerbachs [auf Marx; A.W.] und der empiristischen Reaktion [gemeint sind hier in erster Linie Schelling und Fichte; A.W.] festgestellt. Von hier muss man vielleicht ausgehen, um zu verstehen warum – wenn auch mit Schwankungen und Widersprüchen – die Erwartung des Absterbens des Staates auftaucht, noch allgemeiner die Erwartung der endgültigen ‚Abstraktionen‘ des Staates, des Marktes usw. in das ‚Konkrete‘ der inter-individuellen Beziehungen“ (ebd., S.188). Dies ist ein erster Verweis Losurdos darauf, wie aus dem Unverständnis kategorialer philosophischer Begriffe wie abstrakt/konkret bzw. formell/substanziell strategische Irrtümer wie die der Geringschätzung der bloß als formal denunzierten bürgerlichen Freiheiten erwachsen können.
Gegen die Geringschätzung der so genannten formellen
Freiheit
Betrachten wir die Behandlung der „formellen Freiheit“ in der kommunistischen, aber auch linkssozialistischen Tradition.[7] In dem bereits angeführten Aufsatz wird Losurdo deutlich, indem er den Finger auf eine der zentralen Fehlstellen des „vulgären Marxismus“ legt: „Abstrakt ist die Freiheit des bourgeois, die, selbst wenn sie nicht mit der Freiheit des citoyen und mit dessen Teilnahme am öffentlichen Leben verbunden ist, dennoch eine fundamentale Errungenschaft bedeutet (sie ist ein wichtiger Schritt in Richtung auf die Verwirklichung der Rechtsgleichheit). Kurz gesagt, wenn die Freiheit des Menschen und des citoyen ohne Subsistenzmittel abstrakt bleibt, dann ist abstrakt auch die Freiheit des bourgeois, der nicht die Möglichkeit hat, am politischen Leben teilzunehmen. Nur in der ersten der beiden Bedeutungen hat die Kritik der ‚abstrakten‘ Freiheit in der marxistischen Tradition oder besser: Vulgata Schule gemacht. Dies bringt einen großen Nachteil mit sich: Die Abstraktion wird nur in bezug auf eine Dimension der Freiheit interpretiert, so dass abstrakt dahin tendiert, eine eindeutig negative Konnotation anzunehmen, während sich das Konkrete schließlich mit dem Intiuitiv-sinnlichen oder mit dem Materiellen identifiziert. Hegel konfrontiert uns mit einem komplexen und vielschichtigeren Modell. Jede Dimension der Freiheit kann von allen anderen abstrahiert werden: Und wiederum ist diese Abstraktion nicht nur ein logischer Prozess, sondern auch eine reale Gegebenheit“ (Losurdo 1999, S.194).
Nur zu oft ist es aber so, dass die heutigen Abkürzer und Verwerfer der komplizierten und widersprüchlichen Geschichte des realen Sozialismus identisch sind mit jenen, die noch vor wenigen Jahren an der „bloßen formellen Freiheit“ kein gutes Haar ließen. Losurdos Urteil über die theoretischen Leistungen dieser Epoche ist denn auch eindeutig: „Die objektive Kompliziertheit dieser Situation ist auf theoretischer Ebene nicht beherrscht worden: Gerade hier hat der ruinöse Abkürzer der Liquidierung der ‚formellen‘ und ‚abstrakten‘ Freiheit schlechthin seinen Ursprung“ (Losurdo 1999, S.194). Und in dem Aufsatz „Marx und die Geschichte des Totalitarismus“ schreibt er: „Tatsache ist, dass die Verwirrung im Bereich der kommunistischen Tradition diesbezüglich fast immer groß war, und dass die Kritik der ‚formellen‘ Freiheit als einfache Ideologie darauf hinauslief, die Diktatur, auch in ihrer brutalsten Form, zu legitimieren, statt den Weg für eine Erweiterung und Bereicherung der konkreten Inhalte der Freiheit zu eröffnen. In diesem Sinne war die Oktoberrevolution einerseits ein ruhmreiches Blatt für die antiautoritäre Wirksamkeit der Marxschen Theorie, andererseits hat sie jedoch ein neues Kapitel der Geschichte des Totalitarismus eingeleitet“ (Losurdo 1993, S.71).
Anhand einer Ausführung Lenins über einen Text Hegels nimmt Losurdo diesen selbst ins Visier und kommt zu dem ernüchternden Urteil: „Der mögliche Konflikt zwischen formeller und substanzieller Freiheit ist verschwunden, weil der erste der beiden Termini verschwunden ist“ (Losurdo 1999, S.194). Und: „Es ist dies eine Haltung, die spiegelbildlich gegenüber der liberalen Tradition ist, die die ‚negative‘ Freiheit [gemeint ist die Freiheit des Bürgers vor Eingriffen des Staates; A.W.] mit der Freiheit schlechthin identifiziert“ (ebd., S.195).
In einer Auseinandersetzung mit der italienischen Gruppe „il manifesto“ fragt er sich: „Wie wurde dieser intellektuelle und moralische Bankrott möglich? Wir haben gesehen, dass einflussreiche Vordenker von il manifesto Togliatti wegen seines ‚Demokratismus‘ und seiner Treue zur ‚Verfassung‘ und zum ‚Rechtsstaat‘ verdammten: das anhaltende Desinteresse einer gewissen Linken an den ‚Formen‘, muss man es von daher zu begreifen suchen?“ (Losurdo, 2001, S.20).
Die Missachtung der „formellen“ Freiheit steht für Losurdo aus einem weiteren Grund in einem Widerspruch mit der Tradition der sozialistischen Bewegung selbst, war es doch ursprünglich ein ihr wichtiges Anliegen, die Sphäre der „formellen“ Demokratie, etwa das Wahlrecht und die Geltung bürgerlicher Freiheiten, auf immer weitere Bevölkerungskreise auszudehnen: „Die Geringschätzung, wenn nicht die Abschreibung der negativen Freiheit oder auch der ‚bürgerlich-demokratischen Freiheit‘ im marxistischen Denken ist schwerlich zu vereinbaren mit der rigorosen Kritik der Logik der Exklusion, die der liberalen Tradition und auch der ‚bürgerlich-demokratischen‘ Tradition eigen waren und noch sind. Ja, es liegt hier ein eigentümliches Verkennen der eigenen Tradition vor, und zwar durch das marxistische Denken selbst“ (Losurdo 1998, S.139).
Wenn es Losurdos Anliegen ist, gründlich mit der „These vom lediglich trügerischen Charakter der ‚formalen‘ Demokratie“ (Losurdo 2001, S.20) aufzuräumen und er dieser Demokratie einen „zweifellos universellen Wert“ (ebd., S.22) zumisst, so übersieht er aber gleichzeitig nicht, dass sich die „Grenze zwischen Demokratie und Antidemokratie nicht ein für alle Mal und auf einheitliche Weise bestimmen lässt. Die Anerkennung der Universalität des Werts der Demokratie enthebt nicht der mühsamen Aufgabe, die konkrete Situation, konkret zu analysieren“ (ebd., S.22). Was meint er damit? In verschiedenen Essays und Texten verweist er immer wieder auf die drei nachfolgend behandelten konkreten geschichtlichen Konstellationen hin, die er als „Verschweigungen“ bezeichnet und denen sich die Linke bewusst zu sein hat.
„Roter Oktober“ und Ausnahmezustand
Es ist zum einen die Phase des ersten Weltkriegs, in der von den bürgerlichen Regierungen, und hier insbesondere von ihren liberalen Apologeten, aber auch mit Billigung der sozialdemokratischen Führungen, die demokratischen Spielregeln mit der Absicht der ungehinderten Entfesselung einer totalen Kriegführung über Bord geworfen werden. Losurdo erinnert daran, dass in allen kriegführenden europäischen Ländern es die revolutionäre Linke ist, die sich gegen dieses sinnlose Hinschlachten als erste und am entschiedendsten zur Wehr setzt. Sie ist es, die das erste Menschenrecht auf Leben, das von den Liberalen im Namen einer abstrakten Moral der Nation mit Füßen getreten wird, einklagt. In Italien sind es Togliatti und Gramsci, die dazu aufrufen, „jegliche ‚politische Konzeption zurückzuweisen, die dem Staat einen über den Individuen stehenden Willen‘ sowie ein Recht auf eine Vitalität zuschreibt, die jenseits von Gut und Böse und über den Rechten, ja sogar über dem Leben des einzelnen Bürgers steht“ (Losurdo 2000d, S. 23). In Deutschland sind es Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die der Empörung über die sinnlose Menschenvernichtung Ausdruck verleihen. „Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexenssabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit –, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt“ (Luxemburg 1972). Und untrennbar mit dieser Epoche verbunden ist das Werk Lenins. Die in Russland erfolgreiche Revolution blieb für Jahrzehnte das weltweit wichtigste Ereignis, das aus diesem Versagen der bürgerlich-liberalen Ordnung hervorging. Angesichts der unverhohlenen Feindschaft, die ihr unmittelbar nach ihrem Sieg entgegenschlug, und der Erdrosselungsversuche, erst durch die Reaktion der Weißen und dann der Entente der westlichen Mächte, kam seinerzeit kaum einer ihrer Sympathisanten und Unterstützer auf die Idee, von ihr unmittelbar und sofort die volle Verwirklichung einer klassischen demokratischen Ordnung mit Wahlrecht, einem Mehrparteiensystem und einer freien Presse zu verlangen. Es handelte sich doch offenkundig um einen Ausnahmezustand, dessen Aufrechterhaltung zunächst unbedingt erforderlich war, um eine demokratische Perspektive für das noch halbfeudale Land überhaupt eröffnen zu können.
Daran ändert auch eine unbestreitbare Tatsache nichts: „je mehr das Erreichen des Kommunismus in eine immer entferntere und unwahrscheinlichere Zukunft verlagert wurde, desto mehr kam dem ‚realen Sozialismus‘ jede denkbare Legitimation abhanden: Einer Nomenklatura, die allmählich immer selbstherrlicher wurde, und immer verdorbener und korrupter, mangelte es gewiss an jener universellen Legitimation unserer Zeit, die sich auf die Demokratie und die Volkssouveränität bezieht. Überdies untergrub der ‚reale Sozialismus‘ mit seinen eigenen Ergebnissen die Grundlagen seiner Existenz: Der allgegenwärtige Zwang wurde immer unerträglicher für eine Zivilgesellschaft, die dank der Massenbeschulung und der Verbreitung der Kultur sowie der Erreichung eines Mindestmaßes an sozialer Sicherheit wuchs“ (Losurdo 2000c, S. 37). Und: „In der Tat ist der Zusammenbruch in Osteuropa nicht nur das Ergebnis eines Scheiterns, sondern auch eines Erfolges. Die Zulassung der vorher ausgeschlossenen Volksmassen zur Schulbildung und die Erfüllung der elementarsten Bedürfnisse bis zu einem gewissen Grad haben das totalitäre Regime untergraben. Der Kriegssozialismus, d.h. das Experiment des Aufbaus eines nicht-kapitalistisch orientierten Staates unter dramatischen und außergewöhnlichen Bedingungen, konnte seine heroischen Zeiten nicht überleben; er war an einem bestimmten Punkt dazu aufgerufen, sich mit der Demokratie, mit ihren Garantien und Regeln auseinander zu setzen, damit er sich auf das Niveau der fortgeschrittenen Gesellschaft erheben konnte, die herauszubilden er selber beigetragen hatte“ (Losurdo 1995, S. 116). In der Außenpolitik der UdSSR sieht Losurdo die unmittelbaren Gründe für den schließlichen Absturz: „Den Gnadenstoß hat vielleicht das progressive Hervortreten der Großmacht-Arroganz und der hegemonischen Bestrebungen des Großen Bruders gegeben. Es ist kein Zufall, dass die von Reagan und Johannes Paul II. vereinbarte Operation in erster Linie Polen zum Ziel hat, das Land, das vielleicht schmerzlicher als alle anderen das Gewicht der von der UdSSR auferlegten Unterdrückung und nationalen Demütigung verspürte“ (Losurdo 1994, S.79).
Der Konflikt der Freiheiten in der Dritten Welt
Neben der Geschichte des „Roten Oktober“ erfordert auch die Politik in der heute in Abhängigkeit von den Metropolen gehaltenen Dritten Welt die Notwendigkeit der konkreten Analyse. Losurdo nennt es die zweite „Verschweigung der These vom universellen Wert der Demokratie“ (Losurdo 2001, S. 21). Er erinnert an die Worte von Marx: „Die tiefe Heuchelei der bürgerlichen Zivilisation und die von ihr nicht zu trennende Barbarei liegen unverschleiert vor unseren Augen, sobald wir den Blick von ihrer Heimat, in der sie unter respektablen Formen auftreten, nach den Kolonien wenden, wo sie sich in ihrer ganzen Nacktheit zeigen“ (MEW Bd. 9, S. 225). Losurdo führt eine Reihe von Beispielen dafür an, wie diese Barbarei der bürgerlichen Zivilisation den Handlungsspielraum dieser Staaten gerade in unseren Tagen mal offen, mal verdeckt einschränkt oder gar in Form offener Kriegshandlungen annulliert.
Losurdo verweist auf die Tragödie des sandinistischen Nicaragua, das eines der ersten Opfer des vor allem von den USA ausgehenden „Menschenrechtsimperialismus“ (Huntington 1996, S. 195) wurde, wobei das Land durch einen ihm aufgezwungenen Krieg und durch erbarmungslose Sanktionen erst zu „begrenzten Maßnahmen der Verteidigung gegen die äußere Aggression und die innere Reaktion gezwungen wurde. Dies gab Washington die Gelegenheit, sich zum Verteidiger der vom sandinistischen ‚Totalitarismus‘ verletzten demokratischen Rechte aufzuschwingen. Hier kommt einem der Henker in den Sinn, der sich nach der Hinrichtung über die totenbleiche Farbe des Opfers entrüstet“ (Losurdo 2000a, S. 83).
Am Beispiel Kubas lenkt er den Blick darauf, wie es in diesem Land gegenwärtig aufgrund des gegen ihn verhängten Belagerungszustandes „in konkreten, sehr bestimmten Situationen zu Konflikten zwischen den verschiedenen Rechten kommen kann“ (Losurdo 2000, S. 135). Und doch können sich die Verteidiger der Errungenschaften der kubanischen Revolution eine oft schmerzhafte Entscheidung zwischen den verschiedenen Rechten nicht ersparen, es sei denn man bleibt vornehm in den Kulissen und entgeht damit der Gefahr, sich unter Umständen die Hände schmutzig zu machen. Losurdos Haltung ist da eindeutig: „Würde es [Kuba] unter den gegenwärtigen Bedingungen ein Mehrparteiensystem zulassen, wäre es absolut nicht im Stande, der multimedialen, finanziellen und militärischen Übermacht der USA zu widerstehen, und würde in jenen halbkolonialen Status zurückfallen, den es von 1898 bis zum Machtantritt Fidel Castros innehatte“ (ebd., S. 135).
Losurdo vergleicht die Strategie der USA gegenüber Nicaragua bzw. Kuba mit dem Vorgehen der imperialistischen Staaten gegen China und Jugoslawien (vgl. Losurdo 2000b), wobei man durchaus nicht in jeder Einzelheit mit seinen Beurteilungen der in diesen Ländern jeweils Agierenden übereinstimmen muss, um ihm dennoch im Grundsatz darin zustimmen zu können, dass „die heftigen und unverhohlenen Angriffe auf die nationalen Rechte der schwächeren Staaten eine Art von Rekolonisierung darstellen (...)“ (Losurdo 2000, S. 118). Nach den jüngsten Ereignissen können wir die Reihe der bereits „erfolgreich“ rekolonialisierten Länder nun um Afghanistan verlängern.
Nur Verachtung hat Losurdo für die von ihm so genannten „imperialen Linken“ übrig, die etwa in den Chor der Verurteilung der ‚freiheitszerstörenden‘ Maßnahmen der sandinistischen Führung einstimmten oder auch mal Sanktionen gegen China im Namen der Menschenrechte fordern, zugleich aber über die Opfer der US-amerikanischen Interventionen, etwa in Grenada oder Panama, aus Opportunismus schweigen. Als Grund für diese Haltung sieht er enttäuschte Erwartungen, die nicht selten von Beginn an unrealistisch, da schwärmerisch waren: „Die konkrete Geschichte der neuen post-revolutionären Gesellschaft, die sich durch Widersprüche, Versuche, Schwierigkeiten und mit Fehlern aller Art zu entwickeln bemüht, wird dann in Bausch und Bogen als Degeneration und als Verrat der revolutionären Ideale verurteilt. Diese Einstellung, die die reale Bewegung im Namen der eigenen Phantasien und der eigenen Träume verurteilt, entzieht dem Marxismus jeden emanzipatorischen Elan“ (Losurdo 2000a, S.79). Diese auf die heutige italienische Linke gemünzte Beschreibung kann ohne weiteres auf die deutsche Situation übertragen werden, denn wem fallen bei diesen Worten nicht die zu begeisterten Interventionisten gewendeten Grünen und Sozialdemokraten ein?
Die liberale Tradition und die demokratischen Spielregeln
Schließlich kommt Losurdo auf einen dritten Einwand zu sprechen, der den sich auf die liberalen Klassiker berufenden Theoretikern des Menschenrechtsimperialismus eigentlich schwer zu schaffen machen müsste, da ihnen doch nichts so heilig ist, wie die Ausweitung des Geltungsgebiets der klassischen liberalen Werte des Okzidents, oder mit heutigen Worten gesprochen: der transatlantischen Wertegemeinschaft bzw. schlicht des „Westens“. Losurdo geht weit in die Geschichte der Staats- und Verfassungsdiskussion Englands, der USA und Frankreichs zurück und untersucht die Schriften von John Locke, Charles Montesquieu und John Stuart Mill zur Frage, wie sie es denn mit der absoluten Unverletzlichkeit der demokratischen Spielregeln gehalten hatten. Dank seiner profunden Kenntnis dieser Texte fördert er dabei Erstaunliches zutage: „Für Locke (...) steht außer Frage, dass eine Krisensituation von einer Macht bewältigt werden könne und müsse, die an keine ‚Regel‘, d.h. an keine Beachtung der Spielregeln gebunden ist. Montesquieu, Bewunderer des liberalen England, hegt keinen Zweifel daran, dass es ‚zur Gewohnheit der freiesten Völker, die je auf der Erde gelebt haben‘ gehöre, ‚eine Zeitlang einen Schleier über die Freiheit zu legen, so wie man die Götter verbirgt‘. Einige Jahrzehnte später wird dann John Stuart Mill erklären, dass es in Fällen von ‚extremer Notwendigkeit‘ oder ‚Krankheit des politischen Körpers, die nicht mit weniger gewalttätigen Methoden geheilt werden kann‘, voll und ganz zulässig sei, die ‚absolute Macht unter Form einer befristeten Diktatur zu ergreifen‘“ (Losurdo 1995, S. 98).
Losurdo erinnert an den mit despotischen Mitteln geführten Kampf gegen die Sklaverei ausgerechnet in jenem Land, das sich heute der gesamten Welt als das leuchtende Vorbild der Freiheit präsentiert. Im Ergebnis des amerikanischen Bürgerkriegs errichten die siegreichen Yankees unter der Präsidentschaft Abraham Lincolns mit dem Ziel der Herstellung der Einheit des Landes eine terroristische Militärdiktatur über die Südstaaten, wobei sie etwa in Texas kurzerhand die Verfassung außer Kraft setzen. Nur diese Diktatur über die Konföderation macht auch die Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1865 überhaupt erst möglich, eine Maßnahme, zu der die damals von Sklaverei profitierenden wahlberechtigten Weißen freiwillig und demokratisch niemals ihre Zustimmung gegeben hätten. Folgerichtig kehrt mit der Beendigung dieser Diktatur und der Rückkehr der lokalen Selbstregierung auch die weiße Vorherrschaft wieder, aus der sich die Schwarzen erst gut einhundert Jahre später nach einem jahrzehntelangen Kampf der Bürgerrechtsbewegung selbst befreien, ohne dass allerdings damit bis heute alle Diskriminierungen beseitigt wären. Losurdo weist darauf hin, dass kein geringerer als Adam Smith bereits Jahrzehnte vor dem amerikanischen Bürgerkrieg eine solche Konstellation für unausweichlich gehalten hatte: „Dieser stellte fest, dass die Sklaverei leichter unter einer ‚despotischen Regierung‘ unterdrückt werden kann als unter einer ‚freien Regierung‘ unter der ‚jedes Gesetz von ihren [der Sklaven; A.W.] Herren gemacht wird, die niemals eine für sie selbst schädliche Maßnahme passieren lassen‘. Mit Blick auf die englischen Kolonien in Amerika, wo es eine Art lokaler Selbstverwaltung der weißen Siedler, die oft Sklavenhalter waren, gab, beobachtet Smith: ‚Die Freiheit des freien Mannes ist der Grund für die große Unterdrückung der Sklaven. Und sofern diese den größten Teil der Bevölkerung stellen, wird niemand, der mit Humanität begabt ist, die Freiheit in einem Lande wünschen, in dem diese Institution [die Sklaverei; A.W.] herrscht‘“ (Losurdo 2001, S. 22). Wem käme dabei nicht der dialektische Gedanke von Bertolt Brecht aus dem Buch der Wendungen in den Sinn, in dem er Mi-en-leh (Lenin) sagen ließ: „Das Einführen der Demokratie kann zur Einführung der Diktatur führen. Das Einführen der Diktatur kann zur Demokratie führen“ (GW 1972, Bd. 12, S. 434).
Die Notwendigkeit der Despotie als Bedingung für die Befreiung wird aber nicht nur auf die amerikanische Geschichte beschränkt gesehen: „Eine ähnliche Betrachtung stellt Smith, mit Blick auf Osteuropa, hinsichtlich der Leibeigenschaft an, deren Aufhebung ebenfalls ein ‚despotisches‘ Eingreifen der politischen Zentralmacht gegen die Barone vorauszusetzen scheint, die oft liberale Parolen ausgaben, jedoch in der Lage waren, jedes Projekt der Emanzipation der Bauern zu blockieren, da sie die ‚freien‘ repräsentativen Organismen kontrollieren“ (Losurdo 1995, S. 112). Mit Blick auf die jüngste Vergangenheit könnte man hinzufügen, dass auch so manche drakonische Maßnahme der untergegangenen Sowjetmacht in den islamischen Republiken, die zum Ziel hatte, die Lage der Frauen durch die Abschaffung halbsklavischer Verhältnisse grundlegend zu verändern, in diesen geschichtlichen Kontext gehört. Ja selbst die Politik der volksdemokratischen Regierung Afghanistans in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts muss hier genannt werden. Erst mit Hilfe der vom CIA ausgebildeten, von Saudi-Arabien bezahlten und von Pakistan aus operierenden sogenannten Freiheitskämpfer, die etwa Lehrern reihenweise die Gurgeln nur allein deshalb durchschnitten, weil sie es wagten, Mädchen und Jungen gemeinsam zu unterrichten, wurde das Land für Jahrzehnte zurückgeworfen. Davon will aber unsere „imperiale Linke“ heute nichts wissen. Sie bejubelt stattdessen den „Fortschritt“, dass mit Hilfe amerikanischer Bomben und unter Inkaufnahme von Tausenden Toten und Verletzten die radikalen Fundamentalisten in Kabul durch die etwas weniger radikaleren ersetzt wurden.
Hegel und die schönen Seelen der westlichen Linken
Die hier dargestellten drei Einwände Losurdos gegen eine ahistorische, unpolitische und daher naive Betrachtungsweise des in der Tat universellen Wertes der Demokratie lassen sich in der Schlussfolgerung dahingehend zusammenfassen, dass „in einer konkreten Situation die Freiheit bestimmter politischer und sozialer Subjekte in Widerspruch geraten zu der Freiheit anderer politischer und sozialer Subjekte“ (Losurdo 2001, S. 22). Wir sind dabei ausgegangen von dem Gedanken Hegels, dass jede Dimension der Freiheit von allen anderen abstrahiert werden kann. Der in diesem Zusammenhang angesprochene Umstand, dass „diese Abstraktion nicht nur ein logischer Prozess, sondern auch eine reale Gegebenheit“ (Losurdo 1999, S. 189) ist, sollte anhand der drei Einwände Losurdos demonstriert werden. Er zeigt damit, dass sich „unter bestimmten Umständen die Koexistenz der verschiedenen Dimensionen der Freiheit als problematisch und sogar als unmöglich herausstellen kann, aber das bedeutet nicht, dass man die Dimension für (in eindeutig negativem Sinn) abstrakt halten muss, von der zu abstrahieren man gezwungen ist, wenn z.B. ein Ausnahmezustand eintritt“ (ebd.).
Der sich bereits jetzt abzeichnende zukünftige Konflikt zwischen den Metropolen des Westens und den um ihre Entwicklung und Gleichberechtigung ringenden Staaten der Dritten Welt wird diese Fragen wieder auf die Tagesordnungen der politischen Debatten setzen. Indem Losurdo den untergegangenen Realsozialismus in seine Analysen mit einbezieht, geht es ihm nicht darum, ihn nachträglich zu rechtfertigen. Er verweist vielmehr auf vergleichbare Elemente in den Konflikten damals, heute und in Zukunft. Es ist sowohl ein Blick zurück als auch nach vorn. Es hat daher auch keinen Sinn, diese sich aus den realen geschichtlichen Herausforderungen ergebenden Reibungen, Widerstände und Kontroversen mit guten Vorsätzen und eleganten Formulierungen leugnen zu wollen, auch wenn die von Losurdo so genannten „schönen Seelen der westlichen Linken“ vor dieser Einsicht entsetzt zurückweichen werden.
Im Text werden folgende Abkürzungen benutzt:
MEW: K. Marx –F. Engels, Werke, Berlin, Dietz, 1955 ff.
GW: B. Brecht, Gesammelte Werke, Frankfurt/M., 19727
Literatur
Huntington, Samuel P. (1996), The Clash of Civilisations and the Remaking of World Order, New York
Jünke, Christoph (2000), Auf zum letzten Gefecht? Zur Kritik an Losurdos Neostalinismus; in: Utopie kreativ 118, S.778-785
Kebir, Sabine (2001), Laufsteg zur Chancengleichheit. Vom Absterben des Staates; in: Freitag 37 vom 07.09.01
Losurdo, Domenico (1993), Marx und die Geschichte des Totalitarismus; in: Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie 1, S. 55-75
ders. (1994), Demokratische Revolution oder Restauration? Über den Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ in Osteuropa; in: Topos 3, S. 59-92
ders. (1995), Nach dem Zusammenbruch: Rückkehr zu Marx?; in: Topos 5, S. 95-117
ders. (1998), Liberale Tradition, Freiheit und Exklusion; in Z 36, S. 130-144
ders. (1999), Abstrakt/Konkret. Hegel, Nietzsche, Marx (und die marxistische Theorie); in: Topos 13/14, S.165- 196
ders. (2000), Der schwierige Universalismus. Menschenrechte, sozialer Konflikt und geopolitische Kontroverse; in: Topos 15, S. 109-147
ders. (2000a), Imperialismus und historische Bilanz des Sozialismus; in: Topos 16, S. 67-84
ders. (2000b), Imperialismus und nationale Frage, in: Unsere Zeit vom 17. März 2000
ders. (2000c), Flucht aus der Geschichte, Die kommunistische Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass, Marxistische Blätter Flugschriften 01, Essen, 54 S.
ders. (2000d), Der Marxismus Antonio Gramscis. Von der Utopie zum kritischen Kommunismus, Hamburg, 174 S.
ders. (2001), Die Demokratie als universeller Wert, in: Marxistische Blätter 1/01, S. 15-23
Luxemburg, Rosa (1972), Politische Schriften, Bd. 2, S. 20, Frankfurt am Main/Wien
Kosmos Psychopedis (2001), Stichwort Hegelianismus in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 5, Hamburg 2001, Spalte 1238
[2] Losurdo steht dabei in der Tradition des italienischen Hegelianismus eines Benedetto Croces und eines Antonio Gramscis, der theoriegeschichtlich auch als "historistisch-szientistische Version des Hegelianismus" bezeichnet wird. Vgl. Psychopedes 2001.
[3] Erinnert sei hier nur an die von Wolfgang Abendroth begründete Marburger Schule kritischer Gesellschaftswissenschaft, die bezeichnenderweise von den einen als verkappter Sozialdemokratismus und von den anderen als getarntes DKP-Unternehmen gewertet wurden. Zu erwähnen sind auch die Ansätze marxistischer Sozialdemokraten zur Formulierung eigener linkssozialistischer Positionen u.a. auf der Grundlage austromarxistischer Positionen der Zwischenkriegszeit, etwa in den „Herforder Thesen“ aus dem Jahre 1980. Siehe dazu die Beiträge zur Wissenschaftlichen Konferenz zum Thema „1980-2000. 20 Jahre danach. Zur Aktualität der Herforder Thesen“, Pankower Vorträge, Heft 28 der Hellen Panke, Berlin 2000.
[4] Als Aufgabe der Zeitschrift wird im Editorial der ersten Ausgabe von ihren Herausgebern angeführt: „Topos soll die Gesellschaft, die Kultur, die Wissenschaft mit dem Blick auf ihren Zusammenhang behandeln. Isoliert zeigen die Phänomene nicht ihren Sinn. Orientierung setzt voraus, dass der Horizont des Ganzen erfasst wird“, in: Topos 1, S. 8, 1993.
[5] Lediglich im Heft 118 der Zeitschrift „Utopie kreativ“ findet sich eine Besprechung der beiden im Neuen Impulse Verlag erschienenen Broschüren durch Christoph Jünke unter der bezeichnenden Überschrift „Auf zum letzten Gefecht? Zur Kritik an Domenico Losurdos Neostalinismus“. Allerdings kann man diese Besprechung beim besten Willen als nicht mehr als eine wüste Beschimpfung bezeichnen. Abgesehen von einigen, in die Ausführungen von Jünke eingestreuten Worten und Halbsätzen Losurdos, die im übrigen nicht ein einziges mal mit Fundstellen belegt werden (!), erfährt der Leser darin leider nichts über die Gedankengänge des kritisierten Autors. Ausführlich zitiert wird hingegen aus den Werken Leo Trotzkis. Jünke stellt dankenswerter Weise gleich am Anfang seines Beitrags klar, um was es ihm geht, wenn er schreibt: „Auch in der Theorie kann man seit einigen Jahren zunehmend selbstbewusster vorgetragene Diskurse beobachten, die wesentliche Theoreme der alten stalinistischen Weltanschauung aktualisieren und darauf hinauslaufen, den historischen Stalinismus mehr oder weniger unverhohlen zu rechtfertigen. Das neueste Kapitel dieser Renaissance hat nun der namhafte italienische Linksphilosoph und Publizist Domenico Losurdo geschrieben.“ (Jünke 2000, S. 778). Um dieses Zerrbild nicht zu gefährden, lässt Jünke Losurdos Kritk am Realsozialismus schlicht unter den Tisch fallen.
[6] Vgl. u.a. „Immanuel Kant – Freiheit, Recht und Revolution“ (1987); „Hegel und das deutsche Erbe. Philosophische und nationale Frage zwischen Revolution und Reaktion“ (1989), „Zwischen Hegel und Bismarck. Die 48er Revolution und die Krise der deutschen Kultur“ (1993); „Die Gemeinschaft, der Tod und das Abendland. Heidegger und die Kriegsideologie“ (1995)
[7] Die Geringschätzung der „formellen“ bzw. bürgerlichen Freiheiten war in der Linken keineswegs nur auf die kommunistische Bewegung beschränkt. Auch in linkssozialistischen Kreisen der Weimarer Republik fand einst der Ausspruch „Republik, das ist nicht viel – Sozialismus ist das Ziel“ viel Zuspruch.
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