Klare Worte in einer verworrenen Lage
"Griechenland, EU und Euro in der Krise" - Interview des „Schattenblick“ am 15. September 2015 in Hamburg-Altona mit Andreas Wehr
Andreas Wehr war 15 Jahre lang als wissenschaftlicher Mitarbeiter im europäischen Parlament tätig und hat in zahlreichen Publikationen eine kritische Auseinandersetzung mit der EU geführt. Als Referent der Auftaktveranstaltung in der Reihe "Griechenland, EU und Euro in der Krise" des Hamburger Bündnisses "Kapitalismus in der Krise" [1] sprach er zum Thema "Ist eine andere EU wirklich möglich?". Im Anschluss an die Veranstaltung im Büro der Partei Die Linke in Hamburg-Altona beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.
Schattenblick (SB): Die Drohung, im Falle eines Austritts aus dem Euro oder gar der EU erwarte die Griechen ein noch viel schlimmeres Schicksal als bei einem Verbleib in der Eurozone, hängt wie ein Damoklesschwert über dem Nacken der Bevölkerung. Welche Folgen wären deines Erachtens tatsächlich zu erwarten, sollte sich eine griechische Regierung zu einem solchen Schritt durchringen?
Andreas Wehr (AW): Aus der Europäischen Union kann man ja austreten, das ist erstmals im Lissabon-Vertrag geregelt worden. Da es hinsichtlich des Euros keine Austrittsregelung gibt, wären daher noch einige juristische Fragen zu klären. Aber wie man das kennt, wird schon eine Rechtsgrundlage gefunden werden. Wollte Griechenland aus dem Euro aussteigen, wäre das jedenfalls möglich. Das würde zunächst verlangen, dass man Übergangsformen schafft, wie das auch schon angedacht wurde. Man könnte zunächst eine Währung für den Binnenmarkt einrichten, wie es in der Vorstellung des Plans von einer "Drachme B" zum Ausdruck kommt, und im auswärtigen Handel weiterhin mit dem Euro bezahlen. Es gibt schon heute Länder, die faktisch zwei Währungen haben, wie das beispielsweise für Kuba mit dem Peso und dem Dollar als Aussenwährung gilt. Das wichtigste ist, dass eine Währung für den Binnenmarkt geschaffen wird, die das reale Produktivitätsniveau Griechenlands widerspiegelt, das ja sehr viel niedriger als in Deutschland und etlichen anderen Ländern der Eurozone ist. Mit einer solchen Binnenwährung lägen die Preise in Griechenland deutlich unter den Europreisen, und so würde die griechische Binnenwirtschaft erst einmal auf die Beine kommen. Die nächsten Schritte wären dann die vollständige Herauslösung Griechenlands aus dem Eurosystem. Die Drachme müsste anschließend im Außenverhältnis gegenüber dem Euro erheblich abwerten. All das verlangt Verhandlungen zwischen Athen und der Europäischen Zentralbank, nötig sind auch erhebliche Rekapitalisierungen für den griechischen Bankensektor, wofür Griechenland finanzielle Unterstützung von außen benötigt.
SB: Das Produktivitätsniveau in der Industrie wie auch im Agrarsektor liegt in Griechenland unter dem Westeuropas. Wäre es vorstellbar, dass Griechenland nicht die Entwicklung nachvollzieht, die führende Industrienationen wie Deutschland vorführen und vorschreiben, sondern eine andere Form der Ökonomie entwickelt?
AW: Das ist schwer zu sagen. Griechenland ist traditionell höher entwickelt als Länder wie Portugal und natürlich auch als die osteuropäischen EU-Staaten. Griechenland hat auch heute noch eine gut organisierte und mit einem hohen Forschungsvolumen arbeitende pharmazeutische Industrie, was kaum jemand weiß. Und da gibt es vor allem die vielzitierten Reeder: Griechenland hat eine sehr produktive Handelsflotte, die größte und modernste der Welt. Dies wird kaum in Rechnung gestellt, was ich für einen großen Fehler halte. Würde man deren Wirtschaftsleistung nämlich hinzurechnen, fiele das griechische Bruttoinlandsprodukt sehr viel höher aus. Es sind ja hochwertige Dienstleistungen, die von den Standorten Athen und Piräus aus durch die Reedereien auf allen Weltmeeren erbracht, aber gegenwärtig nicht eingerechnet werden. Man darf Griechenland daher nicht als ein unterentwickeltes Land ansehen. Ich denke daher, dass Griechenland ein großes Wirtschaftspotential hat und nicht nur Landwirtschaft betreibt, die Oliven und Schafskäse produziert. Übrigens: Würde man die Reedereien tatsächlich besteuern - und nicht allein pauschal nach Schiffstonnage -, sähe der griechische Staatshaushalt auf der Einnahmenseite anders aus.
SB: Unter welchen Voraussetzungen wären Bündnisse zwischen Griechenland und anderen südeuropäischen Staaten zugunsten einer gegenseitigen Unterstützung und eigenständigen Entwicklung der Peripherie denkbar?
AW: Als Syriza im Januar an die Regierung kam, gab es dort Überlegungen in Richtung einer Südkooperation mit Italien, Spanien und Portugal. Das ist aber gescheitert, weil diese Staaten kein Interesse daran hatten, mit Athen zusammenzuarbeiten. Italien hat vielmehr ein großes Interesse daran, Reformpolitik nach deutschem Vorbild, also vor allem eine Arbeitsmarktreform, umzusetzen. Und was Portugal und Spanien angeht, so haben die konservativen Regierungen dieser Länder im Herbst und Winter in Wahlen zu bestehen, in denen es für sie vor allem darum gehen wird, einen Erfolg linker Parteien zu verhindern. All diese Regierungen waren daher zu keinerlei Kompromissen mit der neuen griechischen Regierung bereit, geht es ihnen doch um die Bekämpfung der eigenen linken Opposition, in Portugal der Kommunistischen Partei und des Bloco de Esquerda und in Spanien von Podemos und der Izquierda Unida. Dies kann sich ändern, sollte die Linke in Spanien und Portugal stärker werden oder gar in Gestalt von Linksregierungen an die Macht kommen.
SB: Im Jahr 2008 kam es in Griechenland zu einer rasch erstarkenden Schüler- und Studentenbewegung und ab 2010/11 auch zu einer allgemeinen Massenbewegung, von der offenbar auch die traditionellen linken Parteien und Organisationen überrascht wurden. Die Versammlungen, Kundgebungen und Besetzungen waren vielfach von einer generellen Ablehnung der Parteipolitik geprägt. Syriza hat diese Bewegung zumindest in Teilen aufgegriffen und in ihre parlamentarische Arbeit integriert. Wie siehst du das Verhältnis zwischen diesen Basisbewegungen und Syriza, zumal angesichts des Scheiterns der Regierungspolitik?
AW: Wie man bei den Empörten in Spanien, bei Occupy Wall Street in den USA und bei ähnlichen Bewegungen immer wieder beobachten kann, gewinnen diese sehr rasch enorme Popularität, doch war es stets sehr schwer, sie über längere Zeit aufrechtzuerhalten. Dann sind natürlich politische Parteien gefordert und auch notwendig, um solche Bewegungen aufzufangen und zu stabilisieren - sie nicht nur zu parlamentarisieren, sondern ihnen Strukturen zu geben, damit sie überleben können. In dieser Hinsicht kann man Syriza keinen Vorwurf machen, zumal sie eine Organisation ist, in der ganz verschiedene Richtungen gebündelt sind, von maoistischen bis hin zu sozialdemokratischen. Diese Einheit konnte aber nicht bewahrt werden, derzeit bricht dieser Zusammenschluss wieder auseinander, der linke Flügel hat die Partei inzwischen verlassen.
SB: Heute abend ist des öfteren der Begriff "Arbeiterklasse" gefallen. Gibt es in Griechenland eine Arbeiterklasse und wer würde aus deiner Sicht dazugehören?
AW: In Griechenland existiert noch ein sehr starkes Bewusstsein von einer Arbeiterklasse. Es gibt ja etwa die kommunistische Gewerkschaft PAME, die sehr viel größer ist als die kommunistische Partei selbst, und unter deren Führung sehr harte Arbeitskämpfe ausgetragen werden. Insofern wird der Widerstand gegen die Austeritätspolitik und Entrechtung durch Brüssel und Berlin von der Arbeiterklasse geführt.
SB: Angesichts der dramatischen Verschlechterung der Lebensverhältnisse bildeten sich zahlreiche Formen gegenseitiger Unterstützung unabhängig von staatlichen und kommerziellen Strukturen heraus. Handelt es sich deines Erachtens dabei um Strategien zur Bewältigung einer Notlage, die nicht über diese hinausweisen, oder könnten daraus auch Potentiale erwachsen, die Gesellschaft von der Basis her anders zu organisieren?
AW: Ohne das soziale Engagement und die Leistung von PAME, der Kommunistischen Partei, von Syriza-Mitgliedern, außerparlamentarischen Organisationen und vielen anderen können Teile der Bevölkerung schlichtweg nicht überleben. Alle Leute, mit denen ich darüber gesprochen habe, bezeichneten diese unmittelbare Hilfe als absolute Notwendigkeit, hervorgerufen durch die Austeritätspolitik der EU und das Versagen des Staates, der Sozialleistungen drastisch gekürzt oder ganz gestrichen hätte. Die Selbstorganisation wird aber fast immer nur als Hilfsmittel zur Überbrückung konkreter Notsituationen angesehen, aber nicht als eine Lösung auf Dauer. Diese Leistungen müssen natürlich wieder so schnell wie möglich durch ein funktionierendes Gesundheits- und Sozialsystem abgedeckt werden.
SB: Griechenland wurde unter massivem Druck seiner Souveränität beraubt. Sein Zustand wird heute wahlweise als Postdemokratie, Protektorat oder Kolonie bezeichnet. Würdest du solche Begriffe gleichrangig verwenden, um dieses Zwangsverhältnis zu charakterisieren?
AW: Das sind Begriffe, die durchaus auch in deutschen bürgerlichen Zeitungen und von Konservativen benutzt werden, weil das einfach Fakt ist. Nimmt man allein die Vereinbarung vom 13. Juli, die der griechischen Syriza-Regierung aufgeherrscht wurde, so geht diese bis in kleinste Details. Vorgeschrieben werden etwa Ladenöffnungszeiten am Sonntag, die Organisationsform freier Berufe, das Rentenrecht, konkrete Privatisierungsprojekte und dergleichen mehr. Es handelt sich um tiefe Eingriffe in Bereiche klassisch staatlicher Tätigkeit. Dabei wird offen ausgesprochen, dass all diese Maßnahmen dazu dienen sollen, den griechischen Staat und die Gesellschaft grundlegend umzubauen. In der von Alexis Tsipras unterschriebenen Vereinbarung mit den Gläubigerstaaten findet sich folgender Satz: "Die Regierung muss die Institutionen zu sämtlichen Gesetzentwürfen in relevanten Bereichen mit angemessenem Vorlauf konsultieren und sich mit ihnen abstimmen, ehe eine öffentliche Konsultation durchgeführt wird." Das heißt nichts anderes: Das griechische Parlament hat die Handlungsfähigkeit in entscheidenden Fragen verloren und muss das nachvollziehen, was in Brüssel formuliert wird. Das ist ein klassisches Protektorat.
SB: Griechenland steht seit dem Bürgerkrieg und dem Obristenregime bis heute unter enger Kontrolle der westlichen Mächte, die seine innere Entwicklung mit Argusaugen verfolgen. Wie schätzt du die Gefahr einer neuen Junta oder militärischer Intervention ein, sollte das Land einen eigenständigen Weg einschlagen?
AW: Als die Syriza-Regierung Gespräche in Moskau führte, wurde sofort kritisch angemerkt, dass ihr dieser Handlungsspielraum nicht zustehe. Am Ende ist bei diesen Gesprächen nichts herausgekommen, da die beträchtlichen finanziellen Hilfen Russlands, von denen in den Medien wiederholt die Rede war, gar nicht zur Debatte standen und lediglich über eine Pipeline-Verlegung sowie ein paar andere Dinge gesprochen wurde. Was sich dabei jedoch zeigte, ist der enge Zusammenhang der Entwicklung Griechenlands innerhalb der EU hin zu einem abhängigen Gebiet und die zunehmende Kontrolle seiner Außen- und Sicherheitspolitik. Man verfolgt sehr genau, wohin sich dieses Land bewegt, denn es besitzt eine wichtige strategische Stellung im östlichen Mittelmeer, und auf seinem Territorium befinden sich zahlreiche Militärstützpunkte der NATO. Als sich die Krise zuspitzte, fehlte es daher nicht an mahnenden Worten aus Washington an die europäischen Staaten, es mit dem Griechenlandbashing nicht zu arg zu treiben, da das Land für die strategischen Fähigkeiten der NATO außerordentlich wichtig ist.
SB: Mit dem Druck, der auf Syriza ausgeübt wurde, korrespondierte eine Kurskorrektur der Parteiführung, die mit ihren Wahlversprechen brach und den linken Flügel aushebelte. Was hätte diese Regierung aus deiner Sicht anders machen müssen?
AW: Das Referendum vom 5. Juli führte zu einem überzeugenden Nein von mehr als 60 Prozent der griechischen Bevölkerung, eine Ablehnung, die in dieser Höhe niemand erwarten konnte. Es war ein Nein in allen Wahlkreisen Griechenlands, selbst in den traditionellen Hochburgen der Konservativen. Ich habe bis heute noch keine überzeugende Antwort auf die Frage gefunden, warum die Syriza-Regierung den Ausgang des Referendums nicht zum Anlass dafür genommen hat, um zu sagen: "Wir haben das klare Mandat der Bevölkerung und wir werden daher über kein weiteres Memorandum mehr mit euch verhandeln, wir sind eher bereit, dieses Nein auszudehnen auf ein Nein auch zum Euro." Das hätte eigentlich angestanden. Nun ist aber bekannt, dass die griechische Bevölkerung mehrheitlich nicht für einen Euroaustritt ist. Es gibt also dieses widersprüchliche Bild, dass 60 Prozent die Austeritätskonzepte der Europäischen Union ablehnen, aber zugleich ebenfalls 60 oder sogar 70 Prozent weiter in der Eurozone bleiben wollen. Wenngleich ich Tsipras und der Partei Syriza als Ganzes glaube, dass sie den Austeritätskurs und damit die Memoranden ablehnen, hätten sie doch als politische Führung in einer aufklärerischen Aktion die Zusammenhänge zwischen der Mitgliedschaft in der Eurozone und der damit verbundenen Last des Memorandums herstellen müssen. Statt die Volksabstimmung als Politisierungsschub zu nutzen, haben sie stattdessen aus dem Nein am 5. Juli ganz andere Konsequenzen gezogen und eine Woche später das neue Memorandum unterzeichnet, das noch viel schlimmer als die beiden vorangegangenen ist. Mit dieser Entscheidung hat die Parteiführung Syriza als Partei aufs Spiel gesetzt und eine Spaltung ausgelöst. Wir wissen, dass inzwischen ein Drittel der Mitglieder die Partei verlassen hat, insbesondere viele Jugendliche, die große Erwartungen in diese Partei gesetzt hatten. Das Desaster ist groß, die Führung ist einen falschen Weg gegangen.
SB: Das Scheitern Syrizas war auch für die europäische Linke eine große Enttäuschung, die sich sehr viel von der Entwicklung in Griechenland versprochen hatte. Welche Konsequenzen sollte man daraus ziehen?
AW: Die europäische Linke hat in ihren Mehrheitsparteien wie der französischen kommunistischen Partei und der Partei Die Linke in Deutschland die Position von Syriza aus dem Wahlkampf im Januar weitgehend unkritisch übernommen und ähnliche Illusionen verbreitet. Ich erinnere mich an eine Parole, die von der europäischen Linkspartei kam: "Heute Athen, morgen Madrid und übermorgen Berlin". Man hat all diese Illusionen über ein mögliches soziales und demokratisches Europa geteilt, obgleich genügend Erfahrungen vorlagen, um Syriza deutlich zu machen, dass eine veränderte Position der Herrschenden in Frankreich und Deutschland und damit auch in Brüssel nicht zu erwarten ist. Die Hoffnung, von Athen aus die Europäische Union verändern zu wollen, war von Beginn an eine Illusion! Aber man hat nicht aufgeklärt, sondern über Monate eine trügerische Hoffnung genährt. Und das, finde ich, ist keine redliche Politik der gesamten europäischen Linken.
SB: Vor wenigen Tagen wurde von Mélenchon, Varoufakis, Lafontaine und anderen ein Papier veröffentlicht, in dem von einem "Plan B" die Rede ist. Würdest du diesen Entwurf inhaltlich teilen?
AW: Er ist auf jeden Fall ein großer Fortschritt. Er stellt erstmalig eine Öffnung von wichtigen Teilen der europäischen Linken dar. Ich finde es vor allem gut, dass man darin vor der Möglichkeit einer Beendigung des Euroregimes nicht zurückschreckt, sondern sie wirklich in Betracht zieht. Das ist ein großer Fortschritt im Vergleich zu all den verwaschenen Aussagen eines irgendwie weiter so, die man gegenwärtig aus der europäischen Linken hört.
SB: Andreas, vielen Dank für dieses Gespräch.
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