Kerneuropa - ein in die Jahre gekommenes Gespenst

Das war die Öffentlichkeit eigentlich gewohnt: Kaum rutscht die Europäische Union in eine ihrer Krisen, sogleich wird, versehen mit drohendem Unterton gegenüber den Blockierern, von einem kommenden Kerneuropa integrationswilliger Staaten gesprochen. Doch dies war einmal. Geht es nach Bundeskanzlerin Merkel, so hilft heute, nach der irischen Ablehnung des Vertrags von Lissabon, eine "Diskussion über ein Europa der zwei Geschwindigkeiten bzw. über ein Kerneuropa nicht weiter". In ihrer Regierungserklärung vom 19. Juni 2008 erteilte sie solchen Überlegungen eine klare Absage: "Damit wir uns nicht missverstehen: Ich halte diese Diskussionen ohnehin für nicht zielführend und zum Teil auch für fahrlässig; denn man kann nicht eine erweiterte Europäische Union haben und zugleich bei der ersten Schwierigkeit immer sofort sagen: Nun gestalten wir ein Kerneuropa."
 

Nach dem Scheitern des ersten Anlaufs zur Durchsetzung des Verfassungsvertrags klang dies noch ganz anders. Damals, im Dezember 2003, erweckten die Regierungen in Berlin und Paris den Eindruck, es führe an der Schaffung eines Kerneuropas, gruppiert um die deutsch-französische Achse, kein Weg mehr vorbei. Die Frankfurter Rundschau erschien am 15.12.03 unter der Schlagzeile "Kerneuropa rückt näher". Die Überschrift im Handelsblatt vom 16.12.03 lautete gar "Romano Prodi segnet Kerneuropa ab". Doch als die seinerzeit widerspenstigen Polen und Spanier einlenkten, verschwand auch dieses Gespenst eines Kerneuropas wieder in der Kiste. Und am 6. März 2004 antwortete der damalige Außenminister Josef Fischer in einem Interview auf die Frage, welche Inhalte der Humboldt-Rede von 2000 er heute anders formulieren würde wie folgt: „Es ist die Frage, ob eine kerneuropäische Perspektive außerhalb der Verfassung im heutigen Europa noch Bestand haben könnte.“

 

Von diesem ominösen Kerneuropa gab es übrigens nie eine konkrete Vorstellung, und dies ist auch nicht verwunderlich. Denn würde man etwa Großbritannien an den Rand drängen, so bedeutet dies den Verzicht auf die wichtigste Militärmacht der EU. Eine gemeinsame Verteidigungspolitik ließe sich dann nicht mehr realisieren. Wollte man hingegen den neuen mittelosteuropäischen Mitgliedern einen minderen Rang geben, so gefährdet man die neuen, kostengünstigen Produktionsstandorte westeuropäischer Konzerne dort.

 

Auch in der Ausarbeitung der Väter der Kerneuropadebatte, dem Papier "Überlegungen zur europäischen Politik" von Karl Lamers und Wolfgang Schäuble aus dem Jahr 1994, findet sich kein konkreter Hinweis darauf, welcher Staat denn nun zu jenem Kerneuropa gehören solle und welcher nicht. Gefordert wird dort allein, dass ein "fester Kern von integrationsorientierten und kooperationswilligen Ländern, der sich bereits herausgebildet hat, weiter zu festigen ist. Zu ihm gehören fünf bis sechs Länder. Der Kern darf nicht abgeschlossen, muss hingegen für jedes Mitglied offen sein, das willens und in der Lage ist, seinen Anforderungen zu entsprechen." Allein Frankreich und Deutschland werden dort "als Kern des Kerns" bezeichnet. 

 

Die Grundüberlegung des Papiers ist aber weiter hochaktuell. Sie besteht in der "Aufgabe des festen Kerns, den zentrifugalen Kräften ein starkes Zentrum entgegenzustellen und damit die Auseinanderentwicklung (...) zu verhindern." Doch dieses Ziel wird heute auf anderem Wege verfolgt. Mit dem Verfassungs- bzw. jetzt Lissabon-Vertrag wird die jeweilige Bevölkerungsgröße zum entscheidenden Kriterium bei Abstimmungen im Rat. Damit werden sich die Machtverhältnisse in der EU dramatisch verändern. Allein der Anteil Deutschlands bei Abstimmungen verdoppelt sich. Auch die Gewichte Frankreichs, Großbritanniens und Italiens werden deutlich größer. Im Rat werden dann die vier Großen nicht mehr weit von dem erforderlichen Quorum zur Bildung einer gestaltenden Mehrheit entfernt sein. Benötigt werden nur noch wenige Bündnispartner, um als Direktorium, als Kern, die EU lenken zu können. Die Union wird mit dem Lissabonner Vertrag ihren Charakter als einer Gemeinschaft zur Aushandlung divergierender Interessen weitgehend verlieren. Während die Großen gewinnen, verlieren mit dem neuen Verfahren die kleinen und mittleren Staaten erheblich. Und zu diesen Verlierern gehören immerhin 21 der 27 EU-Mitgliedsländer. Allein der Stimmenanteil Irlands halbiert sich gegenüber dem jetzt praktizierten Abstimmungsverfahren.

 

Die Europäische Kommission soll nach Lissabon deutlich kleiner werden, so dass nicht mehr jeder Mitgliedsstaat in ihr vertreten sein kann. Nach dem vorgesehenen Auswahlverfahren wird die Kommission aber so zusammengesetzt, dass "das demografische und geografische Spektrum der Gesamtheit der Mitgliedstaaten auf zufrieden stellende Weise zum Ausdruck kommt", was bedeutet, dass die Großen ihren Kommissar wohl behalten dürfen. Auch dieser Verlust des ständigen Kommissars spielte in Irland eine große Rolle. Wen wundert es da noch, dass die Iren zu einem solchen Vertrag am Ende Nein sagten?

 

Neben einer so erreichten Festigung des Kerns erfüllt der Lissabon-Vertrag noch eine weitere Forderung des Schäuble-Lamers-Papiers. Damals war verlangt worden, "dass die Länder, die in ihrer Kooperation und in der Integration weiter zu gehen willens und in der Lage sind als andere, nicht durch Veto-Rechte anderer Mitglieder blockiert werden dürfen." Nach dem Lissabon-Vertrag ist für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik nun eine "ständige strukturierte Zusammenarbeit" für jene Staaten vorgesehen, "die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen." Über die Einrichtung einer solchen Zusammenarbeit soll der Rat lediglich mit qualifizierter Mehrheit entscheiden, d.h. kein Mitgliedsland wird ein Veto dagegen einlegen können.

 

Das alte Gespenst Kerneuropa kann also ruhig in der Kiste verbleiben, denn die mit ihm verbundenen Ziele werden heute mit dem Lissabonner Vertrag weiter verfolgt.

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