Jeder gegen jeden

In Brüssel geschehen in diesen Tagen erstaunliche Dinge. Unter der schönen Überschrift "Nach gemeinsamen, europäische Lösungen aus der Finanzkrise suchen" ist die Europäische Union heute aber tatsächlich nicht viel mehr als ein Austragungsort der Konkurrenzkämpfe der jeweils national gestützten Bankengruppen. Während die Öffentlichkeit täglich mit Schreckensmeldungen über schwindende Börsenwerte, immer neue taumelnde Bankriesen und "unumgängliche" Staatshilfen in Angst und Schrecken gehalten wird, werden hinter den Kulissen gigantische Fischzüge unternommen, unliebsame Konkurrenten versenkt und neue Märkte erobert. Da wir bekanntlich im System des Staatsmonopolistischen Kapitalismus leben, geschieht dies regelmäßig unter Zuhilfenahme des "eigenen" Staatsapparats. Und diese europäischen Staatsapparate treffen eben in der EU aufeinander.

Da gab es die Idee des französischen und derzeitigen EU-Ratspräsidenten Nicolas Sakorzy es dem amerikanischen Finanzminister Henry Paulsen gleichzutun und auch für Europa ein Bail-out Paket zu schnüren. Vorgesehen war eine Summe von 300 Mrd. Euro. Doch aus dem Plan des französischen Präsidenten wurde nichts, inzwischen dementiert er sogar, dass er ihn überhaupt unterbreitet habe. Die deutsche Bundesregierung und Großbritannien stellten sich nämlich quer. Zu diesem Zeitpunkt betrachtete man in Berlin die Finanzkrise noch als eine vornehmlich angelsächsische Angelegenheit. Seit der Beinahepleite von Hypo Real-Estate weiß man es allerdings nun auch dort besser.

Wie man "seinen" Staat effektiv einsetzt, demonstrierte wenige Tage später die irische Regierung. Sie gab eine Garantie für die gesamten Einlagen bei sechs irischen Banken ab. Ein entsprechendes Gesetz wurde umgehend verabschiedet. Money strömt seitdem reichlich vor allem aus Großbritannien herein, so dass sich London beeilen musste, seinerseits die staatlich garantierte Deckung für Einlagen zu erhöhen. Die irische Regierung durfte sich ob dieses Schachzugs harte Kritik der übrigen EU-Regierungen anhören. Angekreidet wurde ihr vor allem, dass sie ausländische Bankfilialen von der Haftungsübernahme ausdrücklich ausschloss.

 

Doch jene Regierung, die die Iren am lautesten kritisiert hatte, nämlich die deutsche, tat es ihnen nur einen Tag darauf nach. Am Abend des 5. Oktober traten Kanzlerin Merkel und ihr Finanzminister Steinbrück vor die Kameras und verkündeten den staunenden Journalisten eine Staatsgarantie für alle privaten Spareinlagen, Termineinlagen und Girokonten. Nur wenige Stunden später folgten Österreich, Dänemark, Schweden und Griechenland. Überall dort wurde die Einlagensicherung heraufgesetzt, um einen Kapitalabfluss, nun vor allem nach Deutschland, aufzuhalten. Über diesen Schritt der Bundesregierung ist man in Frankreich und Großbritannien empört, denn nur einen Tag vor dieser Erklärung, beim Krisengipfel der vier großen EU-Staaten in Paris, fiel nicht ein Wort über dieses Vorhaben der Deutschen. Unterdessen hat die französische Regierung angekündigt, ihren eigenen nationalen Rettungsplan aufzustellen. Spanien wird den Finanzsektor seines Landes mit 30 Mrd. unterstützen. Und London hat angekündigt, Anteile an britischen Banken in Höhe von 50 Milliarden Pfund zu übernehmen. So gab es bei den Treffen der Finanzminister der Euro-Zone am letzten Montag sowie des EU-Finanzministerrats am Dienstag eigentlich nichts mehr zu besprechen. Finanzminister Steinbrück zog es denn auch vor, erst gar nicht zu kommen.

Während die EU-Mitgliedstaaten nun alle allein ihren Weg gehen und dabei das Prinzip "Beggar your neighbor" beherzigen, vollziehen sich tiefgreifende Veränderungen in der europäischen Bankenlandschaft. Mit Rückendeckung ihrer jeweiligen Regierungen sind vor allem spanische, französische und niederländische Banken auf Einkaufstour. Wie dabei vorgegangen wird, beschrieb die Frankfurter Allgemeine (FAZ) am 29.September ganz offen: "Anstatt eine gesamte Bank mit ihrem Gesamtrisiko zu übernehmen ist es klüger, sich nach dem Zusammenbruch die besten Teile herauszufischen und das Risiko dem Staat zu überlassen."

 

Besonders dreist ging man bei der Zerlegung des belgisch/niederländischen Finanzkonzerns Fortis vor. Auf einem Krisengipfel am 30. September hatten sich die Regierungen der Niederlande, Belgien und Luxemburg entschlossen, die Unternehmen von Fortis in den drei Ländern zu jeweils 49 Prozent in Staatsbesitz zu nehmen. Insgesamt 11,2 Mrd. Euro wurden dafür bereitgestellt. Doch nur eine Woche später kündigte die Regierung in den Haag diese Vereinbarung auf und verstaatlichte den gesamten niederländischen Anteil für 16,8 Mrd. Euro. Als Grund wurde genannt, dass zahlreiche Großkunden in den Niederlanden trotz der Stützung des Staates Geld von den Konten abgezogen hätten. Doch es ging bei dieser Kehrtwende um etwas ganz anderes. Zusammen mit zwei weiteren Banken hatte Fortis erst 2007 für schwindelerregende 71 Mrd. Euro die niederländische ABN Amro übernommen. Allein Fortis hatte 24 Mrd. Euro dafür hingelegt. Da die Fusion technisch noch nicht vollzogen ist, kann ABN Amro jetzt wieder herausgelöst und alsbald als niederländische Bank privatisiert werden. Die Bank ist zurück und der Kaufpreis bleibt eingesackt. Kein schlechtes Geschäft! Den belgisch-luxemburgischen Teil von Fortis übernahm die französische Bank BNP Paribas für 14,7 Mrd. Euro. Es habe sich um "eine einmalige Gelegenheit" (FAZ vom 7. Oktober) gehandelt, erklärten dazu die französischen Banker.

Das sich immer schneller drehende Rad von Spekulation, Ausschlachtung und Übernahme hat furchtbare Konsequenzen nicht allein für die Beschäftigten der betroffenen Institute und für die Steuerzahler. Der mörderische Konkurrenzkampf der Bankengruppen ruiniert die gesamte Wirtschaft. Seit Beginn der Krise ist der Ausleihemarkt zwischen den Banken zunächst ins Stocken geraten und droht jetzt ganz zu versiegen. Auf diesem Ausleihemarkt werden normalerweise täglich Hunderte Milliarden hin- und herbewegt, damit die Banken ihren üblichen Geschäften nachgehen können. Jetzt versuchen die staatlichen Notenbanken durch enorme tägliche Liquiditätshilfen diesen Blutkreislauf am Gang zu halten. Die internationale Bankenwelt gleicht inzwischen einem Patienten unter schwerem Schock: Die Organe sind voller Blut, geben es aber nicht mehr ab. Was das bei einem Menschen für Folgen hat, ist bekannt. Doch trotz aller Appelle und Bitten sind die Banken nicht bereit, ihr Verhalten zu ändern. Anstatt anderen, notleidenden Banken Kredit zu geben, wird etwa überschüssige Liquidität lieber in der Einlagefazilität der Europäischen Zentralbank geparkt, auch wenn es dafür weit geringere Zinsen gibt. Als Grund für dieses irrationale Vorgehen wird mangelndes Vertrauen unter den Banken genannt. Das ist aber bestenfalls die halbe Wahrheit, denn die Verweigerung der Ausleihe ist ein ideales Mittel, um der anderen, schwächeren Bank die Luft abzudrücken und sie so aus dem Weg zu räumen. Die Folgen dieses Wahnsinns sind bereits in der Realwirtschaft angekommen. Überall klagen die Unternehmen über drastisch höhere Refinanzierungssätze.

Die Irrationalität des sich immer mehr beschleunigenden Wettbewerbs in der Finanzwirtschaft wird man nicht durch unabhängige Aufsicht über Ratingagenturen, mehr Transparenz, Einführung eines internationalen Kreditregisters oder durch Zulassungspflicht für neu entwickelte Finanzprodukte brechen können. Die Entwicklung ist über solche Forderungen längst hinweggegangen. Notwendig ist vielmehr, den gesamten Bankensektor auf einem Schlag in staatlichen Besitz zu nehmen. Nur so kann die Abwärtsspirale gestoppt werden. Einzelverstaatlichungen führen hingegen nur immer wieder zu neuen Sozialisierungen von Verlusten sowie zu weiteren Verzerrungen, da verstaatlichte Banken nicht untergehen können. Erst die staatliche Kontrolle des gesamten Sektors ermöglicht das Wiedereingliedern der Banken in den Wirtschaftskreislauf. Dies erfordert Vorgaben über die Kreditvergabe, über Zinssätze und über die Aufgabe bestimmter Geschäftsfelder. Deutschland, das über die mit Abstand stärkste Ökonomie in der EU verfügt, muss hier vorangehen, andere Länder werden folgen. Erst dann kann man von einer wirklichen europäischen Union sprechen.

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