DIE LINKE nach den Wahlen in Thüringen - Wiederauferstehung als Partei der Mitte?
Von Andreas Wehr, 15. November 2019
DIE LINKE feiert die Feste wie sie fallen. Lag sie eben noch nach desaströsen Niederlagen in Brandenburg und Sachsen am Boden, so war der Jubel nach der gewonnenen Landtagswahl in Thüringen umso lauter und ausgelassener: Erstmals in der Geschichte war DIE LINKE in einem Bundesland stärkste Partei geworden!
Doch der Wahlausgang war gar nicht so ungewöhnlich wie es auf den ersten Blick schien. Er folgte vielmehr einem Muster, das man schon zuvor beobachten konnte. In einer Situation der Polarisierung gegenüber der AfD entscheiden sich viele Wähler, die man der Mitte zurechnet, eben für jene Partei, der man die Führung dieses moderaten Lagers am ehesten zutraut. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde der Erfolg von Bodo Ramelow denn auch nüchtern und undramatisch bewertet: „Die Linke als Partei des Ministerpräsidenten wiederum profitierte von der Auseinandersetzung mit der AfD, was auch schon in Brandenburg und Sachsen die jeweiligen Amtsinhaber stärkte – und zu Lasten kleiner Koalitionspartner und der Opposition ging.“ (FAZ 29.10.2019)
Zieht man diesen Ministerpräsidentenbonus, der sich im Landesstimmenergebnis von 31 Prozent zeigte, einmal ab, so relativiert sich denn auch der Erfolg der Linkspartei. Bei den Wahlkreisstimmen erreichte sie nur 25,8 Prozent und lag damit hinter der CDU, die 27,2 Prozent erhielt und 21 der Wahlkreise gewann, AfD und LINKE dagegen jeweils nur 11.
Der Wahlkampf der Linkspartei setzte auf diesen Ministerpräsidenten-Bonus. Er war ganz auf den sich präsidial-bürgerlich gebenden „Landesvater“ Bodo Ramelow zugeschnitten: „Wer in den vergangenen Tagen durch Thüringen fuhr, der sah einen um seine zweite Amtszeit kämpfenden Ministerpräsidenten, der ausweislich der Plakate mit seinem Konterfei keiner Partei angehörte. Und er sah Großplakate einer Partei, deren Programm auf den Namen eben dieses Spitzenkandidaten zusammengeschnurrt war. Das Vexierspiel ist für Bodo Ramelow und die Linkspartei aufgegangen.“ (FAZ 28.10.2019) Es präsentierte sich „ein Christ und Gewerkschafter aus dem Westen“, so Konrad Schuller in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS 03.11.2019)
Wie groß bei Bodo Ramelow inzwischen die Distanz zur eigenen Partei ist, zeigt folgende Begebenheit: „In einem Gespräch mit der F.A.Z. im Jahr 2014 zum Beispiel ergab sich folgende Situation: Ramelow trug einen kleinen roten Keil am Revers, ein kommunistisches Symbol aus Zeiten der Oktoberrevolution. Der Redakteur fragte ihn, ob er denn nichts dabei finde, ein Zeichen zu tragen, unter dem seinerzeit Menschen ermordet wurden? Die Antwort: ῾Das bedrückt mich aber jetzt, zu hören, in welchem Kontext Sie den Keil sehen. Da muss ich sagen: Das wusste ich nicht.῾ – Seht her, war die Botschaft, wir können lernen.“ (FAS 03.11.2019)
Jener „roter Keil“ ist als Symbol der neuen russischen Kunst unmittelbar nach der Oktoberrevolution entstanden. Seit dem Zusammenschluss von PDS und WASG führt die Partei DIE LINKE es als ihr Parteisymbol. Den von der FAZ vorgetragenen Angriff auf dieses Symbol und damit auf die Identität der Partei weist Ramelow nicht zurück. Er zeigt vielmehr Verständnis dafür.
Mit Genugtuung verweist die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung auf weitere Beispiele aus Thüringen für die Verleugnung der eigenen Geschichte: „Als es dann vor fünf Jahren darum ging, zum ersten Mal in Deutschland eine rot-rot-grüne Koalition unter linker Führung zu bilden, waren weitere Lernschritte nötig. Die Grünen und die SPD im Osten haben ihre Wurzeln in der DDR-Bürgerbewegung, viele von ihnen haben die Quälereien des Regimes selbst erlebt. Deshalb bestanden sie darauf, dass in der Präambel des damaligen Koalitionsvertrags die DDR als ῾Unrechtsstaat῾ bezeichnet wurde. Ramelow wollte erst nicht recht und sagte, durch so ein Wort werde der SED-Staat mit dem Nazi-Regime gleichgesetzt. (…) Ramelow hat denn auch am Ende zugelassen, dass das Wort in den Koalitionsvertrag kam, und im Bündnis mit Grünen und Sozialdemokraten hat seine Partei nicht verhindert, dass Thüringen bei der Aufarbeitung von SED-Unrecht Fortschritte machte." (FAS 03.11.2019)
Gewürdigt wird auch der thüringische Minister für Kultur-, Bundes- und Europaangelegenheiten und Chef der Staatskanzlei Benjamin - Immanuel Hoff: "Sein Kanzleichef Hoff, ein linker Intellektueller mit cool gestutztem weißem Bart und Professorentitel, macht im Landtag dabei eine gute Figur. Bei einer Debatte zum Jahrestag der Wende vor wenigen Tagen hat er zum Beispiel die Gewalt kommunistischer Führungen gegen ihre eigenen Völker verurteilt. Die Blutbäder in Ungarn 1956 und in China 1989 hat er dabei ebenso genannt wie den 17. Juni 1953 in der DDR. Er verneigte sich vor den Bürgerrechtlern der Wende und zitierte aus einem Nachruf auf Bärbel Bohley: ῾Das Geheimnis der Freiheit war der Mut.῾ In Sachen Vergangenheit kommen sie also halbwegs miteinander klar in Thüringen – die CDU, die SPD und die Grünen, und dann eben auch Ramelows Linke.“ (FAS 03.11.2019)
Davon abgesehen, dass die Bezeichnung „Blutbäder“ für die Ereignisse in der DDR, in Ungarn und in China in der Regel nicht einmal konservative Historiker verwenden - was ist mit den Verbrechen des Westens in Indonesien, Vietnam, Chile, Guatemala, Jugoslawien - um nur wenige zu nennen? Der Genozid in Indonesien 1965/66 nach dem Sturz Präsident Sukarnos kostete mindestens 1,8 Millionen Kommunisten, Sozialisten und Gewerkschaftern das Leben.[1] Im Vietnam-Krieg der USA kamen nach Schätzungen bis zu vier Millionen Vietnamesen um.[2] Im Anschluss an den von den USA offen unterstützten Putsch in Chile 1973 wurden nach Angaben von Amnesty International allein in den ersten Monaten zwischen 5.000 bis 30.000 Menschen ermordet.[3] Wenn man schon über „Blutbäder“ sprechen will, so sollte man sich dieser schrecklichen Ereignisse erinnern!
In dem Verhalten von Ramelow und Hoff zeigt sich ein bemerkenswerter Selbsthass, der in der Partei DIE LINKE - aber nicht nur dort – verbreitet ist. Der italienische Historiker und Philosoph Domenico Losurdo hat sich immer wieder mit den Ursachen dieses Verhaltens beschäftigt, das Folge der Niederlage des Sozialismus 1989/91 ist: „In der Geschichte verfolgter ethnischer oder religiöser Gruppen begegnet uns eine merkwürdige Erscheinung. An einem gewissen Punkt neigen auch die Opfer dazu, sich den Standpunkt der Unterdrücker zu eigen zu machen, und beginnen deshalb, sich selbst zu verachten und zu hassen. (…) Das Phänomen des Selbsthasses betrifft nicht nur ethnische oder religiöse Gruppen. Es kann auch bei sozialen Klassen und politischen Parteien nach einer schweren Niederlage auftreten, vor allem wenn der Sieger, sobald die eigentlichen Waffen beiseitegelegt oder in den Hintergrund getreten sind, an ihrer tödlichen, heute durch das multimediale Feuer verstärkten Kampagne festhalten. (…) Der aufgeblasene Narzissmus der Sieger, die ihre eigene Geschichte verklären, findet so sein Gegenstück in der Selbstgeißelung der Besiegten.“[4] Es ist hier hinzuzufügen: Erst wenn das Weltbild der Unterdrücker von den Unterdrückten geteilt wird, ist deren Sieg vollständig.
Indem man aber das Erbe des gewesenen Sozialismus, und hier vor allem das der DDR, verwirft und sich lauthals von ihm distanziert, kappt man die Wurzeln der Partei DIE LINKE. Worin unterscheidet sie sich künftig noch von SPD und Grünen, wenn sie ihr Herkommen aus der großen Tradition des Roten Oktober verleugnet?
Ist es nicht so, dass erst die russische Revolution den Weg in eine neue Zeit öffnete? Dessen Impulse sind auf drei Gebieten wirksam geworden: in der Überwindung der „Klassenaristokratie als Rassenaristokratie“, die sowohl zur Unabhängigkeit kolonialer Völker wie zur rechtlichen Gleichstellung der Farbigen in den USA und Südafrika führte. Zum zweiten in der Infragestellung der gegenüber den Frauen verhängten „Ausschlussklausel“. Und drittens löste die Wende einen Demokratisierungsschub aus, der das Zensuswahlrecht in vielen Ländern zum Einsturz brachte und damit den breiten Volksmassen überhaupt erst ermöglichte, am gesellschaftlichen Leben aktiv teilzunehmen, auch wenn sie fast überall ökonomisch weiter diskriminiert blieben. Zur Erreichung dieses Resultats haben sowohl die französische als auch die Oktoberrevolution erstrangige Beiträge geleistet: „Die entscheidenden Schläge, die dieser Welt versetzt wurden, sind wesentlich dafür, dass allen Menschen, unabhängig von Rasse, Zensus und Geschlecht, die Würde als soziales Subjekt, als Selbstzweck zuerkannt wird.“[5] Welchen Grund gibt es für die Linkspartei sich davon zu distanzieren?
Die Abwendung von der eigenen Geschichte und die Aufgabe ihrer Identität bereitet den Boden für die Anerkennung der Partei DIE LINKE als neues Mitglied der breiten politischen Mitte. Erneut ist es die großbürgerliche Frankfurter Allgemeine Zeitung, die hier den Weg weist: „So muss nun also in Thüringen abermals politisch Neuland betreten werden. Und wiederum allen Unkenrufen zum Trotz droht weder Chaos, noch ist das Land unregierbar. Tradierte Mehrheiten, starke Volksparteien und große Koalitionen sind Vergangenheit, stattdessen wird es zuerst in den Ländern und früher oder später auch im Bund Dreier- oder sogar Viererbündnisse geben oder wie in Thüringen eine Minderheitsregierung. In diesem Fall Linke, SPD und Grüne, die von der FDP oder gar der CDU toleriert werden. (…) Wenn Umfragen zufolge siebzig Prozent der Thüringer sagen, Ramelow sei ῾ein guter Ministerpräsident῾, und selbst sechzig Prozent der CDU-Wähler diese Ansicht teilen, widerspricht es der Lebenserfahrung, dass das alles Ewiggestrige, Irre oder ῾rote Socken῾ sind. Auch der am Wahlabend oft gehörte Satz, es gebe keine Mehrheit mehr für die politische Mitte, trifft zumindest für Thüringen nicht zu, weil die Linke hier längst Mitte ist, was wiederum in Umfragen fast die Hälfte der Thüringer genauso sieht. Schließlich sagen 69 Prozent der vor der Wahl intensiv befragten Einwohner dieses Landes, dass die CDU neu über eine Zusammenarbeit mit der Linken entscheiden solle, was auch 68 Prozent der CDU-Wähler im Freistaat finden. (…) Auch wenn die Partei und Ramelow das, nicht zuletzt wegen der heftigen Angriffe der CDU im Wahlkampf, vorerst ausschlagen dürften, könnte es durchaus sein, dass Thüringen auch hier über kurz oder lang ein neues Experiment wagt.“ (FAZ 29.10.2019)
Der Linken als neuer Bestandteil der neuen Mitte wird inzwischen großzügig die Auszeichnung zuerkannt, fest auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen: „So bleibt es dabei, dass drei Viertel der Wähler im Osten hinter Parteien stehen, die, von Randunschärfen bei der Linkspartei abgesehen, fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehen.“ (FAZ 28.10.2019) Was die erwähnten „Randunschärfen bei der Linkspartei“ angeht, so dürften damit Gruppen wie die Kommunistische Plattform gemeint sein.
Auch der Bundespräsident gibt sich inzwischen gnädig gegenüber den Linken: „Frank-Walter Steinmeier hat angesichts der schwierigen Regierungsbildung in Thüringen davor gewarnt, die Linkspartei in dem Bundesland als radikal abzustempeln. ῾Die Landtagswahl in Thüringen hat gezeigt, dass Parteien von den Wählerinnen und Wählern regional sehr unterschiedlich bewertet werden῾, sagte Steinmeier dem Berliner Tagesspiegel.“[6]
Und sogar der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck erklärte in einem Interview: „Parteien brauchen keine Ratschläge von mir. Aber der thüringische Ministerpräsident ist nicht als Radikaler aufgefallen. Im Gegenteil, er hat auch Wähler angesprochen, die mit seiner Partei eigentlich wenig am Hut haben. Wenn die Parteien der demokratischen Mitte jetzt verträgliche Formen der Zusammenarbeit oder Tolerierung mit ihm finden würden, fände ich das eher pragmatisch.“ (FAZ vom 09.11.2019) Ein giftigeres Lob, ausgesprochen vom Erzfeind jeder linken Bestrebung, ist kaum vorstellbar.
Geht es nach der Führung der Linkspartei, so soll Thüringen kein Einzelfall bleiben. Der Erfolg gilt vielmehr als Vorbild für die gesamte Partei. Der Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Dietmar Bartsch, gab hierzu die Losung aus: „Wir müssen als Bundespartei von Bodo Ramelows Erfolg lernen.“[7]
In einem Artikel unter der Überschrift „Stationen des Niedergangs einer Partei“ habe ich am 3. September 2019 den Bedeutungsverlust der Linkspartei beschrieben.[8] Aktueller Hintergrund waren die Niederlagen in Brandenburg und Sachsen kurz zuvor. An ihrem Niedergang als antikapitalistische Kraft hat sich seitdem nichts geändert. Im Gegenteil: Der Wahlsieg in Thüringen stellt zwar einen Erfolg dar, errang doch DIE LINKE damit eine zentrale Machtstellung im parlamentarischen Geschehen dort. Er bedeutet aber zugleich eine Niederlage der Linkspartei als sozialistische Kraft, da er unter vollständiger Verleugnung ihrer Identität zustande kam. Damit erhält sie zwar eine Chance zu ihrer Wiederauferstehung – nun aber als Partei der Mitte. Dazu passt der Abgang von Sahra Wagenknecht als Fraktionsvorsitzende, stand sie doch dieser Entwicklung lange im Weg.
[1] Vgl. André Vltchek, Indonesien. Archipel der Furcht, Zambon-Verlag Frankfurt/Main 2015, S.48
[2] Nach Angaben auf Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Vietnamkrieg#Tote_und_Verletzte
[3] Nach Angaben auf Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Putsch_in_Chile_1973#Sch%C3%A4tzung_der_Opferzahlen_durch_Zeitzeugen
[4] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte. Die russische und die chinesische Revolution heute, Neue Impulse Verlag, Essen 2009, S. 9 f.
[5] Domenico Losurdo, Das 20. Jahrhundert begreifen, PapyRossa Verlag Köln 2013, S.84
[6] FR 08.11.2019 https://www.fr.de/politik/endergebnis-thueringen-erwartet-muss-zittern-zr-13170403.html
[7] Die Welt Online vom 27.10.2019 https://www.welt.de/politik/deutschland/article202579200/Dietmar-Bartsch-Linke-muss-von-Bodo-Ramelows-Erfolg-lernen.html
[8] Andreas Wehr, Stationen des Niedergangs einer Partei https://www.andreas-wehr.eu/stationen-des-niedergangs-einer-partei.html
l
Mein Newsletter
Abonnieren Sie den Newsletter von Andreas Wehr. Der Newsletter informiert unregelmäßig (10 bis 12 mal im Jahr) über Publikationen, Meinungen und Bucherscheinungen und wird über den Newsletter-Anbieter Rapidmail versendet.