Deutschland exportiert die Agenda 2010
Einen passenderen Aufhänger kann man sich als Journalist nicht wünschen: Die Belgier gehen in den Generalstreik – just gegen die Art von Maßnahmen, über die wir einen Tag später im Interview mit Andreas Wehr reden wollen. Zentrum des Streiks ist Brüssel, Andreas’ Arbeitsplatz. Seit 1999 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Europaparlament und hat so über ein Jahrzehnt deutscher Europapolitik hautnah miterlebt.
Andreas, zeitgleich mit dem EU-Gipfel standen alle Räder in Brüssel still, Generalstreik. Was treibt die Belgier auf die Barrikaden?
Die neue belgische Regierung hat ein hartes Kürzungsprogramm aufgelegt, der Generalstreik ist die Antwort der drei größten Gewerkschaften darauf. Der Zeitpunkt war natürlich kein Zufall. Durch das Zusammenfallen mit dem EU-Gipfel sollte der politische Effekt vergrößert werden. Das hat funktioniert – quer durch die europäische Presse wurde berichtet, dass der bestreikte Flughafen Brüssel von den Regierungschefs nicht angeflogen werden konnte.
Ist das belgische Kürzungspaket ein Vorgeschmack auf die kommenden Angriffe in anderen europäischen Ländern?
Es fällt zumindest nicht aus dem Rahmen. Das belgische Parlament soll eine Schuldenbremse beschließen, wie sie in dem jetzt vereinbarten Fiskalpakt für alle teilnehmenden Länder vorgesehen ist. Hinzu kommt für die Belgier die Aufhebung der automatischen Anpassung der Löhne an die Inflationsentwicklung, diverse Steuererhöhungen und die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters.
Die Angriffe der jeweiligen Regierungen in der EU fallen natürlich entsprechend den nationalen Bedingungen unterschiedlich aus, die Systematik ist aber immer gleich: Die Haushalte sollen vor allem durch Kürzungen im öffentlichen Sektor und bei den Sozialleistungen saniert werden. Hinzu kommen Erhöhungen der indirekten Steuern, die von der Bevölkerung bezahlt werden. Fest steht, dass der beschlossene Fiskalpakt einen massiven Angriff darstellt – sowohl auf Sozialsysteme als auch auf die Demokratie.
Du spielst auf den Sparkommissar an ...
Der ist eigentlich schon vor Ort. Die Regierungen der Defizitstaaten Griechenland, Irland und Portugal haben der Troika – sie besteht aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds – weitreichende Kontrollrechte einräumen müssen. Das war die Vorraussetzung, um Hilfszusagen von ihr zu erhalten. Wichtige Entscheidungen in den Kernbereichen staatlicher Politik werden seitdem von außen vorgegeben. Dies geschieht mit ausdrücklicher Billigung der national Herrschenden. Sie treiben ihre Länder in die Abhängigkeit, um jene Staatsanleihen zu sichern, die einheimische Banken dort gekauft haben. Diese Praxis soll durch die Fiskalunion zukünftig in allen übrigen Ländern der EU, mit Ausnahme von Großbritannien und Tschechien, angewandt werden: Künftig sollen auch dort wichtige Haushaltsentscheidungen erst dann getroffen werden dürfen, wenn sie vorab von der Kommission genehmigt wurden.
Die Regierungen der EU-Staaten sagen, drastische Maßnahmen seien gerechtfertigt, weil die Krise mit allen Mitteln eingedämmt werden müsse. Sind die Gipfelbeschlüsse Schritte in Richtung Krisenlösung?
Sicher nicht, die damit verbundenen Maßnahmen führen nur noch tiefer in die Rezession hinein. Geringere Löhne, Renten und Sozialleistungen senken natürlich den Konsum, was zur Pleite unzähliger Unternehmen, vor allem im Dienstleistungsbereich, führt.
In Griechenland spitzt sich die Krise gegenwärtig zu. Immer mehr Beobachter gehen davon aus, dass es bald zu einem umfassenden Schuldenschnitt kommen muss. Ein solcher „Haircut“ wird auch die öffentlichen Gläubiger, etwa die Europäische Zentralbank und die Bundesregierung, treffen. Zu Beginn der Krise in Griechenland hatte das Land eine Schuldenlast von weniger als 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu tragen, heute sind es hingegen 198 Prozent. Berücksichtigt man, dass das Bruttoinlandsprodukt als Maßstab inzwischen erheblich geschrumpft ist, so ist das Defizit tatsächlich noch größer. An der Notwendigkeit eines Schuldenschnitts für Griechenland kann es daher keinen Zweifel mehr geben.
Portugal wird den gleichen Weg gehen. Das Land steckt tief in der Rezession und seine Verschuldungsquote steigt unaufhörlich. Schließlich sieht es auch in Irland nicht gut aus. Das schwache irische Wachstum des vergangenen Jahres, getragen von den Ausfuhren, ist vorbei. Für 2012 erwartet Irland einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts. Und schließlich sind da noch Spanien und Italien. Hier kommt alles auf die von den Finanzmärkten verlangten Renditen für die Staatsanleihen an. Steigen sie dauerhaft über sieben Prozent, so geraten auch diese beiden Länder in eine Situation, in der sie sich nicht mehr länger auf den Kapitalmärkten finanzieren können. Doch eine dann notwendig werdende Finanzierung ihrer Defizite durch die übrigen Euroländer wird deren Potential übersteigen. Dann stünde das gesamte Eurosystem vor dem Aus.
Was genau verbirgt sich eigentlich hinter Kürzeln wir EFSF und ESM und was bezwecken die EU-Regierungen mit diesen Instrumenten?
Die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität, kurz EFSF, wurde im Mai 2010 kurz nach der Auflage des „Rettungspakets“ für Griechenland geschaffen. Aus ihr werden die Unterstützungsmaßnahmen für Portugal und Irland finanziert. Der ESM, der Europäische Stabilisierungsmechanismus, soll den EFSF demnächst ablösen und dann dauerhaft in Kraft bleiben.
Beide Instrumente sind geschaffen worden, um die Defizite jener Euroländer zu finanzieren, die auf den internationalen Kapitalmärkten nur noch zu unzumutbar hohen Bedingungen Kredite erhalten. Man kann die Situation so beschreiben: Griechenland, Irland und Portugal sind gegenwärtig einem „Käuferstreik“ ausgesetzt. Die Finanzmärkte als potentielle Käufer von Anleihen bestreiken diese Länder, um sie so zu einem drastischen neoliberalen Umbau ihrer Gesellschaften zu zwingen. Dies ist eine Form des Klassenkampfs zwischen Kapital und Arbeit. Ein solcher „Käuferstreik“ trägt aber natürlich immer das Risiko in sich, dass die betroffenen Länder eines Tages Bankrott anmelden, wie dies etwa Argentinien und Uruguay getan haben. Passiert das, so ziehen die Finanzmärkte den Kürzeren.
Mit den Instrumenten EFSF und ESM sorgen nun die übrigen Euroländer dafür, dass ein solcher Bankrott nicht eintritt. Das heißt, sie garantieren mit Steuergeldern den Banken und Versicherungen, dass deren Forderungen weiterhin pünktlich bedient werden. Die Länder tun dies aber auch aus politischen Gründen, da sie die peinliche Pleite eines Eurolandes unbedingt vermeiden wollen. Was nun Griechenland angeht, so scheint diese Rechnung nicht länger aufzugehen.
Du arbeitest in Brüssel, deine Kolleginnen und Kollegen kommen aus verschiedenen Ländern Europas. Welchen Eindruck haben die Menschen in Resteuropa von der Politik der deutschen Regierung und von Angela Merkel?
Es wird schon wahrgenommen, insbesondere natürlich in Ländern wie Griechenland und Portugal, Spanien und Italien, dass die momentan durchgesetzte Agenda eine deutsche Agenda ist. Alle Maßnahmen des letzten Jahres, der Europluspakt, die Verschärfungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und jetzt der Fiskalpakt gehen auf Initiativen der Bundesregierung zurück. So sollen die in Deutschland von der Regierung Schröder/Fischer auf den Weg gebrachten Maßnahmen des Sozialabbaus, als Stichwort nenne ich hier nur die Agenda 2010, mit dem Fiskalpakt in die übrigen EU-Länder exportiert werden. Das betrifft eine Schuldenbremse, die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, die Erhöhung des Renteneintrittsalters, die Abschaffung bestehender Lohnindexierungen an der Inflationsrate, Deregulierungen der freien Berufe, die Erhöhung der Verbrauchssteuern und Kürzungen bei Renten und Sozialtransfers. Damit wird die Ausbeutungsrate der Arbeit erhöht, und damit sollen – entsprechend der absurden neoliberalen Logik – die Bedingungen für höheres Wachstum geschaffen werden.
Altkanzler Helmut Schmidt hat davor gewarnt, dass das Auftreten der Bundesregierung Ängste bei den Nachbarn wecken und dadurch die EU zerreißen könnte. Merkel hingegen sagt, ihre Politik sei alternativlos, um die EU zu erhalten. Wer hat Recht?
Aus Sicht der Bundesregierung ist Merkels Politik folgerichtig. Sie will, dass die EU im Kern so bleibt wie sie ist: ein auf Währungsstabilität ausgerichteter Wirtschaftsblock mit einem freien Binnenmarkt. Von diesem Block profitieren vor allem die deutschen Konzerne, er ist Voraussetzung für den Erfolg ihrer Strategie zur Eroberung der Märkte in Europa und weltweit. Die Erhaltung der EU in der bisherigen Form liegt daher im nationalen deutschen Interesse, das wiederum vom deutschen Kapital definiert wird. Die Bundesregierung verkauft dieses nationale Interesse dann als übergeordnetes europäisches Interesse.
SPD-Chef Sigmar Gabriel positioniert sich gegen Merkel und fordert eine Föderation, also die „Vereinigten Staaten von Europa“. Wörtlich: „Wenn wir die Menschen für das europäische Projekt zurückgewinnen wollen, dann müssen wir die Reduktion Europas auf ein Wettbewerbseuropa beenden.“ Hört sich doch gut an, oder?
Das ist eben das Missverständnis, das die SPD und auch die Grünen gerne in die Welt setzen: Die Vorstellung, dass die EU über den nationalen Interessen schwebt, als eigenständiger politischer Körper. Diese Sicht ist aber falsch. Die EU ist vielmehr ein Rahmen, in dem die unterschiedlichen nationalen Interessen aufeinandertreffen. In einem komplizierten Aushandlungsprozess werden sie dort gebündelt – oder auch nicht. Manchmal setzt sich der Stärkere auch einfach auf Kosten der anderen durch – allein oder mit Verbündeten. Zur Zeit bestimmt ganz eindeutig die stärkste Wirtschaftsmacht die Agenda, nämlich Deutschland. Die nationale Politik Deutschlands setzt sich in europäische Politik um, nicht eins zu eins, aber doch in wesentlichen Zügen. Von daher geht auch die Warnung der SPD vor einem „Rückfall in den Nationalismus“ fehl. Europäische Politik war immer geprägt von nationalen Interessen – zuvorderst natürlich von denen Deutschlands und Frankreichs.
Im 20. Jahrhundert war der historische Gegenentwurf zur europäischen Integration der aggressive deutsche Alleingang, der in zwei Weltkriegen mündete. Ist die EU, auch wenn sie von Deutschland dominiert wird, nicht das kleinere Übel?
Zur Weltkriegssituation ist vieles das kleinere Übel. Trotzdem sollten wir nicht darüber hinwegsehen, dass sich die Grundlagen und Ziele des deutschen Imperialismus in den vergangenen hundert Jahren nicht wesentlich verändert haben. Nach 1945 drücken sie sich natürlich anders aus als vorher, nämlich in der Konzeption des freien und unbeschränkten Binnenmarkts und des Euros. Binnenmarkt und Euro sind so konstruiert, dass sie vor allem die deutsche, traditionell sehr produktive Wirtschaft extrem begünstigen, während sie schwächere Volkswirtschaften benachteiligen. Dadurch kann der deutsche Kapitalismus seine Übermacht ausspielen und von einer starken europäischen Position aus die Weltmärkte erobern.
Aber das Auftreten der deutschen Regierungen hat sich doch stark geändert. Ich erinnere mich, dass die Regierung Kohl peinlich darum bemüht war, den Eindruck zu vermeiden, Deutschland würde die anderen EU-Staaten gegen die Wand drücken.
Die Kohl-Ära war in ihrer zweiten Hälfte geprägt von der EU-Osterweiterung. Mit Ausnahme von Polen und Rumänien sind damals hauptsächlich kleine Länder dazugekommen. Die deutsche Politik verfolgte das Ziel, diese kleineren Länder zu fördern und sie an sich zu binden, um sie – wenn nötig – in Stellung gegen größere Konkurrenten wie Frankreich und Großbritannien bringen zu können. Das hat sich nicht geändert. Die Bundesregierung versucht nach wie vor, die kleineren Länder vorab ins Boot zu holen, wenn es etwa darum geht, mit Frankreich strittige Dinge auszuhandeln.
Eine Kritik an der EU, auch von links, war immer, dass der Euro ohne eine gemeinsame Wirtschaftspolitik eingeführt wurde. Die Verpflichtungen für die Staaten aus dem Fiskalpakt vereinheitlichen jetzt doch die Wirtschafts- und Haushaltspolitik.
Aus Anlass der Euroeinführung gab es eine solche Kritik sowohl von links wie von rechts. Man kritisierte damals, dass die Grundlagen für die neue Währung nicht vorhanden seien, da sie auf Dauer nur dann stabil sein könne, wenn sie von einer einheitlichen Wirtschafts-, Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik getragen würde. Der Euro hätte nach dieser Kritik erst im Ergebnis einer langen Integrationsphase geschaffen werden dürfen, diese Position nennt man auch „Krönungstheorie“. Anderer Meinung waren hingegen die Regierungen Deutschlands und Frankreichs. Sie setzten darauf, dass der Euro als Integrationsmotor schon genügen werde, und man auf diese Weise am Ende wie von selbst zu einer politischen Union käme. Die gegenwärtige Krise zeigt aber, dass diese Rechnung nicht aufgegangen ist.
Die jetzt den Defizitländern auferlegten Maßnahmen führen zwar zu einer gewissen Angleichung der Wirtschafts- und Haushaltspolitiken, doch eine Vereinheitlichung ist das nicht. So bleiben etwa die Steuer- und die Sozialpolitik in den Händen der Mitgliedstaaten. Eine gemeinsame Politik wird es hier nur dann geben, wenn zugleich die Souveränitätsrechte der EU-Länder drastisch eingeschränkt werden, das ist aus meiner Sicht aber weder wünschenswert noch überhaupt möglich.
Der ESM soll in wenigen Monaten im Bundestag abgestimmt werden. Wie soll sich DIE LINKE deiner Meinung nach verhalten?
Sie sollte natürlich dagegen stimmen. Sie muss sich aber genau überlegen, aus welchen Gründen sie es tut. Sie sollte nicht Eurobonds oder eine Finanzierung der Defizitländer durch eine Banklizenz für den EFSF oder den ESM als Alternativen dazu fordern, wie es SPD oder Grüne tun. All diese Instrumente laufen doch nur darauf hinaus, den beschriebenen „Käuferstreik“ der Finanzmärkte abzusichern, indem man den Banken und Versicherungen das Risiko des Ausfalls ihrer Forderungen abnimmt. Und man sollte auch folgendes bedenken: Das Sagen bei Eurobonds und bei EFSF oder ESM haben immer die starken kerneuropäischen Länder und hier vor allem Deutschland. Sie verfügen über das nötige Geld, das verliehen werden kann. Und hier ist es natürlich wie überall im Leben: Wer bezahlt, bestimmt. Ländern, die über Eurobonds oder EFSF bzw. ESM finanziert werden, geht es dann so wie Griechenland, Irland oder Portugal. Ihnen wird eine harte und unsoziale Kürzungspolitik diktiert.
DIE LINKE muss stattdessen an ihrer Forderung festhalten, dass zu einer Krisenlösung unbedingt die Streichung von Schulden der Defizitländer gehört, denn es geht um die Wiederherstellung ihrer Finanzsouveränität.
Die Fragen stellte Stefan Bornost
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