Der Sündenfall Militarisierung
Aktueller kann ein Buch nicht sein. Fast zeitgleich mit der Vergabe des Friedensnobelpreises an die Europäische Union veröffentlichte der Völkerrechtler Gregor Schirmer eine politisch-juristische Streitschrift über den Aufstieg der Europäischen Union zur Militärmacht. Sie belegt, wie vermessen die Entscheidung des Nobelpreiskomitees in Oslo ist. Als hätte der Autor diese Entscheidung erwartet, schreibt er: »Die übliche Euphorie über die friedensstiftende Rolle der EU ist unangebracht.« Und: »Der Selbstlob-Preisung der EU als Hort des Friedens kann man um der historischen Wahrheit willen nicht folgen.«
Gleich am Anfang des Werks stellt Schirmer seine Sicht auf den europäischen Integrationsprozess dar: »Die EU ist kein über den Mitgliedstaaten schwebendes Gebilde. Sie und ihre Organe sind Orte des Kampfes und der Kompromisse zwischen den Herrschenden in den Mitgliedstaaten. Das Sagen haben die großen und mächtigen Mitgliedstaaten, voran Deutschland, gefolgt von Frankreich und Großbritannien.« Illusionslos fügt er an: »Über ihre Grenzen hinaus betreibt die EU eine imperialistische Außen- und Außenwirtschaftspolitik.« Und: »Die EU nimmt zunehmend Züge eines imperialistischen Militärbündnisses an.« Dies sind klare und realistische Einschätzungen, wie man sie leider nur selten in der europapolitischen Debatte der Linken findet.
Davon ausgehend, beschreibt Schirmer zunächst die verschiedenen Etappen der außen- und sicherheitspolitischen Entwicklung Europas von Potsdam 1945 bis Helsinki 1975. Den Beginn der Militarisierung der Union datiert er auf die Verabschiedung der »Einheitlichen Europäischen Akte« 1987. Ihren entscheidenden Schub erhielt sie wenige Jahre später aber mit dem Vertrag von Maastricht, der für den Autor der eigentliche »Sündenfall« ist. Ein vorläufiger »Gipfelpunkt der Militarisierung« wird in dem Vertrag von Lissabon von 2007 gesehen.
Die Bestimmungen zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehören zu den kompliziertesten Regelungen der europäischen Verträge. Es ist in der Tat ein »unübersichtliches Durcheinander«. Das Buch kann daher als Wegweiser durch dieses Dickicht der äußerst verwickelt und zudem oft noch unlogisch aufgebauten Verträge, Protokolle und Erklärungen gelesen werden.
Die Kritik von Schirmer an den vertraglichen Bestimmungen ist grundsätzlich: Allein schon die Verknüpfung von Verteidigungs- und Außenpolitik in den Verträgen »widerspricht demokratischen Traditionen und Praktiken im Regierungsaufbau europäischer Staaten, wo die Trennung der Ämter des Außenministers und des Verteidigungsministers zu den rechtsstaatlichen Selbstverständlichkeiten gehört.« Scharf wird die fehlende parlamentarische Kontrolle gerügt, steht doch einer starken Exekutive ein »außenpolitisch machtloses Europaparlament« gegenüber. Das Resümee der Vertragsauslegung ist für den Autor eindeutig: »Der EUV (Vertrag über die Europäische Union, A.W.) erlaubt völkerrechtswidrige Kriege der EU und ihre Beteiligung an solchen Kriegen.« Und so verdienen die von der EU inzwischen abgeschlossenen elf sowie die 14 noch andauernden Militärmissionen in der Regel das vernichtende Prädikat »völkerrechtswidrig«. Schirmer erinnert daran, dass die frisch gebackene Friedensnobelpreisträgerin Europäische Union auch die Angriffe der USA auf Afghanistan und Irak, jeweils unter Beteiligung zahlreicher EU-Mitgliedsländer, seinerzeit gebilligt hatte. Auch beim Krieg gegen Libyen und bei der gegenwärtigen Eskalation des Bürgerkriegs in Syrien spielte und spielt die Union alles andere als eine friedensstiftende und ausgleichende Rolle.
Die imperialistischen Rivalitäten zwischen den Vormächten der EU verhindern aber weiterhin eine stärkere Integration der Militärpolitik, zum Glück muss man hinzufügen. So wird zwar eine europäische Armee in den Verträgen als erstrebenswerte Möglichkeit angesehen, doch »die EU hat bisher noch keine eigene Armee und es wird wohl noch dauern, bis sie kommt«. Für Schirmer ist daher klar, dass ein »europäischer Bundesstaat« alles andere als wünschbar ist. Vor allem aber die Linken können kein Interesse daran haben, »weil ein europäischer Staat nach Lage der Dinge nur eine imperialistische Weltmacht sein könnte«. Um ihn zu verhindern, muss der Kampf gegen die Militarisierung der Union in erster Linie in den Mitgliedstaaten geführt werden. Deshalb liege es »im Interesse der europäischen Völker, darunter auch der linken Kräfte, dass der nationale Kampfplatz, auf dem sie den größten Einfluss geltend machen können, erhalten bleibt«. Dies ist eine richtige Wertung, die allen illusionären Vorstellungen von einer friedlichen, sozialen und demokratischen EU widerspricht.
Gregor Schirmer: Der Aufstieg der EU zur Militärmacht. Spotless Verlag, Berlin, 256 S., br., 12,95 €.
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