Der „Mythos Migration“

Hannes Hofbauer: Kritik der Migration. Wer profitiert und wer verliert. Promedia Verlag Wien 2018. 272 S., ISBN: 978-3-85371-441-6

Als der Wiener Autor und Verleger Hannes Hofbauer im Oktober 2018 sein Buch vorlegte, stand der UN-Migrationspakt noch nicht im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Und doch wurden bereits in seinem Werk die wichtigsten Probleme benannt, die auch mit diesem Abkommen verbunden sind. In einem Beitrag für das Onlineportal Rubikon nahm Hofbauer zu dem Migrationsabkommen Stellung.[1] Er kritisierte das „grundgelegte Verständnis von Migration des UN-Paktes, in dem es heißt: ῾Wir erkennen an, dass Migration eine Quelle des Wohlstandes, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung in unserer globalisierten Welt ist.῾“ Und er fügte an: „῾Für wen?῾, müsste sich ein unbedarfter Leser spontan fragen. Eine Antwort darauf erhält er freilich nicht.“

Der Autor erinnert demgegenüber in seinem Rubikon-Beitrag an die Wirklichkeit: „Wem nützen und wem schaden massenhafte Wanderungen, seien sie nun durch Kriege und Vertreibungen oder durch die wirtschaftliche Not ausgelöst? Solche Fragen kann nur jemand tabuisieren, der in der Migration tatsächlich ῾eine Quelle des Wohlstandes, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung῾ sieht, jemand also, der die Ursachen ausklammert und mit einem Tunnelblick durch die Welt geht, getrieben entweder vom eigenen wirtschaftlichen Vorteil oder dem schlechten Gewissen den Armen im ῾globalen Süden῾ gegenüber. Beides führt zur verzerrten Wahrnehmung.“ Und Hofbauer kommt zu der Schlussfolgerung: „Massenmigration ist der sichtbare Ausdruck weltweiter Ungleichheit. Wer diese Erkenntnis teilt, kann am UN-Migrationspakt nichts Gutes finden, denn dieser Zustand muss überwunden und nicht verwaltet werden. (…) Migration wird gemacht. Sie hat viele Gesichter und nur die wenigsten spiegeln Glück und Zufriedenheit.“

Migration als unabwendbares Schicksal?

Gleich am Anfang seines Buches Kritik der Migration räumt der Autor mit weitverbreiteten „Weisheiten“ auf. So heiße es etwa: „Migration war immer. Mit dieser zweifellos richtigen Feststellung reagieren links- und rechtsliberale Medien, Politiker und WissenschaftlerInnen auf die seit Jahren zunehmende Kritik an der im Zuge der Fluchtbewegung des Sommers 2015 entstandenen ῾Willkommenskultur῾ für syrische, afghanische und andere Flüchtlinge.“ Hofbauer zitiert als Beispiel dafür den Migrationsforscher Klaus Bade: „῾Wanderungen gehören zur Condition humana wie Geburt, Fortpflanzung, Krankheit oder Tod῾“. (Seite 15[2])

Doch was bedeutet das konkret? „Eine Bedingung menschlichen Lebens, wie uns die Migrationsforschung weismachen will, ist sie allerdings nicht. Von grenzüberschreitenden Wanderungen waren in den vergangenen Jahrzehnten jährlich zwischen 0,6 % und 0,9% der Weltbevölkerung betroffen.“ (18) Und so erweist sich die Behauptung, dass Migration quasi naturgesetzlich sei, als „pure Ideologie der globalistisch-liberalen Moderne. Denn anders als Geburt, Fortpflanzung oder Tod, die dem Menschen wie anderen Lebewesen naturgesetzlich eingeschrieben sind, kann man das von Wanderungen keineswegs behaupten.“ (15)

Der Autor widmet sich im ersten Teil seines Buches unterschiedlichsten Migrationsursachen. Er geht dafür weit in der Geschichte zurück. Behandelt werden Migrations- und Fluchtbewegungen in mehreren Jahrhunderten sowie die unterschiedlichsten Motivlagen, die ihnen zugrunde lagen: Migration aufgrund der „Zerstörung der Subsistenz“ (21 ff.) aufgrund kriegerischer Handlungen (31 ff.), aus Umweltgründen (34 ff.), wegen des Glaubens (36 ff.) sowie aus politischen Gründen (38 ff.). Doch dabei verliert Hofbauer sich in der Betrachtung geschichtlicher Ereignisse, deren Gemeinsamkeiten nur schwer oder gar nicht zu erkennen sind: Was hat etwa die Austreibung der Mauren und der Juden aus Spanien am Beginn des 15. Jahrhunderts mit der der Protestanten aus Böhmen nach der Schlacht am Weißen Berg 1620 zu tun? Können wir die Verfolgung der Armenier im Osmanischen Reich am Beginn des 20. Jahrhunderts mit den heutigen Migrationswellen vergleichen? Und was sagt uns heute noch der Verweis auf das Schicksal der verjagten polnischen Nationalisten nach dem Novemberaufstand 1830/31 oder aber die Beschreibung der Verfolgung der Pariser Kommunarden 1871? Hier werden nicht vergleichbare Dinge einander gleichgestellt und unterschiedslos in den großen Topf von Flucht und Migration geworfen.

Die soziale Differenz als Ursache der heutigen Migration

Erst etliche Seiten weiter kommt Hofbauer auf sein eigentliches Anliegen zurück, auf die Darstellung der Gründe für die heutigen Fluchtbewegungen: „Die entscheidende Migrationsursache unserer Tage liegt in einer zunehmenden sozialen Differenz, wie sie sich im Weltmaßstab niederschlägt.“ (40) Es geht also um die Migrationsbewegungen, die mit dem Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise entstanden sind, und wie sich diese innerhalb der Weltsysteme von Kolonialismus und Imperialismus entwickelt haben. Beschrieben werden sie im Kapitel „Arbeitsmigration: Von der Besiedelung Amerikas bis zum Gastarbeiterimport“. (53ff.) Der Autor zeigt hier in beeindruckenden Beispielen eine Migration, die mal stärker mal schwächer zur Wanderung aus den unterentwickelten Gebieten Europas in die kerneuropäischen Länder bzw. in die europäischen Erweiterungsgesellschaften nach Übersee – nach Nord- und Südamerika, Ozeanien und auch nach Südafrika - führte.

Die Gründe, die bereits damals zum Verlassen eines Landes bzw. zur Migration in ein anderes Land veranlassten - heute spricht man von Pull- und Pushfaktoren - sind bis heute im Wesentlichen unverändert geblieben: Auf der einen Seite die Not bzw. der Wunsch nach einem besseren Leben, wenn auch noch nicht sofort für sich selbst, so doch zumindest für die Kinder, auf der anderen Seite die Suche nach billiger und möglichst qualifizierter Arbeitskraft.

Diesem Schema entsprach sowohl die Wanderung polnischer Arbeiter nach Preußen zur Arbeit in der Landwirtschaft oder in Bergwerken (64 ff.) als auch die Anheuerung italienischer Bauarbeiter zum Eisenbahnbau in Deutschland. Die Industrialisierung Englands gelang nur mit Hilfe Hunderttausender Iren (66). Diese Wanderungsbewegungen waren mal stärker mal schwächer. Einen Höhepunkt erreichten sie in der Phase der schnellen industriellen Entwicklung des Deutschen Reiches und Teilen Österreich-Ungarns am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, um dann – nach dem Ersten Weltkrieg - zurückzugehen. Hofbauer benennt als Ursache für diese „gebremste Mobilität (1918-1939)“ (71) die Schaffung junger Nationalstaaten in Mittelost- und Osteuropa: Der Zerfall Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches sowie die Entstehung der Sowjetunion schufen neue, auf die eigene Entwicklung fokussierte Ökonomien, die darauf bedacht waren, die für den Aufbau notwendigen Arbeitskräfte im eigenen Land zu behalten.

Mit der militärischen Expansion der faschistischen Achsenmächte Deutschland und Italien war es damit aber bald wieder vorbei. Zunächst durch Anwerbung bald aber auch mit Hilfe offenen Zwangs, der sogar die Form des Terrors annahm, wurden bis zum Kriegsende 1945 „geschätzte acht Millionen Zwangsarbeiter und zwei Millionen zur Arbeit verpflichtete Kriegsgefangene“ (78) nach Deutschland verbracht. Nach dem Zusammenbruch der faschistischen Herrschaft kehrten diese Arbeitskräfte in ihre Heimatländer zurück. An ihrer Stelle standen den deutschen Kapitalisten nun aber Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten für den Wiederaufbau zur Verfügung. Als diese nicht mehr ausreichten, setzte man auf Zuwanderung aus der DDR. Zwang und Terror waren dafür nicht nötig, das vor allem über Rundfunk und Fernsehen verbreitete Angebot besserer Konsummöglichkeiten reichte völlig aus.

Als die DDR diesen Abfluss 1961 mit Hilfe des Baus der Mauer stoppte, setzten bald darauf die ersten „῾Gastarbeiter῾“- Wellen“ ein (S. 79 ff.) Zunächst kamen Italiener, dann Spanier und Portugiesen, gefolgt von Jugoslawen, Griechen und Türken. Mit dem Wiedereinsetzen der üblichen kapitalistischen Krisen Ende der 60er Jahre in der Bundesrepublik, ging aber der Bedarf an billiger fremder Arbeit wieder zurück. 1973 kam es zum Anwerbestopp: „Anstelle der Betonung des kurzfristigen ῾Gast῾arbeiterdaseins schwenkte man nun auf das Schlagwort der ῾Integration῾ um. (…) Nun galt es eine neue Ideologie rund um die hier verbliebenen Migrantenfamilien zu entwickeln. Die Mär von der Integration in die Mehrheitsgesellschaft schien den Profiteuren und Claqueuren der geteilten Arbeitsmärkte das richtige Mittel dafür. Der für sie angenehme Nebeneffekt: Jeder, der diese sichtbar unrealistische ῾Integration῾ anzweifelte, konnte als fremdenfeindlich stigmatisiert werden. Diese Strategie blieb Jahrzehnte – mit einigem Erfolg – in Gebrauch.“ (99)

Inzwischen erlebt die Migrationsbewegung nach Deutschland einen neuen Aufschwung. Ab 2010 wuchs die Einwanderung unter Nutzung des Asylrechts schnell an und verzeichnete 2015/16 mit 1,2 Millionen einen Höhepunkt. Da aber die kapitalistische Ökonomie mit dem jüngst gekommenen Menschenmaterial nicht recht zufrieden ist, lässt es sich doch aufgrund mangelnder Qualifikation nicht gut genug ausbeuten, soll es nun ein neues Einwanderungsrecht richten. Die Bundesregierung legte dazu „Eckpunkte zur Fachkräfteeinwanderung aus Drittstaaten“[3] vor. Bis Ende 2018 soll auf dieser Grundlage ein Einwanderungsgesetz verabschiedet werden.

Auch mit der von ihm als „große Wanderung der Muslime“ (135ff.) bezeichneten Migrationswelle 2015/16 setzt sich der Autor kritisch auseinander. Über die vorwiegend jungen männlichen syrischen Flüchtlinge heißt es: „Es sind allesamt Gegner der syrischen Regierung. Denn wären sie dieser treu, würden sie – ihrem Alter entsprechend – in der Armee dienen müssen. Wir haben es also zu einem sehr hohen Prozentsatz mit syrischen Deserteuren zu tun.“ (144) Und was die Not und die Bedürftigkeit der Gekommenen angeht, so heißt es: „Es waren gerade nicht die Schwächsten, die Alten, die Frauen, sondern die physisch Stärksten.“ (157)

Die Folgen der EU-Osterweiterung

Breiten Raum widmet der Autor der Arbeitskräftewanderung innerhalb der Europäischen Union, die nach der Integration der ehemals sozialistischen Länder Osteuropas enorm zunahm; ein Phänomen, das in der Bundesrepublik kaum wahrgenommen wird - im Unterschied zur Flüchtlingswelle 2015/16. Tatsächlich übertrifft aber die Zuwanderung aus Osteuropa in ihrer ökonomischen und demografischen Bedeutung bei weitem die Migration aus islamischen Ländern.

Mit der Erweiterung der Europäischen Union zwischen 2004 und 2013 kamen elf osteuropäische Länder hinzu. Und weitere Länder des Westbalkans, worunter vor allem Teile des ehemaligen Jugoslawiens verstanden werden, warten auf ihre Aufnahme. Da die Bewohner der neuen EU-Mitglieder mit dem Beitritt teilweise sofort (in Großbritannien, Irland und Schweden) bzw. nach Übergangsfristen unterschiedlicher Länge in den übrigen EU-Ländern die ihnen nach Unionsrecht zustehende Möglichkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit als besondere Form der Personenfreizügigkeit erhielten, steht den Kapitalisten der kern- und westeuropäischen EU-Staaten seitdem ein riesiges Arbeitskräftereservoir zur Verfügung: „Zwischen 1990 und 2012 haben sich 20 Millionen OsteuropäerInnen (Ex-RGW und Jugoslawien) zur Arbeitssuche in den Westen aufgemacht“. (206)

Stets waren die enormen sozialen Unterschiede zwischen den verschieden entwickelten Staaten der erweiterten EU der entscheidende Grund für die Migration: „In Deutschland-West betrugen demnach die Kosten für eine durchschnittliche Arbeitsstunde in der Metall- und Elektroindustrie (inklusive sogenannter Lohnnebenkosten, also brutto) Mitte 2004 27,60 Euro. In Polen schlug dieselbe Arbeitsstunde mit 3,30 Euro zu Buche, war also acht Mal billiger. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam der ῾Pay in Europe῾-Bericht aus dem Jahr 2006. Aus dessen Zahlenkolonnen geht hervor, dass ein bulgarischer Durchschnittslohn 20 Mal unter dem deutschen zu liegen kam, ein rumänischer zehn Mal und ein polnischer fünf Mal.“ (132) Die Abstände sind seitdem zwar kleiner geworden, sie sind aber weiterhin signifikant und sorgen für einen anhaltenden Strom vor allem junger und gut ausgebildeter Arbeitskräfte von Ost nach West.

Konnten sich so die Kapitalisten in den europäischen Pull-Ländern über Millionen neuer Arbeitskräfte freuen, hatten die westeuropäischen Gesellschaften und vor allem die Lohnabhängigen dort aber die Folgen zu tragen: „Die Tatsache, dass ArbeiterInnen in Ländern wie Deutschland und Österreich seit Mitte der 1990-Jahre trotz stetig gewachsener Produktivität mit Reallohnverlusten konfrontiert sind, ist unter anderem auch mit dem permanenten Zuzug immer neuer ArbeitsmigrantInnen zu erklären.“ (189) Und so sanken in Deutschland „die ῾Arbeitnehmerentgelte῾, also inklusive Lohn- und Sozialversicherung, (…) zwischen 2000 und 2008 um 11%“ (189). Zustimmend zitiert der Auto die Autorin Andrea Komlosy: „῾Aus der Perspektive des Kapitals sind diese Zuwandernden willkommen, weil sie mit ihrer Bereitschaft zur Flexibilität dazu beitragen, Deregulierung und Prekarisierung gegenüber bestehenden Belegschaften durchzusetzen bzw. Erwerbsarbeitslose zur Annahme prekärer Arbeitsverhältnisse motivieren. Diese erleben MigrantInnen als KonkurrentInnen und folgen deshalb oft rassistischen Bewegungen und Parteien, die diese als Ursache für ihren Abstieg darstellen.῾“ (215)

Besonders betroffen waren die Lohnabhängigen jener Länder, die den Migrationswilligen aus den Beitrittsländern ohne Übergangsbestimmungen bereits ab 2004 bzw. für Bulgaren und Rumänen ab 2007 Tür und Tor öffneten. Und so war denn auch eine der wichtigsten Ursachen für den Brexit - die Entscheidung der Bürger Großbritanniens vom Juni 2016 die EU zu verlassen - die Unzufriedenheit mit der ungehemmten Einwanderung aus den osteuropäischen Ländern. Den deutschen Linken fiel dazu lediglich ein, die Austrittsbefürworter als Nationalisten bzw. als Rassisten zu beschimpfen.[4]

Das Elend des Brain Drains

Zu den Verlierern dieser Migration gehören aber nicht nur die unter neuen Konkurrenzdruck gesetzten Lohnabhängigen in den Pull-Ländern. Verlierer sind auch die in den Push-Ländern Zurückgebliebenen. Der Autor präsentiert viele, zum Teil erschütternde Beispiele für die Folgen dieser Politik. Dabei kommt ihm seine Kenntnis des osteuropäischen Raums zugute. In Büchern und Artikeln hat er immer wieder die fatalen Folgen des Anschlusses dieser Länder an die EU beschrieben.[5] Dargestellt wird das Schicksal zerrissener Familien, deren Kinder in den Auswanderungsländern – nicht selten sogar ohne jedwede Betreuung – zurückgelassen wurden. Beschrieben wird die Entvölkerung ganzer Regionen, in denen nur noch Alte und die ihnen anvertrauten Kinder leben, und wo es inzwischen an einfachster Infrastruktur mangelt – kein öffentlicher Nahverkehr, keine Ärzte, nur noch einfachste Versorgungsmöglichkeiten: „Der Aderlass ist enorm und hat in einigen Ländern zu einem massiven Bevölkerungsverlust geführt, in Bulgarien beträgt dieser minus 15%. Litauen verlor seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 20% seiner EinwohnerInnen. Lettland sogar 26%.“ (206) „Geschätzte 15 % bis 20% der arbeitsfähigen rumänischen Bevölkerung verdienen ihren Lebensunterhalt im Ausland, die Mehrheit von ihnen, nicht zuletzt wegen der sprachlichen Nähe in Italien und Spanien.“ (201)

Der Brain Drain, die Folge der Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus diesen Ländern, betrifft alle gesellschaftlichen Sektoren: „Rumänien hat es diesbezüglich besonders schwer erwischt. Zwischen 2011 und 2016 verließen insgesamt 7.000 ausgebildete Ärzte das Land. Von den vormals 21.400 Medizinern sind nur mehr 14.000 geblieben. Das Gesundheitssystem liegt am Boden.“ (208) Profiteure des Brain Drains sind hingegen Länder wie Frankreich, Deutschland und Großbritannien, in denen Ärzte ein Vielfaches als in Osteuropa üblich verdienen: „Großbritannien ist nach den USA der größte Importeur von GesundheitsarbeiterInnen wie Ärzten und Krankenschwestern. Im Jahr 2016 arbeiteten dort 50.000 Mediziner und 95.000 Schwestern aus dem Ausland, das macht insgesamt 38 Prozent des gesamten medizinischen Personals aus.“ (209) Da das Land mit einem steten Zustrom im Ausland ausgebildeter Ärzte rechnen kann, spart es an der teuren Ausbildung Einheimischer: „Im Ausbildungsjahr 2013/14 boten britische Universitäten nur 6.071 Plätze für das Medizinstudium an, obwohl dem nationalen Gesundheitsdienst bekannt war, dass 13.000 Ärzte gebraucht würden.“ (209) Nicht viel besser verhält sich Deutschland: Hier „arbeiteten im Jahr 2016 35.000 Ärzte, die im Ausland ihre Ausbildung erhalten haben, das sind immerhin 10 Prozent seines medizinischen Personals.“ (209)

Die Massenmigration in der EU von Ost nach West bremst die Entwicklung der Beitrittsländer: „Ohne Wanderungsbewegung, so der IWF (Internationaler Währungsfonds, A.W.), stünde Osteuropa mit einem signifikant höheren Bruttonationalprodukt (BNP) da: „῾Hätte es zwischen 1995 und 2012 keine Emigration gegeben, läge das reale BNP durchschnittlich (…) um 7 Prozent höher.῾“ (211) Die Empfehlung, die der IWF den betroffenen Ländern zur Lösung ihres Problems gibt, ist bezeichnend. Geraten wird ihnen, ihrerseits einen Brain Drain zu organisieren. Diesmal aus den östlich von ihnen gelegenen Ländern, aus der Ukraine, Moldawien, Belarus und Russland. Und tatsächlich arbeiten bereits viele Ärzte und Krankenpflegekräfte aus diesen Ländern dort, vor allem in tschechischen und slowakischen Krankenhäusern und Praxen sind sie anzutreffen. Und natürlich fehlen diese Kräfte in ihren Herkunftsländern. Nicht allein an diesem Beispiel erweist sich die Migration als organisierter Wahnsinn!

Das Versagen der Linken

Der positive Diskurs hinsichtlich der Migration ist nichtsdestotrotz in Politik und Medien der Bundesrepublik absolut dominierend: „Die überwiegend bis ausschließlich positive Konnotation menschlicher Mobilität, wie sie medial, politisch und in den Zentrumsländern transportiert wird, gerinnt zur nicht hinterfragbaren Sage, zum Mythos. Kritik an der einseitigen Darstellung wird als störend empfunden und rasch denunziert. Sie sei – je nach Denunziant und Brauchbarkeit der Denunziation – rückwärtsgewandt, provinziell, national, rechts.“ (254) Dies ist auch die Sicht wie sie von der Partei DIE LINKE verbreitet wird, sieht man einmal von Sahra Wagenknecht, Oskar Lafontaine und einigen wenigen anderen dort ab.

DIE LINKE schweigt vor allem zu den fatalen sozialen und demografischen Folgen der Arbeitnehmerfreizügigkeit, sowohl für die Herkunfts- als auch für die Aufnahmeländer. Sie teilt vielmehr die neoliberale Sicht auf die angeblich positiven Effekte: „In einem Interview des Deutschlandfunks erklärte die Parteivorsitzende Katja Kipping im Juni 2018: ῾Wir sollten jetzt nicht so tun, als ob Arbeitsmigration für uns nur eine Bedrohung ist. Ich würde es mal anders herum sagen: Wenn alle Arbeitsmigranten, die es bereits hier gibt, dieses Land verlassen würden, dann hätten wir ein richtiges Problem. Wir haben gerade Spargel-Saison. Ich wüsste gar nicht, wie der Spargel bei uns auf den Tisch kommen soll, wenn es da nicht Menschen aus anderen Ländern gäbe. Oder wenn wir in den Pflegebereich gehen: Wenn da alle Menschen ohne deutschen Pass jetzt das Land verlassen würden, dann hätten wir hier ein richtiges Problem.῾“[6] Da kann es nicht überraschen, dass die Partei DIE LINKE die deutsche Debatte über ein Einwanderungsgesetz ausdrücklich begrüßt und dazu einen eigenen Entwurf vorgelegt hat, der weit migrationsfreundlicher und damit noch liberaler geraten ist als alles was CDU/CSU, SPD oder FDP dazu vorgeschlagen haben.[7] Und natürlich hält diese Partei an dem Postulat „offener Grenzen“ fest. Auf ihrem Leipziger Parteitag im Juni 2018 hat sie diese Forderung noch einmal ausdrücklich bekräftigt. So erweisen sich diese Linken als „schöne Seelen“, um es mit Hegel zu sagen, und sonnen sich in dem Gefühl, zu den „Guten“ zu gehören, zugleich aber öffnen sie den Rechten von der AfD, die bereits mit der Flüchtlingskrise 2015/16 einen fulminanten Zulauf erhielten, weiter Tür und Tor.

Eine Politik der „offenen Grenzen“ ist aber nicht nur Gift für die deutsche Gesellschaft, sie schadet auch den Herkunftsländern, verlieren diese doch dadurch viele ausgebildete Fachkräfte. Sozialisten müssen sich stattdessen dafür einsetzen, dass die natürlichen Ressourcen dieser Länder an Bodenschätzen, Agrarflächen sowie an Fischgründen dem Zugriff des multinationalen Kapitals entzogen werden. Die Hoheit über ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik ist wieder herzustellen, und ihre Souveränitätsrechte und Grenzen sind in vollem Umfang zu respektieren. Dazu gehört auch der Verzicht des Abwerbens der eh schon viel zu wenigen Experten und Fachkräfte aus diesen Ländern.

Die Lektüre des Buches von Hannes Hofbauer dürfte für viele der „schönen Seelen“ provozierend und unangenehm sein. Sie sollten sie sich dennoch antun, denn sie können daraus viel lernen und vielleicht ändert sich ja am Ende ihr Blick auf das Thema.



[1] Hannes Hofbauer, Der neokoloniale Pakt, in Rubikon vom 21.11.2018, https://www.rubikon.news/artikel/der-neokoloniale-pakt

[2] Die Zahlen in Klammern verweisen auf die jeweiligen Seiten im Buch.

[3] Die Bundesregierung, ECKPUNKTE zur Fachkräfteeinwanderung aus Drittstaaten vom 02.10.2018, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/E/eckpunktepapier-zur-fachkraefteeinwanderung-aus-drittstaaten.pdf?__blob=publicationFile&v=2

[4] Vgl. hierzu Andreas Wehr Europa, was nun? Trump, Brexit, Migration und Eurokrise, Köln 2018, hier vor allem der Abschnitt „Der Brexit – der Anfang vom Ende der EU?“, S.50-97

[5] Vgl. u.a.: Hannes Hofbauer, EU-Osterweiterung. Historische Basis – ökonomische Triebkräfte – soziale Folgen, Wien 2007; Experiment Kosovo: Die Rückkehr des Kolonialismus, Wien 2008, sowie zusammen mit David X. Noack: Slowakei: Der mühsame Weg nach Westen, Wien 2012

[6] Andreas Wehr „Billige Arbeitskräfte und Kampf um die besten Köpfe: Die Ökonomie der Migration und das Versagen der Linken“, https://www.andreas-wehr.eu/billige-arbeitskraefte-und-kampf-um-die-besten-koepfe-die-oekonomie-der-migration-und-das-versagen-der-linken.html

[7] Vgl. dazu die Kritik von Hans Thie an dem Entwurf für ein Einwanderungsgesetz der Partei DIE LINKE: Seid willkommen Verdammte dieser Erde, in: http://hansthie.de/seid-willkommen-verdammte-dieser-erde/

 

Der Text erschienen am 20.01.2019 in den Marxistischen Blättern 1_2019

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