Den Liberalismus kritisieren

In der abgelegenen schönen mittelitalienischen Universitätsstadt Urbino tagte am letzten Wochenende der siebte Kongress der »Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken«. Der Ort war mit Bedacht gewählt, ist die Universität Urbino doch die Lehrstätte des Philosophen und Präsidenten der Gesellschaft, Domenico Losurdo, der am 14. November 70 Jahre alt geworden ist. So galt es denn, in Urbino die Festschrift zu seiner Würdigung vorzustellen und zu diskutieren. Unter dem Titel »Dialektik, Geschichte und Konflikt« enthält sie auf 708 Seiten 33 Beiträge, verfasst in Italienisch, Französisch, Portugiesisch, Spanisch, Englisch und Deutsch. Die Kapitelüberschriften der Festschrift spiegeln das umfangreiche wissenschaftliche Werk Losurdos wider: »Probleme der klassischen deutschen Philosophie«, »Marx, Engels und die revolutionäre Tradition«, »Über Gramsci«, »Die Kritische Theorie – Moderne und Postmoderne« und »Die Gewalt, der Krieg, der Konflikt der philosophisch-politischen Traditionen«.

Gewürdigt wurde ein Philosoph, Historiker und Marxist, den der brasilianische Architekt und Kommunist Oscar Niemeyer in seiner Grußbotschaft als »weltweit namhaften Vertreter fortschrittlichen Gedankenguts« bezeichnet hatte. Losurdos zweibändige Nietzsche-Biografie erschien bisher in Italien, Brasilien und Deutschland. Weitere Übersetzungen sind in Vorbereitung. Von seiner Kritik des Liberalismus, bei uns unter dem Titel »Freiheit als Privileg – Eine Gegengeschichte des Liberalismus« erschienen, liegen inzwischen Übertragungen ins Chinesische, Türkische, Finnische, Schwedische, Französische, Englische, Spanische und Portugiesische vor oder werden vorbereitet. Geht es nach der Zahl der Veröffentlichungen, so ist der deutsche Buchmarkt, nach dem italienischen und brasilianischen, für Domenico Losurdo der wichtigste. Dies ist vor allem ein Verdienst des Kölner PapyRossa-Verlags.

Auf großes Interesse, aber auch auf Widerspruch stößt gegenwärtig Losurdos Buch »Stalin – Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende«. Nachdem die Financial Times eine lange und sehr positive Besprechung der englischen Ausgabe der »Gegengeschichte des Liberalismus« Losurdos veröffentlicht hatte, war die italienische Rechte völlig verwirrt – hilflos titelte der Corriere de la Sera: »Losurdo – Apologet Stalins von der Financial Times gelobt«. Im nächsten Jahr soll das Stalin-Buch nun endlich auch in Deutschland auf den Markt kommen.

Für Losurdo steht fest, dass nur eine Linke, die die Niederlage von 1989/91 kritisch, aber auch selbstbewusst auswertet und dabei Überkommenes als auch Bleibendes voneinander scheidet, eine Zukunft hat. In seinen philosophisch-historischen Arbeiten über den Liberalismus, die Entwicklung der bürgerlichen Demokratie sowie über die großen Revolutionen der Neuzeit geht er vergleichend vor. Dabei werden auch die dunklen Flecken der bürgerlichen Gesellschaft herausgestellt. Es wird nicht verschwiegen, dass die ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten fast immer Sklavenhalter waren und die Entstehung der USA als »Herrenvolk-Demokratie« für Schwarze und Indianer alles andere als eine Befreiung war. Losurdo beschreibt die terroristische Erziehungsdiktatur, die der siegreiche Norden nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs über den Süden errichtete. England, das angebliche Mutterland der Demokratie, wird von ihm als Oligarchie analysiert. Losurdos Blick beschränkt sich nicht auf die Historie der Herrschenden. In seine Darstellungen werden stets die Unterdrückten einbezogen. Er zeigt, wie die so hoch gelobten westlichen Demokratien sich nie scheuten, rücksichtslos und brutal gegen die Verdammten dieser Erde vorzugehen, sahen sie ihre Interessen auch nur als gefährdet an. Losurdo weist nach, wie die deutschen Faschisten diese Unterdrückungspraktiken des Westens kopierten und schließlich in ihren Massenmorden perfektionierten.

Als ein an Hegel geschulter Dialektiker stellt er diese Schreckensbilanz der westlichen bürgerlichen Gesellschaften neben ihre ebenso unbestreitbaren Leistungen für die menschliche Emanzipation. Erst wenn so das Ganze erkennbar wird, kann auch ein Maßstab für die Geschichte des Sozialismus gefunden werden, können seine Verbrechen und seine Erfolge nüchtern bewertet werden. Es geht Losurdo dabei nicht, wie manch Kritiker behauptet, um Relativierung oder Entschuldigung von Fehlentwicklungen im Sozialismus, es geht ihm um den Vergleich mit der bürgerlichen Gesellschaft, um so dem sozialistischen Experiment Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Ein stetes Gräuel sind für Losurdo jene, die diese Dialektik des Fortschritts und des Rückschritts nicht aushalten, die den Kampf sogleich aufgeben, wenn nicht umgehend die ganz neue, gerechte, konfliktfreie Gesellschaft entsteht. Es sind jene, die von einem unschuldigen Neubeginn der Geschichte des Sozialismus träumen und deshalb die historische Bedeutung des Roten Oktober leugnen. Er nennt sie mit einem Wort Hegels »schöne Seelen«. Für Losurdo dagegen bietet die Existenz der Volksrepublik China Chancen für die Zukunft der Menschheit. Von ihm lässt sich lernen, wie man dialektisch analysiert, um die Griffe zu setzen, mit denen die Wirklichkeit verändert werden kann.

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